katharina mevissen – ich kann dich hören

über das hören zu schreiben und zu lesen mag paradox erscheinen, tatsächlich ist katharina mevissens romandebüt völlig zu unrecht von allen buchpreisen des jahres übersehen und -gangen worden, denn so unaufgeregt einfühlsam vielschichtig klug intensiv berührend und komisch erzählt sie die überraschende geschichte, man wünscht ihr eine ebenso feinfühlige hörspiel-bearbeitung.

da ist osman, der in hamburg cello studiert und mit einer sonate nicht so recht vorankommt, der zu seiner türkischen familie kaum noch kontakt hat, außer zu seiner tante elide, bei der er aufwuchs, da sein erfolgreicher geiger-vater sich nur um seine karriere gekümmert hat und seine mutter nach italien abgehauen ist. und da ist ein in der ubahnstation gefundenes aufnahmegerät, das einigermaßen gewöhnliche wie rätselhafte aufnahmen enthält, die osman nicht mehr loslassen. und da sind plötzlich sehr viele dinge gleichzeitig, mit denen osman nicht mehr zurecht kommt, etwa seine mitbewohnerin, in die er vielleicht verliebt ist oder sie in ihn, wer weiß das schon so genau. da ist sein vater, der sich sein handgelenk gebrochen hat und seine karriere bedroht sieht. und elide will nach paris umziehen –

der roman handelt von einem jungen mann – einem wunderbar verkorksten erzähler – und seiner von aller art klang und geräusch erfüllten welt, die sich so disparat wie aufregend einem jungen menschen während größerer entwicklungen und veränderungen darbietet, in der er einen weg finden muss mit all dem und sich selbst klar zu kommen und in der er erfährt, dass er eigentlich einmal eine schwester hatte und dass die aufnahmen des geräts vom urlaub zweier schwestern stammen, ella und jo, deren eine gehörlos ist –

katharina mevissen hat gänzlich unaufgeregt und in herrlich klaren, gefühlvollen wörtern sätzen pinselstrichen die materialität des akustischen erzählt, wie fragil dieser zugang zur welt ist, seien es gebrochene hände, falsche worte, fehlende oder gedämpfte klänge wie nieselregen, in einer scheinbar leichten niemals oberflächlichen geschichte, deren sprachliche sicherheit beeindruckt.

Die Musik ist eine weiche, feuchte Luft, die Tröpfchen bildet. Sie setzt sich auf mein Gesicht, meinen Hals, auf jede freie Stelle. Wird schwerer, stickiger und dehnt sich im ganzen Raum aus.

zudem ist der roman eine wunderbare sensibilisierung für das thema handicap in der kunst, in der musik, in der literatur. mevissen hat mit franziska winkler den verein handverlesen e.v. gegründet, um literatur mehrsprachig in gebärdensprache zu übertragen und damit eine neue klanglich-visuelle dynamik zu geben, denn bei lesungen sind taube menschen meist ebensowenig inkludiert wie menschen, die in ihren rollstühlen nicht die treppen hinauf kommen.

dennoch ist ich kann dich hören weit entfernt von belehrungen oder mahnungen, es ist im gegenteil ein ganz wunderbar erzählter klingender elegant komponierter roman, der völlig von buchpreis-messe-betrieb verdrängt wurde – und der tatsächlich eine der entdeckungen des jahres 2019 ist.

katharina mevissen: ich kann dich hören. roman. wagenbach 2019, 168 s. 19€.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert