Autor: Sascha Preiß

  • literatur der ddr (ausschnitt)

    literatur der ddr (ausschnitt)

    aus gegebenem anlass ein paar wenige doch bedeutende vorschläge zur lektüre von literatur des bis heute überschriebenen staates, überschrieben von deutungen aus gewinner- verlierer- verklärer- verdammer- despotischer trotziger ideologischer nationalistischer rassistischer perspektive was alles die ddr war und nicht war ob wahr oder nicht wahr bis hin zur verlogensten ost-eroberung als wende 2.0 und der westdeutschen selbstgefälligkeit, auf sachsen mit dem finger zu zeigen. es lohnt sich hingegen, sich dem land ddr aus literarischen künstlerischen perspektiven zu nähern, um die konflikte widersprüche irrealitäten ideologien und gewalten in ihren wirkungen und auswirkungen zu erfahren. nirgends besser als in der vielfältigen literatur (und im damaligen theater als die eigentliche opposition) lässt sich die mentalität des staates ddr erfahren.

    hier nun fünf vorschläge, die sich abseits bekannter autor*innen (wie zb christa wolf, christoph hein, volker braun, heiner müller, stefan heym, hermann kant) bewegen:

    • maxie wander – „guten morgen, du schöne“. frauen in der ddr. protokolle. buchverlag der morgen, berlin 1977. (westdeutsche lizenzausgabe: sammlung luchterhand 1979)

    Dies ist ein Buch, dem sich jeder selbst hinzufügt. schreibt christa wolf in ihrem vorwort. es ist das vermutlich wichtigste buch, das selbst keine literarische intention hat: in 17 lebensbeschreibungen von frauen zeichnet sich ein bild der ddr in enormer radikalität: Frauen, durch ihre Auseinandersetzung mit realen und belangvollen Erfahrungen gereift, signalisieren einen radikalen Anspruch, als ganzer Mensch zu leben, von allen Sinnen und Fähigkeiten Gebrauch zu machen.

    • ulrich plenzdorf – kein runter kein fern. erstausgabe suhrkamp, frankfurt a.m. 1984.

    das erstaunlichste an dieser formal außergewöhnlichen erzählung ist: plenzdorf erhielt für den text 1978 den ingeborg-bachmann-preis in klagenfurt. eine erzählung, die von den bekannten werken plenzdorfs (die legende von paul und paula, die leiden des jungen w.) leider vollkommen überdeckt wird.

    • hans-eckardt wenzel – lied vom wilden mohn. gedichte. mitteldeutscher verlag halle leipzig, 1984.

    Der wilde Mohn wächst nicht im Garten. in diesem scheinbar banalen vers steckt das ganze rebellische potential der späten ddr-kulturszene. wild und lebendig kann im eingehegten normierten hübsch anzusehenden kulturstaat ddr nichts gedeihen. einige der mit der kraft des sturm&drang geschriebenen gedichte hat wenzel zwei jahre später auf „stirb mir ein stück“ eingesungen.

    • adolf endler – tarzan am prenzlauer berg. reclam leipzig 1996.

    ein buch nach dem ende der ddr, doch gehen diese sudelblätter auf tagebuchaufzeichnungen von 1981-83 zurück. endler flaniert im ostberlin der 1980er jahre, sein spiel mit sprache, mit bedeutungen, mit kollegen und realitäten nennt er selbst phantasmagorische prosafragmente – in einem der eigentümlichsten literarischen biotope in deutschland des 20. jahrhunderts.

    • die übergangsgesellschaft. stücke der achtziger jahre aus der ddr. reclam leipzig 1989.

    während die staatsführung mit gorbatschows politik wenig anfangen konnte, interessierten sich die autor*innen und das theater umso mehr für den sich abzeichnenden wandel, im drama konnte unzweideutiger kritisch erzählt und bilanziert werden – ohne zu ahnen, dass der satz aus volker brauns komödie (!) die übergangsgesellschaft DIE BLEIBE, DIE ICH SUCHE, IST KEIN STAAT schon den einsetzenden abgesang bedeutete.

  • raphaela edelbauer – das flüssige land

    raphaela edelbauer – das flüssige land

    #2 der shortlist. skeptisch misstrauisch angepisst präsentiert sich raphalea edelbauer auf dem foto im einband – ganz im gegensatz zum auftritt in klagenfurt 2018, wo sie ausschnitte des romans vorstellte. hier nun ist es nicht mehr heiter, hier geht es düster zu, scheint sie nun zu sagen. der gesamte roman will vieles und kann einiges – vor allem sprachlich ist es ein herausragender text, der allerdings viel zu lang geraten ist. es liest sich, als hätte ein lektor verlangt, ausschweifender = erklärender behutsamer andiehandnehmender zu erzählen, um den leser*innen nicht zu viel zuzumuten, denn so ein roman soll doch in erster linie gute unterhaltung sein.

    im flüssigen land gerät die wiener physikerin ruth in eine raum-zeit-parallel-unwirklichkeit: groß-einland, die (n)irgendwo in den österreichischen bergen abgelegene ortschaft, ist der geburtsort ihrer eltern und weil sie diese dort auch beerdigen möchte, begibt sie sich unfreiwillig dorthin – und landet in der pittoresk-grotesken gemeinde, die auf einem riesigen unterirdischen loch steht. klar, dass es um geheimnisse in der dorfgemeinschaft und so ziemlich alles geht, was den spezifischen österreichischen eigensinnigen anti-heimat-roman ausmacht.

    da ist die wissenschaftlerin und ihre studie bzw habilitationsschrift zu theorien der zeit, eine variation auf den bernhardschen geistesmenschen. da ist der raubbau an der geliebten heimatnatur aus gründen der eigenen bereicherung. da ist die bestens konservierte k-u-k-mentalität, denn selbst wenn der gräfinnentitel nur erlogen ist, gilt er vorbehaltlos. da ist das dorf in seiner eigenbrötlerischen weltferne, so fern, dass das dorf nirgends verzeichnet ist. da ist das spiel mit kulissen und imitationen, was ist echt, was ist theater, wem kann man trauen und wer ist wie bösartig zu wem. und da ist die alles durchziehende psychologie, das riesige düstere bedrohliche loch und das verdrängen von erinnerungen – als wäre dies nicht die offensichtlichste aller symbolbedeutungen, wird es im roman dennoch mehrfach ausgesprochen.

    Der Hohlraum unter dem Parkett, dachte ich in unaufmerksamen Momenten. Ob diese Formulierung vielleicht auf das Verdrängte in ihrem Kopf hindeutete? (Kap. 12)

    Was man ins Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte. (Kap. 19)

    und konkret historisch gewendet, denn das loch ist schauplatz aller art von verbrechen, insbesondere zur ns-zeit, worauf sich auch der zentrale teil der handlung bzw ruths recherchen gründet:

    Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.

    dies ist der nucleus des romans, die frage nach schuld und verdrängung bis zum kitsch, und zur belebung wird er angereichert mit allerlei skurrilitäten und ruths familiengeschichte, was aber so recht nicht zünden mag, da die figur der ruth trotz aller beschreibungen nicht plastisch wird. einerseits steht sie dem dorf ausschließlich distanziert als fremde gegenüber, andererseits behauptet sie, ihre heimat gefunden und sich integriert zu haben, was aber zu keiner änderung ihrer distanziertheit führt. und schließlich berichtet sie das alles mit hoher akribik und wissenschaftlichkeit (und unnötigen theorie-einschüben zur zeit) und alles stets reflektierend, sich und alle anderen befragend, skeptisch, mürrisch, und beauftragt, ein füllmittel fürs loch zu finden. irrtümer, unwahrheiten, unzuverlässigkeiten kennzeichnen sie nicht – während die dorfbewohner von unwägbarkeiten übertrieben dargestellt sind.

    den roman wiederum kennzeichnet eine allzu detailreiche schilderung der ereignisse in einer vom endgültigen einsturz bedrohten gemeinde. doch die bedrohung von unten führt zu eigentlich nicht viel. die übermäßige wiederholung, dass es in groß-einland absonderlich und skurril zugehe, verschleppt das tempo nach starkem beginn immer weiter, selbst dann, als es auf einen showdown zusteuert, wird dieser im letzten moment aufgegeben – und ruth fährt einfach wieder nach hause. man wünscht sich, diese sprachliche begabung für sensationelle formulierungen wie bemannte kruzifixe und sätze wie Die Couch sickerte trüb in die Wohnzimmerwand und hinein in die gräuliche Wolkenstimmung des Frühnachmittags. wäre auf die struktur übertragbar, der roman auf die hälfte komprimiert worden, um die albtraumhafte unwirklichkeit keineswegs so deutlich und nachvollziehbar erklärt zu bekommen –

    doch so radikal können debüts heutzutage wohl einfach nicht sein für den deutschen buchmarkt, um in preisverdacht zu geraten. so bleibt ein roman mit hohem politischem anspruch und recht glatter widerstandsfreier viel zu breiter ausführung. bzw: Nichts, was im Unklaren verblieben wäre. schade eigentlich.

    raphaela edelbauer: das flüssige land. klett-cotta, stuttgart 2019. 350 s, 22€.

  • miku sophie kühmel – kintsugi

    miku sophie kühmel – kintsugi

    buch #2 der longlist zum deutschen buchpreis ist buch #1 der shortlist. um es vorweg zu sagen: kintsugi von miku sophie kühmel ist kein schlechtes buch. als debüt ist es von beachtlicher intensität und mit ungewöhnlichem personal bestückt für eine familiengeschichte. als möglicher „roman des jahres“ und bereits jürgen-ponto-preisträgerin 2019 erhält ein buch überproportionale aufmerksamkeit, das zwar gut, aber keineswegs herausragend ist. nur zum verständnis: dies ist keine anmerkung aus neid oder missgunst, dies ist viel mehr eine anmerkung zum literaturbegriff des deutschen literaturbetriebs. wie es beim buchpreis heißt:

    Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.

    es geht um aufmerksamkeit – also publikum – also verkaufszahlen, weshalb der preis von repräsentant*innen des betriebs vergeben wird, autor*innen, kritiker*innen, händler, möglichst breit angelegt, möglichst konsensfähig. literatur als sprachliches künstlerisches kritisches kontroverses medium – davon liest man auf der selbstbeschreibung des buchpreises nichts. die kritik ist nicht neu doch immer wieder notwendig: dem buchpreis geht es nicht um literatur sondern ausschließlich um das medium buch als träger belletristischer unterhaltung, es ist kein literaturpreis sondern ein verkäuflichkeitspreis, auch wenn er sich literarisch gebärdet.

    betrachtet man die begründung der shortlist, wird der publikumswirksame gegenwartsroman zum soziologischen projekt:

    Diese Altersstruktur rückt zwangsläufig Themen in den Vordergrund, die in der deutschen Literatur relativ neu sind: In allen nominierten Romanen gehe es „um den Ort der globalen Welt, von dem aus das eigene Dasein zu begreifen ist“, schreibt der Jury-Sprecher Jörg Magenau. Vor allem die Identität des Mannes sei problematisch geworden. Vielleicht habe der Generationswechsel damit zu tun, „dass die Jüngeren bei diesen Themen schärfer hinschauen“, so Magenau. In der Zusammensetzung der Liste wird außerdem die Ambition erkennbar, die literarische Landschaft in Deutschland in ihrer Gesamtheit abzubilden.

    es sind ausschließlich inhaltliche kriterien, identität, globale herkunft, ein querschnitt durch die land-/gesellschaft. nur in diesem kontext erhält „kintsugi“ kontur, kann „kintsugi“ von größerem interesse sein : als baustein einer nach soziologischen gesichtspunkten, rein inhaltlich ausgerichteten literaturwahrnehmung – eine extreme beschneidung der chancen und risiken und möglichkeiten von literatur.

    denn so funktionieren jurys derzeit. anstelle etwas auszusuchen, das manche lieben und andere verachten, ignorieren, nicht einverstanden sind, werden eher langweilige, konsensfähige sachen prämiert, denn damit macht man nichts falsch bzw eigentlich alles. zugespitzt: literatur (hier: metynomie für genreferne belletristische prosa in romangestalt) prämiert seine markttauglichkeit. ausnahmen wie frank witzel bestätigen wie immer etc.

    lässt man die buchpreis-begründung einmal beiseite, bleibt mit „kintsugi“ eine familien-/liebesgeschichte mit ungewöhnlichem personal (das schwule pärchen max und reik, die coming-out-liebe tonio und dessen 20jährige tochter pega), angesiedelt in der eher exklusiven akademischen welt, max architektur-professor mit tee-/japan-fimmel, reik erfolgreicher künstler, tonio freiwilliger barpianist, pega psychologie-studentin. und eigentlich geht es doch „nur“ um die liebe und beziehungen, trennungen, vertrauen, misstrauen, sex und was der gekitteten beziehungsbrüche (daher der romantitel) mehr sind. das haus am uckermärkischen see, in dem der roman ausschließlich spielt, wird nur in übermäßig ausführlichen rückblicken und zu kleinen spaziergängen verlassen – es ist ein kammerspiel im stil edward albees „wer hat angst vor virginia wolf?“, und vermutlich wäre es als theatertext auch interessanter da deutlich stringenter.

    so wird die geschichte in ihrer lückenlosen, raumgreifenden, raumverdeckenden und adjektivüberladenen sprache eher erstickt als freigesetzt: er ist schlicht ziemlich langweilig. der japanische überbau, von max in die geschichte getragen, mit titel, kapitelüberschriften, immer mal wieder zerbrechenden und geklebten teeservices ist ein überdeutliches breittreten einer vllt charmanten wenn auch auch nicht exklusiven metapher. es wäre um einiges interessanter, wenn max seinen japanfimmel nicht durch tatsächliche reisen sondern eher im stile eines karl may erfindend sich angeeignet hätte, so als wäre ihm zerbrochenes ikea-geschirr für seinen midlife-crisis-breakup nicht aussagekräftig elegant genug, als bräuchte er unbedingt exklusives original japan-prozellan zur einsicht. doch so verwegen ist „kintsugi“ nicht, die figuren meinen es leider ziemlich ernst mit sich. und weisen dabei kein bisschen über sich hinaus, es gibt keinen relevanten politischen, sozialen, gesellschaftlichen kontext im buch, es ist eine viel zu ausführliche kleine liebesgeschichte.

    das kann man lieben oder nicht – als möglicher roman des jahres ist es eine enorme überladung eines guten, doch keineswegs herausragenden romans. für die autorin ist es selbstredend fantastisch, wer wünschte seinen arbeiten nicht ebensolchen (besonders finanziellen) erfolg?

    doch sind deutlich bessere, engagiertere, literarischere, kontoversere texte auf der longlist verblieben. man sollte den preis definitiv in erster linie als prämierung einer konsensfähigkeit des lesepublikums verstehen, nicht aber als qualitätskriterium. was äußerst schade ist.

    miku sophie kühmel: kintsugi. roman. s.fischer, frankfurt a.m. 2019. 298s, 21€.

  • ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    buch #1 der long list zum deutschen buchpreis 2019 – und es ist eins das viel richtig machen möchte und dennoch bieder bleibt und damit ein äquivalent zum deutschen sonntags-tv-krimi darstellt. auch da ist schon in den ersten sekunden eine leiche und dann werden die hintergründe stück für stück enthüllt zwischen holzgeschnittenen figuren, politischen hintergrundfassaden und sehr viel allzumenschlichem und zum schluss gibts einen plottwist, der dann letztlich so überraschend schon nicht mehr ist und sowieso nur funktioniert, wenn man ihn nicht spoilert und den film nur einmal sieht bzw den roman nicht erneut liest.

    in ulrich woelks der sommer meiner mutter ist der 10jährige tobias im jahr 1969 von der bevorstehenden mondlandung fasziniert, die selbstverständlichkeiten der wirtschaftswunderspießigkeit prägen sein kölner vorortleben, das in ähnlich grauen tönen daherkommt wie das schwarzweißfernsehen und die mondoberfläche. der vater ist konservativer ingenieur, die mutter folgsame hausfrau ( sich nur dem sex verweigernd ) und der onkel war einst erfolgreicher nazikampfpilot und ist jetzt farb-tv-besitzer da zum erfolgreichen bauunternehmer aufgestiegen. tobias, dessen 50 jahre älteres ich diesen roman als bericht schreibt, steht veränderungen ängstlich entgegen und wird sich später auch mit den worten gegen seine mutter wenden, dass sie alles zerstört habe.

    in diese übersichtliche welt zieht eine kommunistische nachbarsfamilie mit weltläufigkeitsgeruch und alle drei leinhards vater mutter und tochter rosa werden in so grellen farben geschildert dass die konservativen rheinländer von den linkspolitisierten paradiesvögeln nicht mehr lassen können. was anfänglich nach clash of political cultures aussieht sich dann aber gebärdet wie eine folge frauentausch mit hang zum polittrash führt letztlich zum ersten sex von tobias und zur tragischen auflösung der familien, denn tobias mutter bringt sich um – die leiche von sekunde eins -, nachdem sie mit rosas mutter ihr coming out erlebte, tobias das unfreiwillig entdeckte und der vater seine „unnatürliche“ frau verließ – der plottwist. die höhepunkte des buches – rosa-tobias-sex, lesbischer sex, mondlandung = interstellarer tv-sex – hat woelk in eine nacht hineinkomponiert der dramatik wegen. beide schwer betrogenen männer schieben daraufhin ihre frauen ab, diese sind zu keiner solidarität in der lage, da rosas mutter kurzerhand auch wegzieht und mehr erfahren wir nicht, schließlich wendet sich ein überforderter tobias auch noch gegen seine mutter und beschuldigt sie des hochverrats an seiner familie und flieht ebenfalls vor ihr.

    es sind die männer, die wie karikaturen wirken durch das gesamte buch, der altnazi-kapitalist und der universitäts-kommunist finden bei der sportschau ihre freundschaft, die antikriegsproteste als alberne tv-kulisse, die raumfahrtbegeisterung in ermangelung einer modelleisenbahn – das könnte ein evtl interessantes porträt einer zeit werden aber alles gerät zu allgemeiner lächerlichkeit und das zentrum des romans ist es, die rakete zum mond zu bekommen bzw tobias endlich zum ersten sex. rosa selbst als 12jährige feministin Ist dir schon mal aufgefallen, dass in allen Geschichten die Helden immer Männer sind? Und was wenn Jesus eine Frau war? wirkt in diesem nach das kleine fernsehspiel anmutendem setting noch ein bisschen deplazierter als es diese ganzen summer of love requisiten jeans the doors make love not war zudem tun. komischerweise raucht keiner auch nur eine klitzkleine friedenspfeife, das ist woelk irgendwie durchgerutscht.

    es sind diese bücher alternder autoren über westdeutsche adoleszenzerfahrungen, die mir außer einer gewissen kritischen nostalgie nicht viel sagen. das buch möchte menschen in den mittelpunkt stellen und ist vorrangig technikfixiert mit (kinder-)erotischer komponente, schließlich ist woelk studierter astrophysiker und seine sprache ist entsprechend mehr berichtsprosa als sprachsuchend. der naive tobias hat zudem ständig angst, dass ihn die meilen überlegene rosa nur als kleinen nerdigen jungen anschaut, und er hat allen grund zu dieser annahme, denn tobias ist ein kleiner nerdiger junge und wird später als astrophysiker uns alles zur raumsonde rosetta erzählen was man wissen sollte oder auch nicht. die tragödie der mutter und seine eigene beschuldigung mit schlechtem gewissen hat er dabei offenbar bestens weggesteckt, wird so schlimm dann wohl nicht gewesen sein.

    es sind die themen sex / erotik / tod und technik / gesellschaft / politik und gender / feminismus / sexuelle selbstbestimmung die im sommer meiner mutter verhandelt werden auf eine sehr puppenspielhafte bis unverständliche weise, die „initiation“ des jungen tobias und wieder ein männlicher held ist dabei vollkommen unnötig :

    was eigentlich treibt autoren dazu ausführlich sexuelle handlungen zwischen kindern zu beschreiben ??

    denn es ist wesentlich bedeutsamer dass er vom coming out seiner mutter ihrer liebe zur nachbarin und dem enormen druck den sie die gesamte ehe über ausgehalten hat und dass sie schließlich unter der zurückweisung von ihrer familie als bestrafung zusammenbricht dass er von seiner mutter nicht nur so gut wie nichts wusste sondern auch seinen eigenen anteil an ihrer demütigung nicht wahrnahm – doch dieser frage stellt sich der roman nicht und es ist letztlich unklar, was diesen recht knappen mäßig unterhaltsamen bis störenden mäßig gelungenen roman auf die long list gehoben hat vielleicht hat ihn irgendeine erotisierte raumsonde günstig fallenlassen – egal, unwichtig, abspann.

    ulrich woelk: der sommer meiner mutter. roman. c h beck, münchen 2019. 189 seiten, 19,95€.

  • györgy konrád ( 1933 – 2019 )

    györgy konrád ( 1933 – 2019 )

    aus gegebenem anlass : mit der literatur von györgy konrád und der ungarischen literatur bin ich 1999 durch das gastland ungarn auf der frankfurter buchmesse in kontakt gekommen . unmittelbar vorher hatte ich die ausstellung ungarische kunst der 1990er jahre an der akademie der künste berlin gesehen die mich außerordentlich fasziniert hatte – konrád war eben zu dieser zeit der akademiepräsident . umso neugieriger also war ich auf die literatur aus einem land das zu ddr-zeiten eines der beliebtesten reiseländer war vorrangig mit ziel balaton wohin meine eltern dennoch nicht mit uns fuhren zu dem ich also keine besondere beziehung hatte und auch keine wirkliche vorstellung – bis eben 1999

    von den vielen büchern ungarischer autorinnen und autoren die ich damals las blieben mir nachhaltig péter nádas und györgy konrád im gedächtnis von konrád insbesondere der komplize ein außergewöhnlich kraftvoller lakonischer und schelmenhafter roman dessen ton mir vollkommen neu da unbekannt erschien sperrig wenig zur unterhaltung gemacht kein buch für irgendwie zwischendurch und für einen gemütlichen sonntag abend – dieser roman wollte etwas von mir klopfte sehr dringlich an und verlangte auseinandersetzung

    doch außer mir und ein paar feuilletonisten nahm zumindest in meiner germanistischen freiuniversitären westberliner umgebung niemand die ungarische literatur wahr niemand las konrád oder nádas oder dalos oder eszterházy oder die wunderbaren anthologien kettenbrücke bzw ungarn von montag bis freitag und so blieb ich mit ihnen mein eigener komplize im ungarn des westberliner jahres 1999

    erst in meinen slawonischen jahren näherte ich mich ungarn wieder ein bisschen gelang es mir sogar ungarisch zu lernen und mich nicht ganz verloren in dieser sehr besonderen sprache zu bewegen und vor allem eine vorstellung ihres klangs ihrer aussprache ihrer grammatikalisch-lexikalischen gelenkigkeit zu haben – ohne jedoch der vorstellung zu erliegen konrád auch dereinst im original zu lesen ein buch wie der stadtgründer ist schon im deutschen eine extremerfahrung der man sich unbedingt eines tages aussetzen sollte

    konráds literatur insbesondere der von vor 1989 ist – ebenso wie die von péter nádas – mit nichts vergleichbar was ich bislang gelesen habe weder im ton noch in den themen seine romane sind sperrig knorrig äußerst eigenwillig klug und mutig und komisch und niemals leicht und haben mein jahr 1999 dominiert wie nachfolgend kein literarisches gastland mehr

    nagyon köszönöm, konrád úr

  • fernanda melchor – saison der wirbelstürme

    fernanda melchor – saison der wirbelstürme

    in einer epoche, in der literatur vorrangig vermarktet wird als etwas wohliges angenehmes unterhaltsames voll bettlägeriger gemütlichkeit geradezu krankhaft frohsinnig harmloses – in einer solchen epoche der maximalverkitschung von literatur als wellnessentspannung erscheint fernanda melchors roman und der titel saison der wirbelstürme erhält eine poetologische konnotation und treibt vom kitsch infizierte kritiker*innen in die manikürte ekelpikiertheit. ihks, ist das schmutzig hier, sowas schreibt man doch nicht.

    doch, schreibt man bzw frau.

    dieses buch ist ein atemloses sprachliches kunstwerk. grandios, gnadenlos, grausam, grässlich brutal, eine einzige anklage an eine rohe, hoffnungslose, sich selbst ausbeutende, mitleidlose, rücksichtslose gesellschaft, die jegliche orientierung verloren hat. erzählt in einer sprachlich einzigartigen rohheit und wucht, und außergewöhnlich gut übersetzt von angelica ammar.

    in acht kapiteln ohne jeden absatz wird die ermordung einer als hexe bezeichneten ungewöhnlichen jungen frau aus verschiedenen figurenperspektiven nachvollzogen, ein stimmen- und sittenbild einer auf gewalt missgunst erniedrigungen und beleidigungen basierenden gesellschaft, die keine solidarität, kein mitgefühl, keine zärtlichkeit mehr kennt, nach dem sich alle figuren sehnen, dafür ein rohes zynisches verachtendes amüsement.

    Mieses Flittchen, widerliche Drecksau! Keiner hielt Brando zurück, als er sich auf die Frau stürzte und ihr einen Faustschlag ins Gesicht verpasste, alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich den Arsch abzulachen.

    dies ist der roman zusammengeführt in einer minimalen sentenz. da ist nichts zum gefallen, da ist nichts schönes, nicht ein funken licht denn jede hoffnung der figuren wird rigoros zunichte gemacht werden, sie zerstören sich selbst und wissen es nicht besser. es ist kein buch, das man gern liest – es ist pure literarische kraft.

    vergewaltigung, rücksichtslose grausamkeiten – das wahrscheinlich entsetzlichste kapitel ist das fünfte, die erzählung von norma, einer jungen frau, von ihrem onkel wiederholt vergewaltigt und geschwängert, die schließlich mit hilfe der „hexe“ ihr kind abtreibt und dafür erneut verachtung erntet – in den ausweglosen schilderungen und darstellungen ergibt sich ein hoffnungsloses panorama, an dessen ende ein mitleidloser tod steht, ein begräbnis als abfallverklappung: menschen oder was von ihnen übrig ist sind zu entsorgende biomasse.

    es sind die jungen, die kinder, die hauptpersonen sind keine 18 jahre, die diese erziehung zur grausamkeit der älteren erleiden, die sich wehren möchten mit allen mitteln ohne zu wissen wogegen, die ihr dasein in alkohol drogen und misshandlungen ersticken, denen gewalt und grobheit und verachtung alltag bedeutet, einen alltag, den sie selbst verachten ohne auch nur ansatzweise einen ausweg finden, anerkennung, gemeinschaft, zusammenhalt, es sei denn in der bandenkriminalität der drogenkartelle. und die sich doch nur wieder zerstören.

    von dort auch der romantitel: die saison der wirbelstürme, meteorologisch sowie sozial, kommt erst noch. die jungen werden sie aufziehen sehen und erzeugt haben. das chaos ist noch immer nicht da, trotz all diesem leid: dies ist melchors anklage an das mexico der gegenwart.

    es ist ein vollkommen trostloser gewaltiger wuchtiger sensationeller roman, der jeden seiner preise zu recht erhalten hat und wird. ein buch definitiv nicht zum wohlfühlen, sondern ein grandioses stück literatur.

    fernanda melchor: saison der wirbelstürme. roman. wagenbach, berlin 2019, 240 seiten, 22€.

  • max porter – lanny

    max porter – lanny

    max porter wurde mit seinem kurzroman „trauer ist das ding mit federn“ 2015 schlagartig berühmt. ein bedrückender stoff – plötzlicher verlust eines vertrauten menschen – eindrücklich visuell berührend humorvoll leicht erleichternd gar tröstend beschrieben. sein zweiter roman „lanny“ lässt den erstling in neuem, keineswegs besserem licht erscheinen. hier hat jemand seinen stil gefunden und entwickelt ihn konsequent weiter. man könnte meinen: als pose.

    das liegt nicht nur an inhaltlich starken parallelen : eine familie, die von einem verlust erschüttert wird (der sohn verschwindet), eine fantasie-figur, die durch die geschichte leitet, die kunst als metapher, um den bezug zum leben nicht zu verlieren – ein sehr bürgerlicher stoff, eine bürgerliche kleintragödie aus der londoner peripherie.

    es liegt auch an der identischen art des erzählens, die geschichte nur in monologischen stimmen zu entwickeln. und die sich in „lanny“ als stil marke sound label und kalkuliert offenbart. „lanny“ ist „trauer“ 2.0: statt ein 120 seitiges kammerspiel nun die gleiche geschichte gestreckt auf 200 seiten. „das ding mit federn“ mag als überraschender erstling prima funktioniert haben, thema perspektive gestaltung und struktur, wobei zu vermuten steht, dass die story selbst, nach „lanny“ erneut gelesen, nicht mehr viel hergibt. sehr ähnliche figuren, es ist eine identische bürgerlichkeit und eine vom plötzlichen verlust erschütterte heile bürgerwelt („trauer“: vater und zwillingsöhne tragen keine konflikte gegeneinander aus, sind die ideale trauergemeinde mit unendlich viel verständnis, keiner reagiert über, ist geschockt, verkraftet den verlust nicht – sie sind emotional völlig stabil und können die anwesenheit der trauerkrähe als katalysator zur überwindung des verlustes, als stabilisierung gut gebrauchen: sie vermissen schmerzfloskelnd die über alles geliebte frau/mama und kommen krähentherapiert darüber weg. prospekttrauer eigentlich) und bei „lanny“ ist es ähnlich: vater mutter (im übermaß begabtes) kind, das verschwindet. jetzt wird der konflikt leicht anders gewichtet, die mutter liebt den sohn (bis zur grässlichen verkitschung: er ist meine muse) der vater kommt mit ihm nicht klar (auch dies in kitschiger eindimensionalität, der struktur geschuldet), es gibt eine dümmlich schwätzende dorfgemeinschaft und einen alten einfühlsamen künstler, vaterersatz, der der kindstötung verdächtigt wird. es gibt bei „lanny“ kunst (alter mann) und krimi (mama) statt des federtrauernden vaters beschäftigung mit ted hughes. und es gibt die alles überragende fantasyfigur: es ist altvater schuppenwurz statt der riesenkrähe, ein extrem gesteltzer name für eine symbolfigur. und es offenbart sich, wie sehr diese sprache auf effekte angewiesen ist, um ihre trivialität zu übertünchen. der altvater wird von den stimmen des dorfes umweht, was zu einem wellenförmig durchbrochenem schriftbild führt bzw am ende zu einer imaginären theatralen gerichtsverhandlung, wer ist auf welche weise schuldig an der katastrophe (die es dann doch nicht gab, denn lanny ist nicht tot) – storytelling ist nicht die stärke von max porters romanen, umso mehr wird zu literarischem CGI gegriffen.

    ohne diese optischen täuschungen: flat characters, keine figurenentwicklung, von außen heran getragene veränderungen, ein bisschen fantasy, dazu stereotype und klischees : das dumm-böse dorf, die gierig-skrupellosen medien, im zentrum ein verkitschtes allzu überbesonderes kind, eine dieses kind über alle maßen liebende mutter und ein von ihm über alle maßen abgestoßener vater (man weiß, wo das endet) und der aus der geschichte erwachsen gewordene junge. that’s it.

    max porters romane: das ist eher machart wie bei einer britpopband, die ihren sound etablieren möchte, egal wo egal wie hauptsache charts. man hat den eindruck, teil einer marketingkampagne zu sein: es ist so leicht zu enttarnen, und ein gar nicht so kleines bisschen fühlt man sich als leser veralbert.

    tl;dr

    ein drittes buch in ähnlicher manier und max porter wird sein eigenes klischee geworden sein.

    max porter: lanny. roman, kein und aber, zürich 2019, 224 seiten, 22€.