slavenka drakulić – they would never hurt a fly

an den genauen zeitpunkt erinnere ich mich nicht, vermutlich 1993 kam ich in der erfurter innenstadt, vermutlich auf dem wenigemarkt an einem info- und hilfsstand vorbei zum krieg in jugoslawien, über den in tv radio zeitung nur entsetzliches zu erfahren war. ich nahm ein plakat mit: eine junge frau kniet vor einem kleinen dürftigen holzsarg in dem ihr totes baby liegt ob verhungert erfroren ermordet ist nicht ersichtlich nur die trauer der schmerz das grauenvolle: In Bosnien stirbt Europa stand über dem foto, und bis zum abkommen von dayton hängte ich es vor mein fenster, dass es von der straße aus deutlich sichtbar war. was in jugoslawien in bosnien in und um sarajevo geschehen war, der stadt von der meine eltern einen fotoband über die olympischen winterspiele im regal stehen hatten und an deren eröffnungsfeier ich mich noch gut erinnerte – was dort unten jahrelang geschehen war, davon hatte ich keine tatsächliche vorstellung, doch das plakat im fenster bezeugte mir und meiner nachwende-depressiven stadt dass es mich sehr wohl etwas anging, dass im ersten europäischen krieg seit 1945 sich die beteiligten genauso lustvoll bestialisch beamtet grausam hässlich brutal zutiefst kolonial-national-rassistisch verhielten wie in den vorherigen kriegen des 20. jahrhunderts –

im herbst 2005 begann ich meine stelle an der universität im ostkroatischen osijek, im slawonischen vierländereck kroatien ungarn serbien bosnien, ich kam gerade frisch aus zentralasien und landete mitten in einer nachkriegsgesellschaft, die sich neu ordnete, nicht auszusprechendes erlebt hatte und etwas stur nach vorn schauen wollte. meine seminare waren voller junger menschen aus deutschland-österreich-schweiz, die perfekt deutsch aber holprig kroatisch sprachen, zwar in jugoslawien nicht aber in osijek aufgewachsen waren und nun als rückkehrer galten. was genau geschehen war – nur sehr selten hörte ich freunde, die nicht geflüchtet waren, von ihren erlebnissen erzählen. öfter geschah es, dass man als ausländer, zumal deutscher, im gespräch über politische entwicklungen im land in eine moralisch überlegene urteilende position geriet und die gesprächspartner ungewollt in eine der rechtfertigung schob, insbesondere wenn das gespräch auf entwicklungen in den haag kam – manche hatten die auffassung, das tribunal und seine unterstützer stellten die existenz des staates kroatien in frage, manche fanden das ebenso und befürworteten es deswegen, andere wiederum waren schlicht genervt immer wieder an den krieg erinnert zu werden –

in den zwei osijeker jahren, die mich zwischenzeitlich mit erlebnissen und erfahrungen überforderten, versuchte ich mich in der kroatischen und jugoslawischen literatur zu orientieren, von der ich kaum kenntnisse hatte. neben den sensationellen romanen „Die Brücke über die Drina“ von ivo andrić und „Die Rückkehr des Filip Latinowicz“ von miroslav krleža entdeckte ich die autorin slavenka drakulić, die in den zeitungen zu kriegsbeginn u.a. als hexe beschimpft worden war und das land verlassen musste, weil sie sich gegen tuđmans patriarchal-koloniale nationalistische antisemitische kriegslust wandte. ihre berichte als beobachterin von prozessen in den haag veröffentlichte sie 2004 auf englisch unter dem titel they would never hurt a fly (deutsch: keiner war dabei) und gehören zum eindrücklichsten intensivsten verstörendsten, das ich je gelesen habe.

es sind geschichten nicht-fiktionale erzählungen berichte die mit einem hannah-arendt-zitat beginnen und arendts erschrecken darüber teilen, wie banal das böse in erscheinung tritt:

So I sit and watch them, the five defendants [all of them accused of murder and torture in the Omarska and Keraterm camps in Bosnia]. They look so ordinary. But what did I expect to see? Horns? Pointed ears? After all, they were all ordinary policemen […]

es sind eindringliche erzählungen darüber, wie und warum der krieg seine katastrophale inhumane grausamkeit entwickelt als wäre es eine selbstverständlichkeit, massaker genozide vergewaltigungen folterungen durchzuführen und nach dem rausch wieder nur allzu gewöhnlich einem alltag nachzugehen:

[…] Žigić, who took part in the massacre. The killings, he says, happened because prisoners tried to escape and were shot while running away. But why the blood in the room? asks the judge. Why the blood on the walls?
Blood on the walls?
Suddenly I see that picture in front of my eyes, and I realise what the judge is talking about. The death of 120 prisoners is no longer abstract, no longer words. […] When at the end of the day in the court I take a long look at the defendants, they suddenly seem different to me. I see what I did not see before – not their dull faces, but a room with its walls splashed with blood.

es sind die normalen typen, die den krieg und seine brutalsten verbrechen aus den zumeist banalsten motiven durchführten: dražen erdemović etwa braucht für seine familie geld und arbeit und die armee gibt ihm beides – und am ende des tages hat er 70 menschen in einem massaker bei srebrenica erschossen, jeder weigerung zum trotz

No, he would not do it! He couldn’t kill men just like that, pinot-blank. As he went up to his commander, his hands were trembling. I don’t want to do this, he said. […] Gojković looked at Dražen without flinching. His expression was serious. Erdemović, he said, if you don’t want to do it, walk over there and stand together with the prisoners so that we can shoot you, too.

die wirksamkeit einer langjährig vorbereiteten ideologisierung zum nationalismus lässt sich an dražens erstem mord ablesen: die vorbereitung zum genozid ist die reduktion des individuums auf einzelne eigenschaften, ihre deutung als stigma, als teil einer gruppe von anderen, die darauf folgenden ausgrenzungen im handeln denken fühlen, eine kultur der lüge wie ein bekanntes unbedingt lesenswertes buch einer anderen kroatischen autorin, dubravka ugrešić, betitelt ist – die tödliche konsequenz aus all dem ist absurd doch in der realität alternativlos:

Dražen understood that he and the man in front of him had something in common: they had nothing aganinst people of other nationalisties. But how could you do this? the man asked as he inhaled the smoke from the cigarette, sensing it would be his last. What could Dražen tell him but that he did not have a choice? It sounded like a stupid thing to say to a man about to lose his life, it sounded damned stupid. But it was the truth. Dražen was aware that the man was guilty only of being the wrong nationality, and in this he didn’t have a choice either.

es sind diese grotesk grausamen geschichten wie aus einfachen menschen ganz gewöhnliche kriegsverbrecher und (un)willige vollstrecker geworden sind – und wie drakulić den mördern ein unmythisches nichtmönströses gesicht gibt, so gibt sie den opfern des krieges ein andenken. denn nichts schützt die mörder besser als das vergessen. und das verschweigen.

slavenka drakulić hat immer wieder gegen das vergessen geschrieben, um den opfern eine stimme zu geben, so auch in ihrem 1999 entstandenen roman als gäbe es mich nicht in dem vergewaltigungen als mittel des krieges schmerzhaft angeklagt werden, ein roman, der im kontext sowohl von they would never hurt a fly als auch den seither verübten kriegsgräueln in ruanda bis zu den jesidinnen im IS gelesen werden muss – und beide bücher nicht zuletzt in der debatte um die vergabe des literatur nobelpreises 2019 an peter handke drakulićs position, die sie der norwegischen zeitung dagsavisen mitteilte, verdeutlichen: nichts könnte falscher sein als dieser preisträger

Es ist traurig, dass mit norwegischen Steuergeldern Peter Handke gewürdigt wird.

und bereits 2005 in literaturen handkes elfenbeinerne, poetisch-ignorante position ich bin doch nur beobachtender schriftsteller kritisierte und als durchaus ideologisch erkannte

denn ein Krieg ist auch deshalb ein Krieg, weil es keine Neutralität mehr gibt, im Krieg hört der Schriftsteller auf, nur Schriftsteller zu sein […] Wenn im Krieg sogar die Schriftsteller zu den Feinden gezählt werden, wie kann Handke dann nicht begreifen, dass auch er selbst davon keine Ausnahme sein kann?

die starke kritik von saša stanišić über die nobelpreisvergabe an handke gründet sich zudem auf handkes (und die seiner unterstützer) weigerung dessen proserbische haltung als politisch und im kontext seiner eigenen literatur eindeutig ideologisch zu sehen und damit dem vergessen verdrängen rechtfertigen umdeuten intellektuell vorschub zu leisten. einem vergessen und verschweigen, dem slavenka drakulić immer entgegengearbeitet hat. ihre berichte aus den haager gerichtssälen entsprichen in vielen punkten auch persönlichen berichten meiner damaligen osijeker studierenden und kolleg*innen, die nicht fliehen konnten und den krieg zt hautnah und ohne pause miterlebten, deren väter vom nachbar mit vorgehaltenem gewehr zum dienst fürs vaterland gezwungen wurden, die selbst vertrieben wurden oder als soldat irgendwo kämpften – er kenne keinen seiner generation, erzählte mir ein befreundeter kellner eines abends vom belagerten osijek 1992, als er noch keine 20 jahre alt war, keinen der ohne schlaftabletten zu bett gehe. slavenka drakulićs they would never hurt a fly gab mir eine ahnung von den traumata der regionen nationen gesellschaften in denen ich mich damals eigentlich nur zur arbeit aufhielt und mit wesentlich mehr als mir vorstellbar war konfrontiert wurde – umso wichtiger, dieses buch heute wieder zu lesen, um sich gegen die peter handkes kolloborateure nationalisten dieser welt zur wehr zu setzen.

slavenka drakulić: they would never hurt a fly. war criminals on trial in the hague. abacus, great britain 2004. 182p, 12,49€.

deutsche übersetzung von barbara antkowiak: keiner war dabei. kriegsverbrechen auf dem balkan vor gericht. paul zsolnay, wien 2004. 200s, 17,90€.

Eine Antwort zu „slavenka drakulić – they would never hurt a fly“

  1. […] oder im hinterland. slavenka drakulic beschrieb in ihrem buch der haager kriegsverbrecherprozesse they would never hurt a fly sowohl die hauptverantwortlichen als auch die einfachen willigen vollstrecker: im blick zurück […]

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