fernanda melchor – saison der wirbelstürme

in einer epoche, in der literatur vorrangig vermarktet wird als etwas wohliges angenehmes unterhaltsames voll bettlägeriger gemütlichkeit geradezu krankhaft frohsinnig harmloses – in einer solchen epoche der maximalverkitschung von literatur als wellnessentspannung erscheint fernanda melchors roman und der titel saison der wirbelstürme erhält eine poetologische konnotation und treibt vom kitsch infizierte kritiker*innen in die manikürte ekelpikiertheit. ihks, ist das schmutzig hier, sowas schreibt man doch nicht.

doch, schreibt man bzw frau.

dieses buch ist ein atemloses sprachliches kunstwerk. grandios, gnadenlos, grausam, grässlich brutal, eine einzige anklage an eine rohe, hoffnungslose, sich selbst ausbeutende, mitleidlose, rücksichtslose gesellschaft, die jegliche orientierung verloren hat. erzählt in einer sprachlich einzigartigen rohheit und wucht, und außergewöhnlich gut übersetzt von angelica ammar.

in acht kapiteln ohne jeden absatz wird die ermordung einer als hexe bezeichneten ungewöhnlichen jungen frau aus verschiedenen figurenperspektiven nachvollzogen, ein stimmen- und sittenbild einer auf gewalt missgunst erniedrigungen und beleidigungen basierenden gesellschaft, die keine solidarität, kein mitgefühl, keine zärtlichkeit mehr kennt, nach dem sich alle figuren sehnen, dafür ein rohes zynisches verachtendes amüsement.

Mieses Flittchen, widerliche Drecksau! Keiner hielt Brando zurück, als er sich auf die Frau stürzte und ihr einen Faustschlag ins Gesicht verpasste, alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich den Arsch abzulachen.

dies ist der roman zusammengeführt in einer minimalen sentenz. da ist nichts zum gefallen, da ist nichts schönes, nicht ein funken licht denn jede hoffnung der figuren wird rigoros zunichte gemacht werden, sie zerstören sich selbst und wissen es nicht besser. es ist kein buch, das man gern liest – es ist pure literarische kraft.

vergewaltigung, rücksichtslose grausamkeiten – das wahrscheinlich entsetzlichste kapitel ist das fünfte, die erzählung von norma, einer jungen frau, von ihrem onkel wiederholt vergewaltigt und geschwängert, die schließlich mit hilfe der „hexe“ ihr kind abtreibt und dafür erneut verachtung erntet – in den ausweglosen schilderungen und darstellungen ergibt sich ein hoffnungsloses panorama, an dessen ende ein mitleidloser tod steht, ein begräbnis als abfallverklappung: menschen oder was von ihnen übrig ist sind zu entsorgende biomasse.

es sind die jungen, die kinder, die hauptpersonen sind keine 18 jahre, die diese erziehung zur grausamkeit der älteren erleiden, die sich wehren möchten mit allen mitteln ohne zu wissen wogegen, die ihr dasein in alkohol drogen und misshandlungen ersticken, denen gewalt und grobheit und verachtung alltag bedeutet, einen alltag, den sie selbst verachten ohne auch nur ansatzweise einen ausweg finden, anerkennung, gemeinschaft, zusammenhalt, es sei denn in der bandenkriminalität der drogenkartelle. und die sich doch nur wieder zerstören.

von dort auch der romantitel: die saison der wirbelstürme, meteorologisch sowie sozial, kommt erst noch. die jungen werden sie aufziehen sehen und erzeugt haben. das chaos ist noch immer nicht da, trotz all diesem leid: dies ist melchors anklage an das mexico der gegenwart.

es ist ein vollkommen trostloser gewaltiger wuchtiger sensationeller roman, der jeden seiner preise zu recht erhalten hat und wird. ein buch definitiv nicht zum wohlfühlen, sondern ein grandioses stück literatur.

fernanda melchor: saison der wirbelstürme. roman. wagenbach, berlin 2019, 240 seiten, 22€.

Eine Antwort zu „fernanda melchor – saison der wirbelstürme“

  1. […] 2016 erschien der roman von cho nam-joo über eine typische koreanische frau der gegenwart, vielmehr über ihre selbstverständliche diskriminierung in allen lebenslagen und altersstufen. die rezeption des romans und 2019 auch des filmes führte zu heftigen diskussionen auseinandersetzungen debatten und noch wesentlich mehr anfeindungen beleidigungen attacken gegen alle frauen, die sich zum buch und zur verfilmung öffentlich in korea bekannten. es ist DAS aktuellste virulenteste drängendste soziale problem nicht nur in der koreanischen sondern weltweit allen gesellschaften, denn diese sind trotz einzelner regierungschefinnen nach wie vor in ihrem selbstverständnis misogyn. […]

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