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  • norbert scheuer – winterbienen

    norbert scheuer – winterbienen

    nun habe ich einen monat keine neue rezension online gestellt ein wenig aus protest und gröberer enttäuschung und leichterem entsetzen vor einem literaturbetrieb, der allen ernstes dieses buch in die finale auswahl #shortlist einer der bestdotierten literaturpreise des landes aufgenommen hat, denn was sagt es über die deutschsprachige literatur aus, wenn ein derart naives biederes selbstgefälliges romänchen als mögliches aushängeschild um internationale aufmerksamkeit werben soll –

    norbert scheuer, dessen romane schon mehrfach auf shortlists zu buchpreisen standen, ist ein in der westeiffel beheimateter autor, seine romane spielen auch größtenteils in dieser region, so auch winterbienen. es geht kurz gefasst um egidius arimond, ehemaliger lehrer, im letzten jahr des zweiten weltkrieges, der sich im wesentlichen mit seiner bienenzucht und übersetzungen aus dem lateinischen beschäftigt, um seine illegal besorgten medikamente gegen epliepsie zu finanzieren betätigt er sich zudem als schleuser im deutsch-belgischen grenzgebiet und hat affären mit allerhand frauen, so auch der frau des kreisleiters, was alles ziemlich gefährlich ist und zudem noch durch fliegerangriffe der britischen armee verstärkt wird. das kompositorische material des auf wahren begebenheiten beruhenden stoffes ist also enorm – die bearbeitung scheuers zum roman ist allerdings völlig ziellos und ohne jeden fokus auf die figuren.

    nicht allein, dass die form des tagebuches, in dem alle taten und gedanken säuberlich festgehalten sind und das meist offen in der stadtbibliothek herumliegt, je irgendwo befragt würde – ein blick der nazibibliothekarin hinein und egidius wäre umgehend geliefert – nein, von heimlich- oder bedrohlichkeit keine spur. bei egidius bzw scheuer steht alles sehr gleichberechtigt nebeneinander als ob es keinen unterschied machte mit wessen frau er schläft, ob seine geschleusten flüchtlinge die tour in seinen präparierten bienenkörben überleben oder dabei draufgehen, was der benediktinermönch ambrosius und urahn der bienenzüchter zur welt der bienen zu sagen hatte, welche fronterfolge sein bruder als pilot der ns-luftwaffe mal wieder feiert, dass es mit fortschreitendem krieg zunehmend schwieriger wird medikamente zu bekommen, wie das wetter ist und was man technisch über die britischen bomber wissen sollte, letztere sind auch immer hübsch ins buch hineingezeichnet. vom sohn des autors, der allen ernstes erasmus heißt, wie der autor stolz im selbstverfassten nachwort angibt. egidius sei eine ambivalente figur, betonte die rezensionsfachpresse dazu. das kann man wohlwollend so sehen.

    man kann aber auch feststellen, dass die figur nicht ausgearbeitet ist und der hoffnung anheim gegeben wurde, all die sonderbaren und widersprüchlichen handlungen erzeugen von sich aus genügend charakterschärfe. mitnichten. denn die vorhandenen und potentiell interessanten motive werden entweder kaum literarisch entwickelt – etwa den grotesken widerspruch, dass er die fliehenden menschen, zumeist juden, primär als nützliches material ansieht, um sich selbst am leben zu erhalten, da er für die bezahlung seiner schleuserdienste die medikamente für seine epilepsie besorgen kann, denn epilepsie ist aus sicht der nazis eine lebensunwerte erbkrankheit die vernichtet gehört. oder aber dass für ihn die wirklich wichtigen lebenwesen seine bienen sind, um die er sich beinah mütterlich kümmert, während ihm die schicksale seiner menschentransporte, so grausam sie auch sein mögen, keinerlei emotionen hervorlocken. oder die wertfreie gleichzeitigkeit von freude über seinen erfolgreich kämpfenden nazibruderpilot und die beinah schon liebevoll beschriebenen britischen und amerikanischen kampfflugzeuge, die zunehmend auch seine stadt angreifen. das steht alles sehr kommentarlos im roman ebenso wie die seitenlangen lateinübersetzungen von ambrosius, die eine zusätzliche textebene schlicht behauptet, ohne dass es irgendetwas tatsächlich hinzufügt, es sei denn man hat besonderes historisches interesse am thema bienen. und nicht zu vergessen, dass egidius schließlich doch an die ss verpfiffen und drei wochen gefoltert wird – in einem roman, wo die figur seitenlang über bienen und flugzeuge und frauen reden kann, gibt es nun eine riesige lücke des schweigens, ja nicht einmal der versuch einer reflektion sehr wahrscheinlich traumatischer erlebnisse wird unternommen, nichts, es hat eben stattgefunden und nun wieder bienen. man weiß nicht, ob das eine bewusste aussparung sein soll, das auf ein aktives verdrängen des schlechten verweist, oder doch nur ein weiteres unbearbeitetes element, da im original an dieser stelle eben auch nichts dazu gesagt wurde.

    gen ende des romans und auch des jahres 1944, als die medikamente ausgehen und alles unweigerlich auf das kriegsende verweist und damit erneut auf die deutsche nachkriegserzählung der stunde null, da blitzt unabsichtlich beinah die möglichkeit auf, die dem text tiefe hätte geben können: denn natürlich ist mit dem kriegsende der versorgungsmangel und die politisch-ideologische aufarbeitung keineswegs abgeschlossen, sondern würde sich im gegenteil zusätzlich verstärken. was also hätte der roman entfalten können, würde man ihn nach kriegsende erzählt haben: ideologische neusortierungen, rechtfertigungen, prahlereien, verschweigen, vertuschungen etc – doch scheuer hält sich an sein originalmaterial und lässt egidius noch vor kriegsende auf eine miene treten, um sich im nachwort selbst als autor mit „überbordender phantasie“ zu feiern.

    besonders hellhörig sollte zudem der einstieg in des autors nachwort machen, denn er wolle mit dem roman der region „gerechtigkeit widerfahren“ lassen – welche art gerechtigkeit ist damit gemeint bzw welche ungerechtigkeit? dass es in der nazizeit doch auch „gute“ menschen gegeben habe, nämlich fluchthelfer aus egoistischem interesse? von solcherart „ambivalenzen“, die das buch und sein autor sehr freimütig ausstellen, ist winterbienen voll und führt letztlich zu keiner neuen erkenntnis. außer dass sich der autor selbst ganz toll findet im literarischen aufarbeiten historischen materials. doch da ist ihm unbedingt zu widersprechen.

    und ebenso einem literaturbetrieb, der ein bloßes nebeneinander unausgearbeiteter motive als preiswürdige ambivalenz bzw äußerste nähe von zeichen und konkreter realität honoriert.

    norbert scheuer: winterbienen. roman. c.h.beck, münchen 2019, 319s, 22€.

  • saša stanišić – herkunft

    saša stanišić – herkunft

    shortlist #4 – das buch ohne gattungsbezeichnung, ein eigensinniger text, roman autobiografie tagebuch und ein erzähltes spiel. saša stanišić hat mit herkunft ein unaufgeregt radikales buch geschrieben, um für sich selbst herauszufinden, als kriegsgeflohener aus dem heutigen bosnien, als in deutschland neustartender, als kaum zurückblickender, was herkunft ist war wäre bedeutet bedeuten könnte – radikal deshalb, weil stanišić immer nur erzählt, nie erklärt.

    herkunft ist ein ganz und gar nicht deutsches buch, und dies ist ausschließlich geistesgeschichtlich gemeint : ein in deutschland sozialisierter autor hätte sich philosophisch mit der thematik und den sich immer neu öffnenden räumen ereignissen assoziationen begebenheiten aspekten begriffen etc genähert, es wäre eine mehr oder minder überzeugende theoretisch fundierte gelehrsam dozierende erkenntnisreich grübelnde besonnen anklagende abhandlung herausgekommen und in angemessener schwere als bedeutsames werk erschienen. sehr wahrscheinlich. aber zum glück ist saša stanišić erzähler mit einer großen portion osteuropäischer erzähltradition: die dinge erklären ist vielleicht ok aber unfassbar öde, sich geschichten zu erzählen macht viel mehr spaß.

    der begriff herkunft als titel ist klug gewählt, kein artikel kein pronomen so schafft er viel raum für narrationen diskurse dekonstruktionen. an herkunft und der mit oder ohne doppeltem boden gestellten frage woher kommst du klebt der politisch komplizierte begriff identität und das pathetische heimat – dabei ist herkunft erst einmal nur die frage nach der persönlichen geschichte: was ist dir widerfahren, was hast du erlebt, was hat dich geprägt? also erzählen wir es uns. und genau das macht herkunft so radikal: es ist konsequentes erzählen ohne deutungsvorgabe, storytelling, historytelling der eigenen persönlichen und familiengeschichte. die beiden zentralen figuren sind dabei saša selbst und seine in višegrad, sašas geburtsstadt lebende großmutter, die er während der entstehung des buches wiederholt besucht. bei ihr und bei anderen der gegend erfährt er seine familiengeschichten und es ist nicht immer ganz klar, was ist tatsächlich und was ist fiktion bzw wieso sollten das gegensätze sein:

    Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt –

    das buch besteht aus beinah unendlich vielen geschichten, aus višegrad aus heidelberg aus hamburg über bosnien über die flucht über das ankommen in deutschland über die sprachen über identitäten über seine großmutter und seinen in hamburg geborenen sohn – es sind zu viele, um sie zu behalten. dies der einzige wirkliche kritikpunkt: in der fülle verlieren sich die einzelnen teile.

    doch man wird aufgefangen und darf am ende die story der großmutter und saša selbst weiterspielen : im drachenhort wird gespielt. und genau deshalb ist herkunft ein großartiges buch : es stellt die fiktion ins zentrum und nimmt den tatsachen, den traurigen den furchtbaren den traumatischen den banalen den beleidigenden den erniedrigenden den grotesken den sinnlosen den rätselhaften, sich selbst und allen begriffen der herkunft die erdrückende schwere.

    saša stanišić: herkunft. luchterhand, münchen 2019. 360s, 22€.

    NACHTRAG

    die kritik stanišićs an der nobelpreisvergabe für handke teile ich absolut. handkes politische unterstützung für einen mörderischen serbischen nationalismus von seinem reisebericht über die grabrede für milošević und darüberhinaus ist von seiner literarischen arbeit – wie auch immer man zu dieser stehen mag – nicht zu trennen. umso wichtiger ist es daher, diese debatte als politische debatte zu führen und der ansicht des nobelkomitees zu widersprechen, handke vertrete einen grundlegend antinationalistischen standpunkt – genau das tut er gerade nicht. handke hat sich aus berechtigter kritik an der vereinfachten sicht- und darstellungsweise des jugoslawischen sezessionskrieges in mitteleuropa jedoch selbst auf die seite eines aggressiven nationalismus geschlagen, der wesentlich für den krieg und extreme verbrechen verantwortlich ist. diese eindeutige und bis heute von ihm nicht revidierte sicht ist eine implizite befürwortung der kriegsverbrechen und mit nichts zu rechtfertigen.

  • tonio schachinger – nicht wie ihr

    tonio schachinger – nicht wie ihr

    shortlist #3 – der exot, der unerwartete, die überraschung, beinah. tonio schachinger ist mit seinem debüt nicht wie ihr das buch gelungen, von dem man wohl nicht angenommen hätte, dass es eine so breite öffentlichkeit wie den deutschen buchpreis finden könnte, zumal auf der shortlist : publiziert in einem im deutschen sprachraum eher unbekannten independent-verlag aus wien, eine explizit das hochdeutsch schmähende sprache voller austriazismen, ein fußball-roman und dann noch aus österreich – und das insgesamt sehr souverän. es könnte also ein wirklich grandioses buch sein, wenn jedoch – tja – verkackt – denn die story ist einfach fad.

    nicht wie ihr ist ein, hmpf, jungsbuch im mehr so gewöhnlichen sinn. es geht ziemlich viel um fußball und um geld und um autos und um sex. der erfolgreiche fußballspieler ivo trifunovic ( eine nette parodie auf marko arnautovic ) hat so seine sportlichen problemchen, denkt quasi rund um die uhr an sex, ist verheiratet mit einer frau jenny, mit der er ein kind hat und die er nicht mehr so recht mag, ist aber schwer verliebt in eine frau mirna, die er von früher kennt und mit der er jetzt eine affäre hat und die sich hin und wieder nachrichten schreiben. so. gelegentlich gibt es äußerst komische passagen, etwa wenn der hsv amtlich gedisst wird ( und welcher deutsche verein verdient es nicht mehr als der hsv, in einem österreichischen fußballbuch verspottet zu werden ) oder ivo mit den identitäten als wiener, bosnier, jugoslawe spielt – doch zum allergrößten teil geht es um die liebesherzsexleidensgeschichte eines stinkreichen fußballschnösels – nach 28 von 48 kapiteln hatte ich so dermaßen keinen bock mehr drauf das interesse daran verloren, dass ich mir einen stillen litauischen film ansah.

    es gibt eine fast völlig übersehene initiative, die dem europäischen film außerhalb seiner jeweiligen landesgrenzen mehr aufmerksamkeit verschaffen will, indem die filme auf den relevanten streamingportalen anschaubar sind. walk this way heißt diese seit 2015 existierende initiative und gestern sah ich den großartigen intensiven berührenden film mellow mud bzw sanfter schlamm.

    er zeigt in kühlen berührenden bildern die 17jährige raya in ihrer kargen schlammigen tristen umgebung, von ihrer mutter verlassen ( der vater ist vermutlich tot ) und die nun mit ihrem jüngeren bruder und der griesgrämigen großmutter in einem abgelegenen verschuldeten hof auf dem litauischen land lebt. ein coming-of-age-film in konsequenter perspektive seiner hauptfigur, die nach dem unerwarteten tod der oma in die mutterrolle gedrängt wird, auch um nicht im jugendheim zu landen. der film entwirft ein sich stetig entwickelndes panorama der hoffnungen erwartungen enttäuschungen rückschläge von raya, die als alleinerziehende schülerin damit beschäftigt ist, nicht an überforderung zu verzweifeln, zur geliebten ihres englischlehrers wird und schließlich in london ihre in ein besseres leben geflohene mutter zurückzuholen versucht.

    der stille, effektlose, herausragende film aus dem so gut wie nie in den blickwinkel geratenen filmland litauen ist das debüt des regisseurs renārs vimba und der hauptdarstellerin elīna vaska – und ist so ziemlich in allem das gegenteil von schachingers roman. kein übersättigter fußball sondern europäische kargheit, keine männlich selbstgefällige geschwätzigkeit, sondern äußerst sparsame dialoge, deren worte umso mehr gewicht haben. zwar erhielt der film auf der berlinale 2016 den silbernen bären – aber lief nie im kino hierzulande, nicht einmal in den auf besondere filme spezialisierten programmkinos. und in den online-angeboten der portale muss man ein bisschen sehr lange suchen, um eine perle wie sanfter schlamm ( OmU ) zu finden.

    wer sich für unabhängiges exquisites außergewöhnliches europäisches kino auch und insbesondere aus weniger präsenten ländern interessieren möchte, ist bei walk this way schon mal nicht falsch. und es ist äußerst schade, dass es für das europäische kino zwar einen europäischen filmpreis gibt, der aber sowieso noch einmal prämiert, was schon vorher erfolgreich war und damit nicht unbedingt zu entdeckungen einlädt. das marktliberale narrativ vom sich eh irgendwann durchsetzenden qualitativ guten ist im künstlerischen bereich mit zynischem beigeschmack.

    auch beim deutschen buchpreis halten sich die entdeckungen nunmal in engen grenzen. nicht wie ihr, trotz eigentlich guter außenseiterchancen, passt sich da halt gefällig ins maue gesamtbild.

    tonio schachinger: nicht wie ihr. kremayr & scheriau, wien 2019. 304 s. 22,90€

  • literatur der ddr (ausschnitt)

    literatur der ddr (ausschnitt)

    aus gegebenem anlass ein paar wenige doch bedeutende vorschläge zur lektüre von literatur des bis heute überschriebenen staates, überschrieben von deutungen aus gewinner- verlierer- verklärer- verdammer- despotischer trotziger ideologischer nationalistischer rassistischer perspektive was alles die ddr war und nicht war ob wahr oder nicht wahr bis hin zur verlogensten ost-eroberung als wende 2.0 und der westdeutschen selbstgefälligkeit, auf sachsen mit dem finger zu zeigen. es lohnt sich hingegen, sich dem land ddr aus literarischen künstlerischen perspektiven zu nähern, um die konflikte widersprüche irrealitäten ideologien und gewalten in ihren wirkungen und auswirkungen zu erfahren. nirgends besser als in der vielfältigen literatur (und im damaligen theater als die eigentliche opposition) lässt sich die mentalität des staates ddr erfahren.

    hier nun fünf vorschläge, die sich abseits bekannter autor*innen (wie zb christa wolf, christoph hein, volker braun, heiner müller, stefan heym, hermann kant) bewegen:

    • maxie wander – „guten morgen, du schöne“. frauen in der ddr. protokolle. buchverlag der morgen, berlin 1977. (westdeutsche lizenzausgabe: sammlung luchterhand 1979)

    Dies ist ein Buch, dem sich jeder selbst hinzufügt. schreibt christa wolf in ihrem vorwort. es ist das vermutlich wichtigste buch, das selbst keine literarische intention hat: in 17 lebensbeschreibungen von frauen zeichnet sich ein bild der ddr in enormer radikalität: Frauen, durch ihre Auseinandersetzung mit realen und belangvollen Erfahrungen gereift, signalisieren einen radikalen Anspruch, als ganzer Mensch zu leben, von allen Sinnen und Fähigkeiten Gebrauch zu machen.

    • ulrich plenzdorf – kein runter kein fern. erstausgabe suhrkamp, frankfurt a.m. 1984.

    das erstaunlichste an dieser formal außergewöhnlichen erzählung ist: plenzdorf erhielt für den text 1978 den ingeborg-bachmann-preis in klagenfurt. eine erzählung, die von den bekannten werken plenzdorfs (die legende von paul und paula, die leiden des jungen w.) leider vollkommen überdeckt wird.

    • hans-eckardt wenzel – lied vom wilden mohn. gedichte. mitteldeutscher verlag halle leipzig, 1984.

    Der wilde Mohn wächst nicht im Garten. in diesem scheinbar banalen vers steckt das ganze rebellische potential der späten ddr-kulturszene. wild und lebendig kann im eingehegten normierten hübsch anzusehenden kulturstaat ddr nichts gedeihen. einige der mit der kraft des sturm&drang geschriebenen gedichte hat wenzel zwei jahre später auf „stirb mir ein stück“ eingesungen.

    • adolf endler – tarzan am prenzlauer berg. reclam leipzig 1996.

    ein buch nach dem ende der ddr, doch gehen diese sudelblätter auf tagebuchaufzeichnungen von 1981-83 zurück. endler flaniert im ostberlin der 1980er jahre, sein spiel mit sprache, mit bedeutungen, mit kollegen und realitäten nennt er selbst phantasmagorische prosafragmente – in einem der eigentümlichsten literarischen biotope in deutschland des 20. jahrhunderts.

    • die übergangsgesellschaft. stücke der achtziger jahre aus der ddr. reclam leipzig 1989.

    während die staatsführung mit gorbatschows politik wenig anfangen konnte, interessierten sich die autor*innen und das theater umso mehr für den sich abzeichnenden wandel, im drama konnte unzweideutiger kritisch erzählt und bilanziert werden – ohne zu ahnen, dass der satz aus volker brauns komödie (!) die übergangsgesellschaft DIE BLEIBE, DIE ICH SUCHE, IST KEIN STAAT schon den einsetzenden abgesang bedeutete.

  • raphaela edelbauer – das flüssige land

    raphaela edelbauer – das flüssige land

    #2 der shortlist. skeptisch misstrauisch angepisst präsentiert sich raphalea edelbauer auf dem foto im einband – ganz im gegensatz zum auftritt in klagenfurt 2018, wo sie ausschnitte des romans vorstellte. hier nun ist es nicht mehr heiter, hier geht es düster zu, scheint sie nun zu sagen. der gesamte roman will vieles und kann einiges – vor allem sprachlich ist es ein herausragender text, der allerdings viel zu lang geraten ist. es liest sich, als hätte ein lektor verlangt, ausschweifender = erklärender behutsamer andiehandnehmender zu erzählen, um den leser*innen nicht zu viel zuzumuten, denn so ein roman soll doch in erster linie gute unterhaltung sein.

    im flüssigen land gerät die wiener physikerin ruth in eine raum-zeit-parallel-unwirklichkeit: groß-einland, die (n)irgendwo in den österreichischen bergen abgelegene ortschaft, ist der geburtsort ihrer eltern und weil sie diese dort auch beerdigen möchte, begibt sie sich unfreiwillig dorthin – und landet in der pittoresk-grotesken gemeinde, die auf einem riesigen unterirdischen loch steht. klar, dass es um geheimnisse in der dorfgemeinschaft und so ziemlich alles geht, was den spezifischen österreichischen eigensinnigen anti-heimat-roman ausmacht.

    da ist die wissenschaftlerin und ihre studie bzw habilitationsschrift zu theorien der zeit, eine variation auf den bernhardschen geistesmenschen. da ist der raubbau an der geliebten heimatnatur aus gründen der eigenen bereicherung. da ist die bestens konservierte k-u-k-mentalität, denn selbst wenn der gräfinnentitel nur erlogen ist, gilt er vorbehaltlos. da ist das dorf in seiner eigenbrötlerischen weltferne, so fern, dass das dorf nirgends verzeichnet ist. da ist das spiel mit kulissen und imitationen, was ist echt, was ist theater, wem kann man trauen und wer ist wie bösartig zu wem. und da ist die alles durchziehende psychologie, das riesige düstere bedrohliche loch und das verdrängen von erinnerungen – als wäre dies nicht die offensichtlichste aller symbolbedeutungen, wird es im roman dennoch mehrfach ausgesprochen.

    Der Hohlraum unter dem Parkett, dachte ich in unaufmerksamen Momenten. Ob diese Formulierung vielleicht auf das Verdrängte in ihrem Kopf hindeutete? (Kap. 12)

    Was man ins Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte. (Kap. 19)

    und konkret historisch gewendet, denn das loch ist schauplatz aller art von verbrechen, insbesondere zur ns-zeit, worauf sich auch der zentrale teil der handlung bzw ruths recherchen gründet:

    Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.

    dies ist der nucleus des romans, die frage nach schuld und verdrängung bis zum kitsch, und zur belebung wird er angereichert mit allerlei skurrilitäten und ruths familiengeschichte, was aber so recht nicht zünden mag, da die figur der ruth trotz aller beschreibungen nicht plastisch wird. einerseits steht sie dem dorf ausschließlich distanziert als fremde gegenüber, andererseits behauptet sie, ihre heimat gefunden und sich integriert zu haben, was aber zu keiner änderung ihrer distanziertheit führt. und schließlich berichtet sie das alles mit hoher akribik und wissenschaftlichkeit (und unnötigen theorie-einschüben zur zeit) und alles stets reflektierend, sich und alle anderen befragend, skeptisch, mürrisch, und beauftragt, ein füllmittel fürs loch zu finden. irrtümer, unwahrheiten, unzuverlässigkeiten kennzeichnen sie nicht – während die dorfbewohner von unwägbarkeiten übertrieben dargestellt sind.

    den roman wiederum kennzeichnet eine allzu detailreiche schilderung der ereignisse in einer vom endgültigen einsturz bedrohten gemeinde. doch die bedrohung von unten führt zu eigentlich nicht viel. die übermäßige wiederholung, dass es in groß-einland absonderlich und skurril zugehe, verschleppt das tempo nach starkem beginn immer weiter, selbst dann, als es auf einen showdown zusteuert, wird dieser im letzten moment aufgegeben – und ruth fährt einfach wieder nach hause. man wünscht sich, diese sprachliche begabung für sensationelle formulierungen wie bemannte kruzifixe und sätze wie Die Couch sickerte trüb in die Wohnzimmerwand und hinein in die gräuliche Wolkenstimmung des Frühnachmittags. wäre auf die struktur übertragbar, der roman auf die hälfte komprimiert worden, um die albtraumhafte unwirklichkeit keineswegs so deutlich und nachvollziehbar erklärt zu bekommen –

    doch so radikal können debüts heutzutage wohl einfach nicht sein für den deutschen buchmarkt, um in preisverdacht zu geraten. so bleibt ein roman mit hohem politischem anspruch und recht glatter widerstandsfreier viel zu breiter ausführung. bzw: Nichts, was im Unklaren verblieben wäre. schade eigentlich.

    raphaela edelbauer: das flüssige land. klett-cotta, stuttgart 2019. 350 s, 22€.

  • miku sophie kühmel – kintsugi

    miku sophie kühmel – kintsugi

    buch #2 der longlist zum deutschen buchpreis ist buch #1 der shortlist. um es vorweg zu sagen: kintsugi von miku sophie kühmel ist kein schlechtes buch. als debüt ist es von beachtlicher intensität und mit ungewöhnlichem personal bestückt für eine familiengeschichte. als möglicher „roman des jahres“ und bereits jürgen-ponto-preisträgerin 2019 erhält ein buch überproportionale aufmerksamkeit, das zwar gut, aber keineswegs herausragend ist. nur zum verständnis: dies ist keine anmerkung aus neid oder missgunst, dies ist viel mehr eine anmerkung zum literaturbegriff des deutschen literaturbetriebs. wie es beim buchpreis heißt:

    Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.

    es geht um aufmerksamkeit – also publikum – also verkaufszahlen, weshalb der preis von repräsentant*innen des betriebs vergeben wird, autor*innen, kritiker*innen, händler, möglichst breit angelegt, möglichst konsensfähig. literatur als sprachliches künstlerisches kritisches kontroverses medium – davon liest man auf der selbstbeschreibung des buchpreises nichts. die kritik ist nicht neu doch immer wieder notwendig: dem buchpreis geht es nicht um literatur sondern ausschließlich um das medium buch als träger belletristischer unterhaltung, es ist kein literaturpreis sondern ein verkäuflichkeitspreis, auch wenn er sich literarisch gebärdet.

    betrachtet man die begründung der shortlist, wird der publikumswirksame gegenwartsroman zum soziologischen projekt:

    Diese Altersstruktur rückt zwangsläufig Themen in den Vordergrund, die in der deutschen Literatur relativ neu sind: In allen nominierten Romanen gehe es „um den Ort der globalen Welt, von dem aus das eigene Dasein zu begreifen ist“, schreibt der Jury-Sprecher Jörg Magenau. Vor allem die Identität des Mannes sei problematisch geworden. Vielleicht habe der Generationswechsel damit zu tun, „dass die Jüngeren bei diesen Themen schärfer hinschauen“, so Magenau. In der Zusammensetzung der Liste wird außerdem die Ambition erkennbar, die literarische Landschaft in Deutschland in ihrer Gesamtheit abzubilden.

    es sind ausschließlich inhaltliche kriterien, identität, globale herkunft, ein querschnitt durch die land-/gesellschaft. nur in diesem kontext erhält „kintsugi“ kontur, kann „kintsugi“ von größerem interesse sein : als baustein einer nach soziologischen gesichtspunkten, rein inhaltlich ausgerichteten literaturwahrnehmung – eine extreme beschneidung der chancen und risiken und möglichkeiten von literatur.

    denn so funktionieren jurys derzeit. anstelle etwas auszusuchen, das manche lieben und andere verachten, ignorieren, nicht einverstanden sind, werden eher langweilige, konsensfähige sachen prämiert, denn damit macht man nichts falsch bzw eigentlich alles. zugespitzt: literatur (hier: metynomie für genreferne belletristische prosa in romangestalt) prämiert seine markttauglichkeit. ausnahmen wie frank witzel bestätigen wie immer etc.

    lässt man die buchpreis-begründung einmal beiseite, bleibt mit „kintsugi“ eine familien-/liebesgeschichte mit ungewöhnlichem personal (das schwule pärchen max und reik, die coming-out-liebe tonio und dessen 20jährige tochter pega), angesiedelt in der eher exklusiven akademischen welt, max architektur-professor mit tee-/japan-fimmel, reik erfolgreicher künstler, tonio freiwilliger barpianist, pega psychologie-studentin. und eigentlich geht es doch „nur“ um die liebe und beziehungen, trennungen, vertrauen, misstrauen, sex und was der gekitteten beziehungsbrüche (daher der romantitel) mehr sind. das haus am uckermärkischen see, in dem der roman ausschließlich spielt, wird nur in übermäßig ausführlichen rückblicken und zu kleinen spaziergängen verlassen – es ist ein kammerspiel im stil edward albees „wer hat angst vor virginia wolf?“, und vermutlich wäre es als theatertext auch interessanter da deutlich stringenter.

    so wird die geschichte in ihrer lückenlosen, raumgreifenden, raumverdeckenden und adjektivüberladenen sprache eher erstickt als freigesetzt: er ist schlicht ziemlich langweilig. der japanische überbau, von max in die geschichte getragen, mit titel, kapitelüberschriften, immer mal wieder zerbrechenden und geklebten teeservices ist ein überdeutliches breittreten einer vllt charmanten wenn auch auch nicht exklusiven metapher. es wäre um einiges interessanter, wenn max seinen japanfimmel nicht durch tatsächliche reisen sondern eher im stile eines karl may erfindend sich angeeignet hätte, so als wäre ihm zerbrochenes ikea-geschirr für seinen midlife-crisis-breakup nicht aussagekräftig elegant genug, als bräuchte er unbedingt exklusives original japan-prozellan zur einsicht. doch so verwegen ist „kintsugi“ nicht, die figuren meinen es leider ziemlich ernst mit sich. und weisen dabei kein bisschen über sich hinaus, es gibt keinen relevanten politischen, sozialen, gesellschaftlichen kontext im buch, es ist eine viel zu ausführliche kleine liebesgeschichte.

    das kann man lieben oder nicht – als möglicher roman des jahres ist es eine enorme überladung eines guten, doch keineswegs herausragenden romans. für die autorin ist es selbstredend fantastisch, wer wünschte seinen arbeiten nicht ebensolchen (besonders finanziellen) erfolg?

    doch sind deutlich bessere, engagiertere, literarischere, kontoversere texte auf der longlist verblieben. man sollte den preis definitiv in erster linie als prämierung einer konsensfähigkeit des lesepublikums verstehen, nicht aber als qualitätskriterium. was äußerst schade ist.

    miku sophie kühmel: kintsugi. roman. s.fischer, frankfurt a.m. 2019. 298s, 21€.

  • ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    buch #1 der long list zum deutschen buchpreis 2019 – und es ist eins das viel richtig machen möchte und dennoch bieder bleibt und damit ein äquivalent zum deutschen sonntags-tv-krimi darstellt. auch da ist schon in den ersten sekunden eine leiche und dann werden die hintergründe stück für stück enthüllt zwischen holzgeschnittenen figuren, politischen hintergrundfassaden und sehr viel allzumenschlichem und zum schluss gibts einen plottwist, der dann letztlich so überraschend schon nicht mehr ist und sowieso nur funktioniert, wenn man ihn nicht spoilert und den film nur einmal sieht bzw den roman nicht erneut liest.

    in ulrich woelks der sommer meiner mutter ist der 10jährige tobias im jahr 1969 von der bevorstehenden mondlandung fasziniert, die selbstverständlichkeiten der wirtschaftswunderspießigkeit prägen sein kölner vorortleben, das in ähnlich grauen tönen daherkommt wie das schwarzweißfernsehen und die mondoberfläche. der vater ist konservativer ingenieur, die mutter folgsame hausfrau ( sich nur dem sex verweigernd ) und der onkel war einst erfolgreicher nazikampfpilot und ist jetzt farb-tv-besitzer da zum erfolgreichen bauunternehmer aufgestiegen. tobias, dessen 50 jahre älteres ich diesen roman als bericht schreibt, steht veränderungen ängstlich entgegen und wird sich später auch mit den worten gegen seine mutter wenden, dass sie alles zerstört habe.

    in diese übersichtliche welt zieht eine kommunistische nachbarsfamilie mit weltläufigkeitsgeruch und alle drei leinhards vater mutter und tochter rosa werden in so grellen farben geschildert dass die konservativen rheinländer von den linkspolitisierten paradiesvögeln nicht mehr lassen können. was anfänglich nach clash of political cultures aussieht sich dann aber gebärdet wie eine folge frauentausch mit hang zum polittrash führt letztlich zum ersten sex von tobias und zur tragischen auflösung der familien, denn tobias mutter bringt sich um – die leiche von sekunde eins -, nachdem sie mit rosas mutter ihr coming out erlebte, tobias das unfreiwillig entdeckte und der vater seine „unnatürliche“ frau verließ – der plottwist. die höhepunkte des buches – rosa-tobias-sex, lesbischer sex, mondlandung = interstellarer tv-sex – hat woelk in eine nacht hineinkomponiert der dramatik wegen. beide schwer betrogenen männer schieben daraufhin ihre frauen ab, diese sind zu keiner solidarität in der lage, da rosas mutter kurzerhand auch wegzieht und mehr erfahren wir nicht, schließlich wendet sich ein überforderter tobias auch noch gegen seine mutter und beschuldigt sie des hochverrats an seiner familie und flieht ebenfalls vor ihr.

    es sind die männer, die wie karikaturen wirken durch das gesamte buch, der altnazi-kapitalist und der universitäts-kommunist finden bei der sportschau ihre freundschaft, die antikriegsproteste als alberne tv-kulisse, die raumfahrtbegeisterung in ermangelung einer modelleisenbahn – das könnte ein evtl interessantes porträt einer zeit werden aber alles gerät zu allgemeiner lächerlichkeit und das zentrum des romans ist es, die rakete zum mond zu bekommen bzw tobias endlich zum ersten sex. rosa selbst als 12jährige feministin Ist dir schon mal aufgefallen, dass in allen Geschichten die Helden immer Männer sind? Und was wenn Jesus eine Frau war? wirkt in diesem nach das kleine fernsehspiel anmutendem setting noch ein bisschen deplazierter als es diese ganzen summer of love requisiten jeans the doors make love not war zudem tun. komischerweise raucht keiner auch nur eine klitzkleine friedenspfeife, das ist woelk irgendwie durchgerutscht.

    es sind diese bücher alternder autoren über westdeutsche adoleszenzerfahrungen, die mir außer einer gewissen kritischen nostalgie nicht viel sagen. das buch möchte menschen in den mittelpunkt stellen und ist vorrangig technikfixiert mit (kinder-)erotischer komponente, schließlich ist woelk studierter astrophysiker und seine sprache ist entsprechend mehr berichtsprosa als sprachsuchend. der naive tobias hat zudem ständig angst, dass ihn die meilen überlegene rosa nur als kleinen nerdigen jungen anschaut, und er hat allen grund zu dieser annahme, denn tobias ist ein kleiner nerdiger junge und wird später als astrophysiker uns alles zur raumsonde rosetta erzählen was man wissen sollte oder auch nicht. die tragödie der mutter und seine eigene beschuldigung mit schlechtem gewissen hat er dabei offenbar bestens weggesteckt, wird so schlimm dann wohl nicht gewesen sein.

    es sind die themen sex / erotik / tod und technik / gesellschaft / politik und gender / feminismus / sexuelle selbstbestimmung die im sommer meiner mutter verhandelt werden auf eine sehr puppenspielhafte bis unverständliche weise, die „initiation“ des jungen tobias und wieder ein männlicher held ist dabei vollkommen unnötig :

    was eigentlich treibt autoren dazu ausführlich sexuelle handlungen zwischen kindern zu beschreiben ??

    denn es ist wesentlich bedeutsamer dass er vom coming out seiner mutter ihrer liebe zur nachbarin und dem enormen druck den sie die gesamte ehe über ausgehalten hat und dass sie schließlich unter der zurückweisung von ihrer familie als bestrafung zusammenbricht dass er von seiner mutter nicht nur so gut wie nichts wusste sondern auch seinen eigenen anteil an ihrer demütigung nicht wahrnahm – doch dieser frage stellt sich der roman nicht und es ist letztlich unklar, was diesen recht knappen mäßig unterhaltsamen bis störenden mäßig gelungenen roman auf die long list gehoben hat vielleicht hat ihn irgendeine erotisierte raumsonde günstig fallenlassen – egal, unwichtig, abspann.

    ulrich woelk: der sommer meiner mutter. roman. c h beck, münchen 2019. 189 seiten, 19,95€.

  • györgy konrád ( 1933 – 2019 )

    györgy konrád ( 1933 – 2019 )

    aus gegebenem anlass : mit der literatur von györgy konrád und der ungarischen literatur bin ich 1999 durch das gastland ungarn auf der frankfurter buchmesse in kontakt gekommen . unmittelbar vorher hatte ich die ausstellung ungarische kunst der 1990er jahre an der akademie der künste berlin gesehen die mich außerordentlich fasziniert hatte – konrád war eben zu dieser zeit der akademiepräsident . umso neugieriger also war ich auf die literatur aus einem land das zu ddr-zeiten eines der beliebtesten reiseländer war vorrangig mit ziel balaton wohin meine eltern dennoch nicht mit uns fuhren zu dem ich also keine besondere beziehung hatte und auch keine wirkliche vorstellung – bis eben 1999

    von den vielen büchern ungarischer autorinnen und autoren die ich damals las blieben mir nachhaltig péter nádas und györgy konrád im gedächtnis von konrád insbesondere der komplize ein außergewöhnlich kraftvoller lakonischer und schelmenhafter roman dessen ton mir vollkommen neu da unbekannt erschien sperrig wenig zur unterhaltung gemacht kein buch für irgendwie zwischendurch und für einen gemütlichen sonntag abend – dieser roman wollte etwas von mir klopfte sehr dringlich an und verlangte auseinandersetzung

    doch außer mir und ein paar feuilletonisten nahm zumindest in meiner germanistischen freiuniversitären westberliner umgebung niemand die ungarische literatur wahr niemand las konrád oder nádas oder dalos oder eszterházy oder die wunderbaren anthologien kettenbrücke bzw ungarn von montag bis freitag und so blieb ich mit ihnen mein eigener komplize im ungarn des westberliner jahres 1999

    erst in meinen slawonischen jahren näherte ich mich ungarn wieder ein bisschen gelang es mir sogar ungarisch zu lernen und mich nicht ganz verloren in dieser sehr besonderen sprache zu bewegen und vor allem eine vorstellung ihres klangs ihrer aussprache ihrer grammatikalisch-lexikalischen gelenkigkeit zu haben – ohne jedoch der vorstellung zu erliegen konrád auch dereinst im original zu lesen ein buch wie der stadtgründer ist schon im deutschen eine extremerfahrung der man sich unbedingt eines tages aussetzen sollte

    konráds literatur insbesondere der von vor 1989 ist – ebenso wie die von péter nádas – mit nichts vergleichbar was ich bislang gelesen habe weder im ton noch in den themen seine romane sind sperrig knorrig äußerst eigenwillig klug und mutig und komisch und niemals leicht und haben mein jahr 1999 dominiert wie nachfolgend kein literarisches gastland mehr

    nagyon köszönöm, konrád úr

  • fernanda melchor – saison der wirbelstürme

    fernanda melchor – saison der wirbelstürme

    in einer epoche, in der literatur vorrangig vermarktet wird als etwas wohliges angenehmes unterhaltsames voll bettlägeriger gemütlichkeit geradezu krankhaft frohsinnig harmloses – in einer solchen epoche der maximalverkitschung von literatur als wellnessentspannung erscheint fernanda melchors roman und der titel saison der wirbelstürme erhält eine poetologische konnotation und treibt vom kitsch infizierte kritiker*innen in die manikürte ekelpikiertheit. ihks, ist das schmutzig hier, sowas schreibt man doch nicht.

    doch, schreibt man bzw frau.

    dieses buch ist ein atemloses sprachliches kunstwerk. grandios, gnadenlos, grausam, grässlich brutal, eine einzige anklage an eine rohe, hoffnungslose, sich selbst ausbeutende, mitleidlose, rücksichtslose gesellschaft, die jegliche orientierung verloren hat. erzählt in einer sprachlich einzigartigen rohheit und wucht, und außergewöhnlich gut übersetzt von angelica ammar.

    in acht kapiteln ohne jeden absatz wird die ermordung einer als hexe bezeichneten ungewöhnlichen jungen frau aus verschiedenen figurenperspektiven nachvollzogen, ein stimmen- und sittenbild einer auf gewalt missgunst erniedrigungen und beleidigungen basierenden gesellschaft, die keine solidarität, kein mitgefühl, keine zärtlichkeit mehr kennt, nach dem sich alle figuren sehnen, dafür ein rohes zynisches verachtendes amüsement.

    Mieses Flittchen, widerliche Drecksau! Keiner hielt Brando zurück, als er sich auf die Frau stürzte und ihr einen Faustschlag ins Gesicht verpasste, alle waren zu sehr damit beschäftigt, sich den Arsch abzulachen.

    dies ist der roman zusammengeführt in einer minimalen sentenz. da ist nichts zum gefallen, da ist nichts schönes, nicht ein funken licht denn jede hoffnung der figuren wird rigoros zunichte gemacht werden, sie zerstören sich selbst und wissen es nicht besser. es ist kein buch, das man gern liest – es ist pure literarische kraft.

    vergewaltigung, rücksichtslose grausamkeiten – das wahrscheinlich entsetzlichste kapitel ist das fünfte, die erzählung von norma, einer jungen frau, von ihrem onkel wiederholt vergewaltigt und geschwängert, die schließlich mit hilfe der „hexe“ ihr kind abtreibt und dafür erneut verachtung erntet – in den ausweglosen schilderungen und darstellungen ergibt sich ein hoffnungsloses panorama, an dessen ende ein mitleidloser tod steht, ein begräbnis als abfallverklappung: menschen oder was von ihnen übrig ist sind zu entsorgende biomasse.

    es sind die jungen, die kinder, die hauptpersonen sind keine 18 jahre, die diese erziehung zur grausamkeit der älteren erleiden, die sich wehren möchten mit allen mitteln ohne zu wissen wogegen, die ihr dasein in alkohol drogen und misshandlungen ersticken, denen gewalt und grobheit und verachtung alltag bedeutet, einen alltag, den sie selbst verachten ohne auch nur ansatzweise einen ausweg finden, anerkennung, gemeinschaft, zusammenhalt, es sei denn in der bandenkriminalität der drogenkartelle. und die sich doch nur wieder zerstören.

    von dort auch der romantitel: die saison der wirbelstürme, meteorologisch sowie sozial, kommt erst noch. die jungen werden sie aufziehen sehen und erzeugt haben. das chaos ist noch immer nicht da, trotz all diesem leid: dies ist melchors anklage an das mexico der gegenwart.

    es ist ein vollkommen trostloser gewaltiger wuchtiger sensationeller roman, der jeden seiner preise zu recht erhalten hat und wird. ein buch definitiv nicht zum wohlfühlen, sondern ein grandioses stück literatur.

    fernanda melchor: saison der wirbelstürme. roman. wagenbach, berlin 2019, 240 seiten, 22€.