tanja schwarz – weltroman

ein etwas größenwahnsinniges projekt sei es, sagte tanja schwarz über ihren weltroman, der inzwischen als gedrucktes buch vorliegt, ein roman über und für weltbürger oder solche, die sich dafür halten, dass sie überall auf der welt leben könnten, früher als skurrile geschäftsleute, heute als digitale nomaden, influenzer oder sonstige eroberer – dabei ist dies eine der kolonialen illusionen, die schwarz aufbricht, dass nämlich der strukturierte europäische mensch einen kohärenten, universal anwendbaren weltbegriff besäße.

tatsächlich beschreibt der roman das immer wiederkehrende scheitern von kohärenz, von kommunikation, von begrifflichkeit und sprache, also auch von dem, was man gemeinhin globalisierung nennt, eine irgendwie geartete einheitlichkeit von regeln, strukturen, bedingungen, begreifbaren handlungsweisen, geordnet nach eurozentristischem blick. doch im weltroman wird eine weltumspannende geschichte erzählt, die in der leeren brandenburgischen provinz bei frank beginnt, eigentümlichste wege über china und portugal und schiffspassagen nach afrika und verschiedene erzähler/figuren ruben, adile ngolongo, meimei, nimmt und schließlich mit gordon und agnes in einer religiös aufgeheizten menschenmasse in lagos zu ihrem ende findet, fern jeder reflektierten distanz

Der Heilige Geist (letztlich sind die Bezeichnungen gleichgültig) fährt wie eine Windbö, begleitet von tiefem Brausen, in oder durch das Kraftfeld, das die vielen Menschen mit vereinter Glaubensspannung aufgebaut haben. […] GOTT, lass mich BITTE dabei sein!

dies könnte die durchaus sarkastisch-verzweifelte pointe des treibens in und über die welt sein: ich begreife es nicht, doch ich will, ganz olympischer gedanke, anwesend sein, wenigstens ich bin formuliert haben. in einer vom global outgesourceten (und aktuell viral schockgebremsten) handel, von zunehmenden und sich gegenseitig verstärkenden kriegen und konflikten, von flucht, vertreibungen und vom klimawandel bedingten naturkatastrophen und sich immer redigider, menschenfeindlicher gebärdender wohlstandsfestungen geprägten gegenwart hatte schwarz‘ bereits 2012 erschienener weltroman das gespür zur globalen überforderung formuliert. wo weltumspannende und weltformulierende stories regelmäßig durch die kinosäle resp. streamingdienste gepeitscht werden – jeder james-bond-artige actionfilm bedient sich selbstverständlich der weltkulissen so wie es jeder comicfilm mit einer neuen weltbedrohung im universum zu tun hat und jede fantasyserie seine je eigene uralte welt begründet und ausdekliniert – so nimmt man doch von der real existierenden welt in seinen unbegreiflichen ausprägungen kaum notiz.

tanja schwarz allerdings hat alle im roman beschriebenen orte bereist. auch, um möglichst weit von sich selbst wegzukommen. um sich so weit wie es geht von der bauchnabelschau des umsichselbstkreisens ohne weltwahrnehmung zu entfernen. entstanden ist ein atemloser hochmoderner komplexer abenteuerroman, in dem weder an der welt touristisch vorbeigesegelt noch eine eigene welt entworfen wird, im weltroman steht die wahrnehmung der globalen gegenwart im zentrum, figuren, die sich in gefahr begeben um mehr über sich und ihre weltweite gegenwart herauszufinden, ein roman über die wahrnehmung einer übervollen, kaum mehr zu fassenden, kaum mehr zu begreifenden welt, die nicht auf das urteil und die reglements der europäer wartet. ganz besonders nicht heute, 8 jahre nach erstpublikation, in der sich die aggressive hilflosigkeit europas immer sichtbarer zeigt, sich selbst delegitimierend, indem es auf flüchtende, auf schutzsuchende schießt.

ein womöglich größenwahnsinniges buch, doch mit einem sehr genauen, emphatischen blick und in einer beeindruckend klaren wie poetischen sprache, der sehr gelungene selbstversuch, wie es frank nennt, sein eigenes bewusstsein (und auch das des romans selbst) auszumessen

Einer Testreihe unterzogen werden am Beispiel seiner Person, unter (zwangsläufiger) Berücksichtigung seiner Herkunft und Geschichte, biografischen Situation und so weiter: 1. die Konsistenz bzw. Fragilität des Ich, 2. die Wahrnehmung oder das Auffassungsvermögen bzw. deren Grenzen, immer gedacht im Kontrast zu seiner gewöhnlichen Umgebung, Berlin. Möglichkeit, all das Gleichzeitige zu erfassen, wenn sein Werkzeug doch nur begrenzt tauglich und störanfällig ist.

der weltroman versucht etwas gänzlich ungewöhnliches in der deutschen gegenwartliteratur: nicht darstellend die gegenwart zu erklären und mit deutungen zu überformen, sondern vielmehr anhand der figuren und ihrer weltsichten einen oder mehrere begriffe von welt zu suchen und sich so in ihr zu verorten: dieses buch ist zur welt offen.

tanja schwarz: weltroman. textem hamburg 2019 (forumsbuch 2). 418 s., 18€. hier erhältlich.

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