karen köhler (hrsg.) – briefe an die täter

für die erste besprechung im neuen jahr etwas besonderes: das aktuelle heft der literaturzeitschrift akzente, die im vergangenen jahr neu konzeptioniert wurde und nur noch dreimal im jahr bei hanser erscheint. die hefte stehen nun ausgewählten autor*innen zur freien verfügung: karen köhler, die mit ihrem intensiven roman miroloi ebenfalls im vergangenen jahr äußerst kontroverse rezensionen erhielt, versammelt in ihrem heft 16 autorinnen, 16 briefe, 16 anklagen befreiungen ermutigungen aus dezidiert femininer perspektive auf schuld und schuldige – ein außerordentliches vehementes statement.

karen köhlers literatur ist immer auch performance, sie selbst ist ausgebildete schauspielerin und hat vorrangig fürs theater geschrieben, ihre prosa ist zuallererst über das direkte sprechen und (an)reden und dann unbedingt über die form zu lesen. ihr debüt-band wir haben raketen geangelt waren formal höchst unterschiedliche erzählungen doch stets aus der perspektive einer figur. so ist auch miroloi eine lange ich-erzählung mit einer den text strukturierenden, diesem sinn und halt gebenden form, dem klagelied. und nun eine zeitschrift voller direkter anreden: an die täter. und formal: briefe. diese scheinbar geringe formale vorgabe hebt jede distanz auf – die texte sprechen direkt zum leser: du bist gemeint, du ganz konkret, mit dir rede ich. und zudem: der lesende kann nicht wiedersprechen, er kann nicht unterbrechen und mansplainend den mund verbieten, er kann nur das heft schließen, sich entziehen, schuldig flüchten. die verhandlung von schuld, das zornige zweifelnde anklagen in briefform ist eine sprachliche körperliche soziale ermächtigung gegen bis dato übermächtig erscheinende täter, die frauen zu objekten opfern gemacht haben, entwürdigt, erniedrigt, verstummend, ihnen, sich selbst die stimme und würde als frau subjekt individuum zurückgeben. die briefe als form und die sich gegenseitig verstärkenden individuellen stimmen der autorinnen / absenderinnen geben dieser akzente-ausgabe ihre außerordentliche vehemenz.

in den briefen werden verschiedene formen von übergriffigkeit belästigung entwürdigung thematisiert, denen frauen in unserer sich so aufgeklärt gebärdenden westlichen patriarchalen wirklichkeit ausgesetzt sind, im zug, im urlaub, in der klasse, in der partnerschaft – beinah überall laufen frauen gefahr, zu objekten degradiert, entwürdigt, angegriffen zu werden.

die qualität der einzelnen texte mag wie in jeder anthologie schwanken, herausragend jedoch: hengameh yaghoobifarah mit ihrem wütenden und selbstgewissen brief an den schulfreund, der aus trophäensucht zum vergewaltiger wird – karosh taha mit der wiedererlangung der sprache nach einer toxischen beziehung – nefeli kavouras‚ leiser nicht minder intensiver kontrapunkt einer jungen frau, die ihren großvater pflegte – lena goreliks brief einer mutter an den vater, dessen sohn ihrem kind ein auge ausstach – nora gomringers von der unbegreiflichkeit der tat getragene briefe an den massenmörder aus überzeugung anders breivik – und karen köhlers abschließender brief an den wegschauenden tourist, der durch aktives bewusstes nichteingreifen dem übergriff gesellschaftliche struktur, soziale legitimation gibt: als metatäter.

die texte als briefe geben denen ihre stimme zurück, die hinter den auf die vermeintlich faszinierenden täter gerichteten lautstarken medien (epstein, afd, trump, handke, naziterroristen etc) ungehört verschwinden. so sind diese briefe auch als zeitzeugnisse zu lesen für die noch lange nicht beendete #metoo-debatte, und als anklage den entwürdigten den entmündigten den ermordeten ein stimme für ihre geschichte zu geben. in welche die täter nicht eingreifen können.

und nicht zuletzt sind diese briefe eine ermutigung für alle von gewalt und erniedrigung betroffenen, sich eben nicht in die rolle des opfers drängen zu lassen und mit den folgen der entwürdigung allein fertig werden zu müssen ja vielleicht gar für sie verantwortlich gemacht zu werden; und noch viel mehr eine ermutigung und aufforderung an alle metatäter, strukturelle ungleichheit und patriarchale gewalt nicht zu legitimieren, ihr zu widersprechen, aktiv zu werden wo es möglich und nötig ist, denn feminismus ist beileibe keine frauenarbeit, gleichberechtigung zu schaffen ist nicht aufgabe der von gesellschaftlicher diskriminierung betroffenen – den tätern und tatenlosen zusehern darf eine von sich selbst als demokratisch überzeugte gesellschaft nicht die selbstverständlichkeit gewähren die sie sich herausnehmen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert