Kategorie: art

dies ist kunst

  • senthuran varatharajah – vor der zunahme der zeichen

    senthuran varatharajah – vor der zunahme der zeichen

    wie komplex und tiefgründig und zutiefst berührend und mit eindrücklich radikaler sprache und konsequent die deutsche gegenwartsliteratur sein kann, hat 2016 senthuran varatharajah mit seinem debüt vor der zunahme der zeichen gezeigt. ein buch als facebook-chat, ein briefroman also zwischen zwei personen – ein großartiger roman über fluchterfahrung identitäten sprache biografien deutschland und seine gegenwart.

    der roman ist auf engstem raum gefügt: zufällig via facebook-algorithmus wird senthil vasuthevan, dem in berlin lebenden doktorand der philosophie, zur freundschaft valmira surroi vorgeschlagen, die in marburg kunstgeschichte studiert. die beiden kennen sich über einen bekannten, sind sich aber nie begegnet und werden es auch in den wenigen tagen und nächten des intensiven chats nicht, denn valmira wird über den sommer nach prishtina zu ihrer familie fahren. ob sich senthil und valmira einst treffen werden oder weiter im kontakt bleiben – der roman bricht unvermittelt ab und lässt alles weitere offen. in diesen sechs tagen von samstag 3:24uhr bis freitag früh 7:16uhr werden sich die beiden ihre lebensgeschichten in so vielen details und farbgebungen wie kaum für möglich gehalten – valmira sagt des öfteren, sie weiß nicht, warum sie ihm das alles erzählt – geschildert haben.

    es ist ein intensives eindrückliches faszinierendes beschämendes lebendiges gespräch über die eigenen flucht- und vertreibungserfahrungen, denn senthil ist tamile aus jaffna in sri lanka und seine familie ist im bürgerkrieg 1983-2009 vertrieben und über den globus verstreut worden. valmira wiederum ist kosovo-albanerin und ihre familie floh ebenfalls vor den zerstörungen des krieges. nicht allein die fluchterfahrungen, auch die meist demütigenden erlebnisse als kinder im asyllandheim die immer wieder als normalität ausgrenzung und abwertung erfahren, gegen die sich beide dennoch behaupten können, verbindet sie – nicht allein also die detailreich geschilderten migrationserfahrungen werden plastisch und nachvollziehbar und konsequent offengelegt und fügt dem gespräch auch die leser*innen hinzu.

    es ist zudem die motivdichte und die verbindungen und verwebungen der motive in das gespräch der beiden, die den roman auszeichnen. es geht um schatten und licht/sonne ( schatten über die man springen kann, schatten des krieges, schatten die nicht hinter einem liegen – die sonne als stern, als licht der fotografie, als konsumgut sie haben uns mit papierkugeln und leeren capri-sonnen beworfen ) um schweigen und sprechen ( können ) um sichtbarkeit und verstecken/enttarnen ( sie sehen sich nur via fotos ihrer facebook-seiten, Sie zeigten mit ihren Fingern auf mich. Sie haben mich erkannt. ) um identitäten herkunft hautfarbe und immer wieder um sprache und varianz, auch formal. während valmira die deutsche großschreibung sowie ziffern verwendet, schreibt senthil konsequent klein und alle zahlen als wort, ausdruck ihrer zugewandtheit und überschreitung, zudem ist beider verhältnis zu ihren muttersprachen divers und in dieser diversitären brechung teil ihrer persönlichkeiten.

    und vor allem geht es natürlich um anerkennung, die lebensgeschichten erzählen zu können ohne rechtfertigung, dafür mit belebender resonanz, sieh ich verstehe dich, ich kann zu dir sprechen ohne scham und ohne begründung. beide haben sie wichtige freunde verloren ( cahil ist verstorben, kübra wurde abgeschoben ) und in ihrem chat als intimer raum entfaltet sich eine beeindruckende sprachlichkeit:

    Jeder Buchstabe hat seinen Preis. […] Wir müssen uns zwischen den Zeilen und Zeichen erraten.

    meine schrift verrutschte. meine sprache verrutschte. und in die zeichen und zeilen ging kein geräusch.

    Gestern fand ich das Deutschheft, in dem das erste Diktat steht, das ich ohne Rechtschreibfehler geschrieben habe.

    sein vater war gerber […] es wurde von ihm nur in anlauten gesprochen. er kam nicht zur sprache. […] er war nicht der rede wert.

    Wenn meine Mutter im Supermarkt Verkäufern eine Frage stellt, wird sie von ihnen geduzt.

    das, was wir, das, was ich […] sage, ist leer und nur ein zeichen einer vernichtung, der wir entkommen sind, so, wie auch wir, unser körper, unsere sprach- und schriftkörper, immer ein zeichen der vernichtung gewesen sein werden.

    es sind diese verbindungen der figuren dieses romans, die in ihrer sprachlichkeit und konsequenz beeindrucken, ihre bildhaftigkeit und ausdrucksstärke, die die beiden figuren zueinander sprechen lassen, dass sie selbst nicht zur sprache bringen können oder wollen, warum sie sich so sehr einander öffnen. auch wenn senthil zugibt, in seiner funktion als prediger durchaus zu wissen, wie man auf menschen zugeht. dennoch ist dieses gespräch auch lesbar wie ein von beiden geführtes gebet – mit jemandem der sowohl anwesend als auch physisch abwesend ist: Ich wollte [Sara] von Dir erzählen, aber ich habe es nicht. das gespräch bleibt geschützt und intim –

    senthuran varatharajah, der für diesen roman mehrfach ausgezeichnet und zurecht vielfach sehr gelobt wurde, hat mit vor der zunahme der zeichen einen eindrücklichen und beeindruckenden roman geschrieben, der eine ganz eigene sehr poetische sehr konkrete stimme und sprache entwickelt und in der unmittelbarkeit des gesprächs, dem man als leser*in folgt, eine ideale form gefunden hat, migrationserfahrungen und lebensleistungen derer die an den rändern leben zur sprache zu bringen, auch wenn insbesondere senthil wenig optimistisch auf seine gegenwart blickt und die flüchtigkeit auch des sprechens betont :

    niemand wird wissen, von welchen rändern wir aus sprechen, und dass wir darüber sprechen können, ändert nichts daran.

    insbesondere der an roland barthes semiologie anknüpfende romantitel wird an der einzigen stelle des chats ausgesprochen, an der senthil über die geschichte der flucht seiner familie berichtet ( die zunahme der zeichen als stärker werdendes anzeichen der drohenden vernichtung durch die armee ) und dieser absatz mittwoch nacht ist der einzige, bei dem die verbindung abstürzt und den valmira nicht lesen wird. so schreibt varathurajah die semiologie als skeptiker fort : ohne übertragung der zeichen ist erkenntnis nicht möglich. oder: wer sich nicht zuhören kann, wird nichts erfahren. auch: ein buch allein ändert nichts –

    doch ohne diesen roman wäre es noch aussichtsloser.

    senthuran varatharajah: vor der zunahme der zeichen. roman. s fischer, frankfurt a m 2016. 256 s, 19,99€ (tb: fischer, f.a.m. 2018, 250s, 12€)

  • saša stanišić – herkunft

    saša stanišić – herkunft

    shortlist #4 – das buch ohne gattungsbezeichnung, ein eigensinniger text, roman autobiografie tagebuch und ein erzähltes spiel. saša stanišić hat mit herkunft ein unaufgeregt radikales buch geschrieben, um für sich selbst herauszufinden, als kriegsgeflohener aus dem heutigen bosnien, als in deutschland neustartender, als kaum zurückblickender, was herkunft ist war wäre bedeutet bedeuten könnte – radikal deshalb, weil stanišić immer nur erzählt, nie erklärt.

    herkunft ist ein ganz und gar nicht deutsches buch, und dies ist ausschließlich geistesgeschichtlich gemeint : ein in deutschland sozialisierter autor hätte sich philosophisch mit der thematik und den sich immer neu öffnenden räumen ereignissen assoziationen begebenheiten aspekten begriffen etc genähert, es wäre eine mehr oder minder überzeugende theoretisch fundierte gelehrsam dozierende erkenntnisreich grübelnde besonnen anklagende abhandlung herausgekommen und in angemessener schwere als bedeutsames werk erschienen. sehr wahrscheinlich. aber zum glück ist saša stanišić erzähler mit einer großen portion osteuropäischer erzähltradition: die dinge erklären ist vielleicht ok aber unfassbar öde, sich geschichten zu erzählen macht viel mehr spaß.

    der begriff herkunft als titel ist klug gewählt, kein artikel kein pronomen so schafft er viel raum für narrationen diskurse dekonstruktionen. an herkunft und der mit oder ohne doppeltem boden gestellten frage woher kommst du klebt der politisch komplizierte begriff identität und das pathetische heimat – dabei ist herkunft erst einmal nur die frage nach der persönlichen geschichte: was ist dir widerfahren, was hast du erlebt, was hat dich geprägt? also erzählen wir es uns. und genau das macht herkunft so radikal: es ist konsequentes erzählen ohne deutungsvorgabe, storytelling, historytelling der eigenen persönlichen und familiengeschichte. die beiden zentralen figuren sind dabei saša selbst und seine in višegrad, sašas geburtsstadt lebende großmutter, die er während der entstehung des buches wiederholt besucht. bei ihr und bei anderen der gegend erfährt er seine familiengeschichten und es ist nicht immer ganz klar, was ist tatsächlich und was ist fiktion bzw wieso sollten das gegensätze sein:

    Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt –

    das buch besteht aus beinah unendlich vielen geschichten, aus višegrad aus heidelberg aus hamburg über bosnien über die flucht über das ankommen in deutschland über die sprachen über identitäten über seine großmutter und seinen in hamburg geborenen sohn – es sind zu viele, um sie zu behalten. dies der einzige wirkliche kritikpunkt: in der fülle verlieren sich die einzelnen teile.

    doch man wird aufgefangen und darf am ende die story der großmutter und saša selbst weiterspielen : im drachenhort wird gespielt. und genau deshalb ist herkunft ein großartiges buch : es stellt die fiktion ins zentrum und nimmt den tatsachen, den traurigen den furchtbaren den traumatischen den banalen den beleidigenden den erniedrigenden den grotesken den sinnlosen den rätselhaften, sich selbst und allen begriffen der herkunft die erdrückende schwere.

    saša stanišić: herkunft. luchterhand, münchen 2019. 360s, 22€.

    NACHTRAG

    die kritik stanišićs an der nobelpreisvergabe für handke teile ich absolut. handkes politische unterstützung für einen mörderischen serbischen nationalismus von seinem reisebericht über die grabrede für milošević und darüberhinaus ist von seiner literarischen arbeit – wie auch immer man zu dieser stehen mag – nicht zu trennen. umso wichtiger ist es daher, diese debatte als politische debatte zu führen und der ansicht des nobelkomitees zu widersprechen, handke vertrete einen grundlegend antinationalistischen standpunkt – genau das tut er gerade nicht. handke hat sich aus berechtigter kritik an der vereinfachten sicht- und darstellungsweise des jugoslawischen sezessionskrieges in mitteleuropa jedoch selbst auf die seite eines aggressiven nationalismus geschlagen, der wesentlich für den krieg und extreme verbrechen verantwortlich ist. diese eindeutige und bis heute von ihm nicht revidierte sicht ist eine implizite befürwortung der kriegsverbrechen und mit nichts zu rechtfertigen.

  • literatur der ddr (ausschnitt)

    literatur der ddr (ausschnitt)

    aus gegebenem anlass ein paar wenige doch bedeutende vorschläge zur lektüre von literatur des bis heute überschriebenen staates, überschrieben von deutungen aus gewinner- verlierer- verklärer- verdammer- despotischer trotziger ideologischer nationalistischer rassistischer perspektive was alles die ddr war und nicht war ob wahr oder nicht wahr bis hin zur verlogensten ost-eroberung als wende 2.0 und der westdeutschen selbstgefälligkeit, auf sachsen mit dem finger zu zeigen. es lohnt sich hingegen, sich dem land ddr aus literarischen künstlerischen perspektiven zu nähern, um die konflikte widersprüche irrealitäten ideologien und gewalten in ihren wirkungen und auswirkungen zu erfahren. nirgends besser als in der vielfältigen literatur (und im damaligen theater als die eigentliche opposition) lässt sich die mentalität des staates ddr erfahren.

    hier nun fünf vorschläge, die sich abseits bekannter autor*innen (wie zb christa wolf, christoph hein, volker braun, heiner müller, stefan heym, hermann kant) bewegen:

    • maxie wander – „guten morgen, du schöne“. frauen in der ddr. protokolle. buchverlag der morgen, berlin 1977. (westdeutsche lizenzausgabe: sammlung luchterhand 1979)

    Dies ist ein Buch, dem sich jeder selbst hinzufügt. schreibt christa wolf in ihrem vorwort. es ist das vermutlich wichtigste buch, das selbst keine literarische intention hat: in 17 lebensbeschreibungen von frauen zeichnet sich ein bild der ddr in enormer radikalität: Frauen, durch ihre Auseinandersetzung mit realen und belangvollen Erfahrungen gereift, signalisieren einen radikalen Anspruch, als ganzer Mensch zu leben, von allen Sinnen und Fähigkeiten Gebrauch zu machen.

    • ulrich plenzdorf – kein runter kein fern. erstausgabe suhrkamp, frankfurt a.m. 1984.

    das erstaunlichste an dieser formal außergewöhnlichen erzählung ist: plenzdorf erhielt für den text 1978 den ingeborg-bachmann-preis in klagenfurt. eine erzählung, die von den bekannten werken plenzdorfs (die legende von paul und paula, die leiden des jungen w.) leider vollkommen überdeckt wird.

    • hans-eckardt wenzel – lied vom wilden mohn. gedichte. mitteldeutscher verlag halle leipzig, 1984.

    Der wilde Mohn wächst nicht im Garten. in diesem scheinbar banalen vers steckt das ganze rebellische potential der späten ddr-kulturszene. wild und lebendig kann im eingehegten normierten hübsch anzusehenden kulturstaat ddr nichts gedeihen. einige der mit der kraft des sturm&drang geschriebenen gedichte hat wenzel zwei jahre später auf „stirb mir ein stück“ eingesungen.

    • adolf endler – tarzan am prenzlauer berg. reclam leipzig 1996.

    ein buch nach dem ende der ddr, doch gehen diese sudelblätter auf tagebuchaufzeichnungen von 1981-83 zurück. endler flaniert im ostberlin der 1980er jahre, sein spiel mit sprache, mit bedeutungen, mit kollegen und realitäten nennt er selbst phantasmagorische prosafragmente – in einem der eigentümlichsten literarischen biotope in deutschland des 20. jahrhunderts.

    • die übergangsgesellschaft. stücke der achtziger jahre aus der ddr. reclam leipzig 1989.

    während die staatsführung mit gorbatschows politik wenig anfangen konnte, interessierten sich die autor*innen und das theater umso mehr für den sich abzeichnenden wandel, im drama konnte unzweideutiger kritisch erzählt und bilanziert werden – ohne zu ahnen, dass der satz aus volker brauns komödie (!) die übergangsgesellschaft DIE BLEIBE, DIE ICH SUCHE, IST KEIN STAAT schon den einsetzenden abgesang bedeutete.

  • raphaela edelbauer – das flüssige land

    raphaela edelbauer – das flüssige land

    #2 der shortlist. skeptisch misstrauisch angepisst präsentiert sich raphalea edelbauer auf dem foto im einband – ganz im gegensatz zum auftritt in klagenfurt 2018, wo sie ausschnitte des romans vorstellte. hier nun ist es nicht mehr heiter, hier geht es düster zu, scheint sie nun zu sagen. der gesamte roman will vieles und kann einiges – vor allem sprachlich ist es ein herausragender text, der allerdings viel zu lang geraten ist. es liest sich, als hätte ein lektor verlangt, ausschweifender = erklärender behutsamer andiehandnehmender zu erzählen, um den leser*innen nicht zu viel zuzumuten, denn so ein roman soll doch in erster linie gute unterhaltung sein.

    im flüssigen land gerät die wiener physikerin ruth in eine raum-zeit-parallel-unwirklichkeit: groß-einland, die (n)irgendwo in den österreichischen bergen abgelegene ortschaft, ist der geburtsort ihrer eltern und weil sie diese dort auch beerdigen möchte, begibt sie sich unfreiwillig dorthin – und landet in der pittoresk-grotesken gemeinde, die auf einem riesigen unterirdischen loch steht. klar, dass es um geheimnisse in der dorfgemeinschaft und so ziemlich alles geht, was den spezifischen österreichischen eigensinnigen anti-heimat-roman ausmacht.

    da ist die wissenschaftlerin und ihre studie bzw habilitationsschrift zu theorien der zeit, eine variation auf den bernhardschen geistesmenschen. da ist der raubbau an der geliebten heimatnatur aus gründen der eigenen bereicherung. da ist die bestens konservierte k-u-k-mentalität, denn selbst wenn der gräfinnentitel nur erlogen ist, gilt er vorbehaltlos. da ist das dorf in seiner eigenbrötlerischen weltferne, so fern, dass das dorf nirgends verzeichnet ist. da ist das spiel mit kulissen und imitationen, was ist echt, was ist theater, wem kann man trauen und wer ist wie bösartig zu wem. und da ist die alles durchziehende psychologie, das riesige düstere bedrohliche loch und das verdrängen von erinnerungen – als wäre dies nicht die offensichtlichste aller symbolbedeutungen, wird es im roman dennoch mehrfach ausgesprochen.

    Der Hohlraum unter dem Parkett, dachte ich in unaufmerksamen Momenten. Ob diese Formulierung vielleicht auf das Verdrängte in ihrem Kopf hindeutete? (Kap. 12)

    Was man ins Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte. (Kap. 19)

    und konkret historisch gewendet, denn das loch ist schauplatz aller art von verbrechen, insbesondere zur ns-zeit, worauf sich auch der zentrale teil der handlung bzw ruths recherchen gründet:

    Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.

    dies ist der nucleus des romans, die frage nach schuld und verdrängung bis zum kitsch, und zur belebung wird er angereichert mit allerlei skurrilitäten und ruths familiengeschichte, was aber so recht nicht zünden mag, da die figur der ruth trotz aller beschreibungen nicht plastisch wird. einerseits steht sie dem dorf ausschließlich distanziert als fremde gegenüber, andererseits behauptet sie, ihre heimat gefunden und sich integriert zu haben, was aber zu keiner änderung ihrer distanziertheit führt. und schließlich berichtet sie das alles mit hoher akribik und wissenschaftlichkeit (und unnötigen theorie-einschüben zur zeit) und alles stets reflektierend, sich und alle anderen befragend, skeptisch, mürrisch, und beauftragt, ein füllmittel fürs loch zu finden. irrtümer, unwahrheiten, unzuverlässigkeiten kennzeichnen sie nicht – während die dorfbewohner von unwägbarkeiten übertrieben dargestellt sind.

    den roman wiederum kennzeichnet eine allzu detailreiche schilderung der ereignisse in einer vom endgültigen einsturz bedrohten gemeinde. doch die bedrohung von unten führt zu eigentlich nicht viel. die übermäßige wiederholung, dass es in groß-einland absonderlich und skurril zugehe, verschleppt das tempo nach starkem beginn immer weiter, selbst dann, als es auf einen showdown zusteuert, wird dieser im letzten moment aufgegeben – und ruth fährt einfach wieder nach hause. man wünscht sich, diese sprachliche begabung für sensationelle formulierungen wie bemannte kruzifixe und sätze wie Die Couch sickerte trüb in die Wohnzimmerwand und hinein in die gräuliche Wolkenstimmung des Frühnachmittags. wäre auf die struktur übertragbar, der roman auf die hälfte komprimiert worden, um die albtraumhafte unwirklichkeit keineswegs so deutlich und nachvollziehbar erklärt zu bekommen –

    doch so radikal können debüts heutzutage wohl einfach nicht sein für den deutschen buchmarkt, um in preisverdacht zu geraten. so bleibt ein roman mit hohem politischem anspruch und recht glatter widerstandsfreier viel zu breiter ausführung. bzw: Nichts, was im Unklaren verblieben wäre. schade eigentlich.

    raphaela edelbauer: das flüssige land. klett-cotta, stuttgart 2019. 350 s, 22€.

  • györgy konrád ( 1933 – 2019 )

    györgy konrád ( 1933 – 2019 )

    aus gegebenem anlass : mit der literatur von györgy konrád und der ungarischen literatur bin ich 1999 durch das gastland ungarn auf der frankfurter buchmesse in kontakt gekommen . unmittelbar vorher hatte ich die ausstellung ungarische kunst der 1990er jahre an der akademie der künste berlin gesehen die mich außerordentlich fasziniert hatte – konrád war eben zu dieser zeit der akademiepräsident . umso neugieriger also war ich auf die literatur aus einem land das zu ddr-zeiten eines der beliebtesten reiseländer war vorrangig mit ziel balaton wohin meine eltern dennoch nicht mit uns fuhren zu dem ich also keine besondere beziehung hatte und auch keine wirkliche vorstellung – bis eben 1999

    von den vielen büchern ungarischer autorinnen und autoren die ich damals las blieben mir nachhaltig péter nádas und györgy konrád im gedächtnis von konrád insbesondere der komplize ein außergewöhnlich kraftvoller lakonischer und schelmenhafter roman dessen ton mir vollkommen neu da unbekannt erschien sperrig wenig zur unterhaltung gemacht kein buch für irgendwie zwischendurch und für einen gemütlichen sonntag abend – dieser roman wollte etwas von mir klopfte sehr dringlich an und verlangte auseinandersetzung

    doch außer mir und ein paar feuilletonisten nahm zumindest in meiner germanistischen freiuniversitären westberliner umgebung niemand die ungarische literatur wahr niemand las konrád oder nádas oder dalos oder eszterházy oder die wunderbaren anthologien kettenbrücke bzw ungarn von montag bis freitag und so blieb ich mit ihnen mein eigener komplize im ungarn des westberliner jahres 1999

    erst in meinen slawonischen jahren näherte ich mich ungarn wieder ein bisschen gelang es mir sogar ungarisch zu lernen und mich nicht ganz verloren in dieser sehr besonderen sprache zu bewegen und vor allem eine vorstellung ihres klangs ihrer aussprache ihrer grammatikalisch-lexikalischen gelenkigkeit zu haben – ohne jedoch der vorstellung zu erliegen konrád auch dereinst im original zu lesen ein buch wie der stadtgründer ist schon im deutschen eine extremerfahrung der man sich unbedingt eines tages aussetzen sollte

    konráds literatur insbesondere der von vor 1989 ist – ebenso wie die von péter nádas – mit nichts vergleichbar was ich bislang gelesen habe weder im ton noch in den themen seine romane sind sperrig knorrig äußerst eigenwillig klug und mutig und komisch und niemals leicht und haben mein jahr 1999 dominiert wie nachfolgend kein literarisches gastland mehr

    nagyon köszönöm, konrád úr

  • fernanda melchor – saison der wirbelstürme

    fernanda melchor – saison der wirbelstürme

    in einer epoche, in der literatur vorrangig vermarktet wird als etwas wohliges angenehmes unterhaltsames voll bettlägeriger gemütlichkeit geradezu krankhaft frohsinnig harmloses – in einer solchen epoche der maximalverkitschung von literatur als wellnessentspannung erscheint fernanda melchors roman und der titel saison der wirbelstürme erhält eine poetologische konnotation und treibt vom kitsch infizierte kritiker*innen in die manikürte ekelpikiertheit. ihks, ist das schmutzig hier, sowas schreibt man doch nicht.

    doch, schreibt man bzw frau.

    dieses buch ist ein atemloses sprachliches kunstwerk. grandios, gnadenlos, grausam, grässlich brutal, eine einzige anklage an eine rohe, hoffnungslose, sich selbst ausbeutende, mitleidlose, rücksichtslose gesellschaft, die jegliche orientierung verloren hat. erzählt in einer sprachlich einzigartigen rohheit und wucht, und außergewöhnlich gut übersetzt von angelica ammar.

    in acht kapiteln ohne jeden absatz wird die ermordung einer als hexe bezeichneten ungewöhnlichen jungen frau aus verschiedenen figurenperspektiven nachvollzogen, ein stimmen- und sittenbild einer auf gewalt missgunst erniedrigungen und beleidigungen basierenden gesellschaft, die keine solidarität, kein mitgefühl, keine zärtlichkeit mehr kennt, nach dem sich alle figuren sehnen, dafür ein rohes zynisches verachtendes amüsement.

    Mieses Flittchen, widerliche Drecksau! Keiner hielt Brando zurück, als er sich auf die Frau stürzte und ihr einen Faustschlag ins Gesicht verpasste, alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich den Arsch abzulachen.

    dies ist der roman zusammengeführt in einer minimalen sentenz. da ist nichts zum gefallen, da ist nichts schönes, nicht ein funken licht denn jede hoffnung der figuren wird rigoros zunichte gemacht werden, sie zerstören sich selbst und wissen es nicht besser. es ist kein buch, das man gern liest – es ist pure literarische kraft.

    vergewaltigung, rücksichtslose grausamkeiten – das wahrscheinlich entsetzlichste kapitel ist das fünfte, die erzählung von norma, einer jungen frau, von ihrem onkel wiederholt vergewaltigt und geschwängert, die schließlich mit hilfe der „hexe“ ihr kind abtreibt und dafür erneut verachtung erntet – in den ausweglosen schilderungen und darstellungen ergibt sich ein hoffnungsloses panorama, an dessen ende ein mitleidloser tod steht, ein begräbnis als abfallverklappung: menschen oder was von ihnen übrig ist sind zu entsorgende biomasse.

    es sind die jungen, die kinder, die hauptpersonen sind keine 18 jahre, die diese erziehung zur grausamkeit der älteren erleiden, die sich wehren möchten mit allen mitteln ohne zu wissen wogegen, die ihr dasein in alkohol drogen und misshandlungen ersticken, denen gewalt und grobheit und verachtung alltag bedeutet, einen alltag, den sie selbst verachten ohne auch nur ansatzweise einen ausweg finden, anerkennung, gemeinschaft, zusammenhalt, es sei denn in der bandenkriminalität der drogenkartelle. und die sich doch nur wieder zerstören.

    von dort auch der romantitel: die saison der wirbelstürme, meteorologisch sowie sozial, kommt erst noch. die jungen werden sie aufziehen sehen und erzeugt haben. das chaos ist noch immer nicht da, trotz all diesem leid: dies ist melchors anklage an das mexico der gegenwart.

    es ist ein vollkommen trostloser gewaltiger wuchtiger sensationeller roman, der jeden seiner preise zu recht erhalten hat und wird. ein buch definitiv nicht zum wohlfühlen, sondern ein grandioses stück literatur.

    fernanda melchor: saison der wirbelstürme. roman. wagenbach, berlin 2019, 240 seiten, 22€.