Schlagwort: Russland

  • julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska ist eine von vielen millionen europäerinnen in der ukraine, sie hat in deutschland studiert, in düsseldorf gearbeitet, kehrte in die ukraine nach kiew zurück – im buch wird die lange zeit im deutschen übliche schreibweise verwendet – und wurde wie das gesamte land vom angriffskrieg russlands am morgen des 24. februar 2022 überrascht. ihre erfahrungen, gedanken, gefühle in den tagen sowohl vor als vor allem auch nach der russischen invasion auf ihrer flucht aus kiew durch das land vor dem krieg, dem tod, dem horror, hat sie als tagebuch und in deutschland veröffentlichen können. es ist ein beeindruckendes zeitdokument über die ukraine und ihre mutige bevölkerung in den ersten kriegstagen, und eine wichtige mahnung an alle europäer*innen, sich nicht an diesen russländischen eroberungs- und zerstörungskrieg zu gewöhnen.

    julia solska ist in einem kleinen dorf nördlich von kiew aufgewachsen, in michajliwka-rubeschiwka, wo ihre eltern leben. das dorf ist eine nachbargemeinde der durch die massaker der russischen armee international bekannt gewordenenen orte butscha und irpin, die eltern wollen anfangs das dorf nicht verlassen, erst als russische panzer im ort stehen und die soldaten mit den plünderungen und wahllosen zerstörungen begonnen haben, entschließen sie sich zu einer lebensgefährlichen flucht. julia ist da bereits weit weg und erfährt erst im nachhinein von ihrer rettung. der kontakt mit der familie ist schwierig, da es oft keinen strom zum aufladen der handyakkus gibt, die schwester ist mit ihrer familie in die eine richtung geflohen, julia mit ihrem freund anton nach einem kurzbesuch bei den eltern in den süden von kiew, von dort über zwischenstationen gen westen nach lwiw, nach 14 tagen und einem extremen fußmarsch ist sie schließlich in polen, von wo sie per zufall ein auto nach deutschland mitnimmt. sie lässt ihren freund und viele bekannte ebenso wie ihren kater fran in der ukraine zurück, im unwissen wer die russische aggression überleben wird, doch entschlossen dass putin diesen krieg nicht gewinnen wird:

    ich habe große sorge, dass der westen „kriegsmüde“ wird. die welt hat putin diesen krieg erlaubt. nun sollte sie sich wenigstens nicht an ihn gewöhnen. ich flehe die menschheit an, mein land weiter zu unterstützen, auch mit waffen. jeder, der sagt, gebt russland die krim und was es sonst noch haben will, dann ist frieden, dann haben wir unsere ruhe und müssen uns keine fotos mehr von toten und zerbombten städten ansehen, hat noch nicht verstanden, dass putin nie aufhören wird, bis er die ukraine vollständig erobert hat. danach ist das baltikum dran.

    so schließen julias aufzeichnungen am tag 97 der invasion, 31.mai, ein nachtrag aus deutschland zu den ersten einträgen. es ist ein appell, wie er von serhij zhadan und vielen anderen in der ukraine regelmäßig gegen dürftige bis eitle und selbstgerechte deutsche offene briefe publiziert werden: der krieg hört nicht auf, wenn die ukraine sich nicht mehr verteidigt, der krieg hört erst auf, wenn putin nicht mehr schießen lässt, und das macht er nicht von sich aus, im gegenteil, er möchte die ukraine vernichten. übrigens sagt putin das genau so immer wieder selbst, man sollte ihm einfach mal zuhören statt zu glauben, man könne mit dieser russischen führung verhandeln.

    das lesen ihres tagebuchs führt mehrere dinge vor augen: als erstes und wichtigstes zeigt es die enorme solidarität der menschen untereinander, die auf den irrsinn des krieges mit größter hilfsbereitschaft reagieren, auch nur entfernte freunde oder bekannte von bekannten stellen ihren wohnraum, und sei er noch so klein, zur verfügung, man sorgt sich gegenseitig umeinander und schützt sich miteinander vor dem krieg, die selbstverständlichkeit der fürsorge um die millionen vor dem krieg fliehenden menschen ist ebenso beeindruckend wie auch die fürsorge um die überall anwesenden tiere, seien es katzen, hunde oder eichhörnchen im park. gleichzeitig ruft es die erinnerung an die ersten kriegstage wieder wach, die riesige angst was dort passiert, wohin das führt, welcher wahnsinn in der ukraine losgetreten wurde, mein telefonat am nachmittag mit meinen fassungslosen eltern, die stets geglaubt hatten dass putin nur falsch verstanden wurde, so wie sehr viele in diesem land, zum teil bis heute….. und diese tage sind keine 5 monate her, der krieg ist keine 5 monate alt, ein säugling ist er noch immer, dieses russische monstrum. mir will nicht in den kopf, dass es nicht wenige gibt, die das alles, was dort in der ukraine geschieht, was im tagebuch festgehalten ist, immer noch für lüge und westliche propaganda halten, ausgedacht von irgendwelchen ukrainischen faschisten oder sonstwelchen phantomen, dass es nicht wenige gibt, die ganz bewusst wegschauen und zynisch willfährig groteske gegenwahrheiten und alternative facts behaupten, wissend dass sie lügen und gigantischen dreck produzieren oder konsumieren, und ich begreife die motivation dahinter immer noch nicht, es lässt mich fassungslos zurück, mit großer wut, eine ehemalige kollegin von mir behauptete, dass butscha eine inszenierung sei, eine nachbarin ist weggezogen vor der westlichen propaganda – ausgerechnet ins baltikum, dort wird sie auch nicht glücklich werden….

    zweitens zeigt es sehr klar anhand eines gespräches mit einer frau, eigentlich einer freundin von julia, wie weit sich die ukraine von der russischen föderation mental entfernt hat, wie offen liebral und europäisch die ukrainische bevölkerung ist und wie unbegreiflich das in russland ist. selbst die menschen in ursprünglich russlandfreundlichen städten haben sich längst abgewandt und wollen nichts mit diesem russland zu tun haben. julia nimmt der russischen freundin ihre mutlosigkeit und unterwürfigkeit in den wenigen selbstmitleidigen sätzen übel, so dass sie die freundschaft schließlich beendet. sie leben in völlig anderen politischen realitäten, die in russland noch im sowjetischen verhaftet geblieben sind, während die ukraine sich erstmals 2004 und dann erneut 2014 deutlich davon lossagte, diese realitäten haben sich in die gedanken und handlungen der menschen als selbstverständlich eingeschrieben haben, die liberale julia steht ihrer von der vertikale der macht dominierten russischen freundin fassungslos gegenüber – und dies ist der mentale kern des krieges. die selbstverständlichkeit eines dominanten staates war und ist in russland überall absolut gegenwärtig und niemand stellte es in frage bzw diejenigen, die es taten, sind heute im exil, ermordet oder verhaftet. der russische mensch, so die unmissverständliche ansage putins an den damaligen oligarchen michail chodorkowski, darf nicht politisch sein (chodorkowski brach das gebot und landete im gefängnis und ist heute im exil), der russische mensch ist ein entpolitisiertes objekt in den händen eines nicht zu fassenden unverständlichen staates, russlands macht gegenüber seiner bevölkerung äußert sich in seiner bewussten rätselhaftigkeit, die nicht angst sondern vielmehr verachtung ist. die ukraine hat sich von dieser verachtung stück für stück emanzipiert, kunst und kultur sind im land lebendig, während in russland konservierender stillstand herrscht, eine als unveränderbare normalität begriffene unterwürfigkeit zu einem staat, der kein interesse an seiner bevölkerung hat. dieses kurze gespräch am zehnten tag der invasion verdeutlicht dies unmissverständlich, weshalb julia letztlich auch die gesamte russländische bevölkerung für diesen krieg verantwortlich macht, wenn sie sich nicht gegen den krieg im eigenen land zur wehr setzt. dass dies nicht geschehen wird, sollte nach 5 monaten krieg inzwischen verstanden worden sein. auch meine bekannten, mit denen ich in sibirien zusammenarbeitete und theater spielte, posten videos im zeichen des „z“ oder bezeichnen mich als „blind/geblendet“ von westlicher propaganda. wie sehr die russische von der ukrainischen welt entfernt ist, zeigt eindrucksvoll und bedrückend auch die dokumentation von andrej loschak.

    dieser krieg ist ein monstrum, jeder krieg. doch dieser krieg als völkerrechtswidriger angriff eines revisionistischen russlands gegen ein freies, souveränes land hinterlässt ungeheuerliche folgen, es ist ungeheuer wichtig, dass mit diesem tagebuch das fluchtdokument einer jungen, klugen, erschütterten, wütenden und liebevollen ukrainerin vorliegt und unmissverständlich zeigt, dass es nicht um unsere deutsche angst gehen kann, sondern um die europäische solidarität, dem angegriffenen land ukraine bei der verteidigung gegen einen rücksichtslosen und brutalen aggressor zu helfen, auf welchen wegen auch immer. möglichkeiten und bedarf gibt es jede menge.

    julia solska: als ich im krieg erwachte. tagebuch einer flucht aus der ukraine. edel books, 192 seiten.

  • Russland, eine Ödnis

    Russland, eine Ödnis

    Rückblickend, nach der beginnenden Invasion Russlands in die Ukraine – nur äußerst naive Zeitgenossen glauben mit den russischen „Friedenstruppen“ in der Ostukraine gäbe sich der Leader Putin zufrieden, nicht wenige russische Politiker sprechen bereits von der Eroberung der gesamten Oblaste Donezk und Luhansk, die nicht von den Separatisten besetzt sind, was eigentlich die gesamte Ukraine bedeutet – und damit nach einer weiteren europäischen, weltpolitischen Zäsur des 21. Jahrhunderts, lässt sich feststellen, dass die vergangenen 21 Putin-Regentschaftsjahre kulturell äußerst dürftig gewesen sind, die Faszination für das unbegreifliche, unsinnige Riesenreich Russland (und die Sowjetunion im 20. Jahrhundert), von Thomas Mann in die deutschsprachige Literatur getragen, echot sie auf komische Weise zB in Alexander von Humboldts Russlanddurchquerung in Kehlmanns Vermessung der Welt, auf deutschen Bühnen in der nie verebbten Faszination für Tschechow oder Dostojewski-Adaptionen, geht zurück auf die Faszination russischer Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von Puschkin aufwärts zu Gogol, Lermontow, Turgenjew, fünf Elefanten, jede Menge Tolstoj, Zwetajewa, Achmatowa, Charms etc bis in die 1990er Jahre zu vllt Dmitrij Prigow oder Irina Denezhkina; von Tschaikowsky, Mussorgsky, Glinka zu Prokofjew, Strawinsky, Schostakowitsch; nicht zu vergessen das einflussreiche russisch-sowjetische Kino von Dziga Vertov, Eisenstein, Tarkowski, dazu die Adaptionsfreude westlicher Stoffe – doch im frühen 21.Jahrhundert schwindet diese Faszination, die russische Kulturproduktion ist in den Jahren nach 2010 fast vollständig zum Erliegen gekommen, zumindest was relevante literarische musikalische filmische Produktionen betrifft, entscheidenden Anteil am Verschwinden der künstlerischen Gegenwartsanalysen und Kommentare hatte der Prozess um die Ausstellung „Verbotene Kunst 2006“ und die Verurteilung von Pussy Riot nach deren Gebet in der Erlöserkathedrale 2012, noch in den 1990er Jahren entstanden die russische Kultur prägende Werke, der vllt zentrale Film ist „Brat – der Bruder“ von Alexej Balabanov 1997, der die Stimmung und Abgründe der späten Jelzin-Zeit herausragend einfängt, in den frühen 2000er Jahren meldete sich Andrej Swjaginzew mit „Die Rückkehr“, einem düsteren, pessimistischen Film zu Wort, es entstanden überdrehte Produktionen wie „Nochnoj Dozor“ von Timur Bekmambetov, Künstler*innen wie Zemfira, Splin, Andrej Makarewitsch uva bezogen sich auf den Gründer der russischen modernen Popmusik Viktor Zoi und seine Band Kino – von all dem ist um 2020 nichts mehr erhalten, Zemfira ist verstummt, Splin machen belanglose Musik um sich nicht in Gefahr zu begeben, Makarewitsch wurde für sein Engagement gegen Putin und für Flüchtlinge in der Ostukraine 2014 zum Volksverräter erklärt, der russische Film ist jenseit von Swjaginzews „Leviathan“ und „Loveless“ vollkommen belanglos und international nicht mehr existent, auf der Berlinale 2022 ist gerade einmal ein russischer Kurzfilm zum Klimawandel zu sehen gewesen, die russische Literatur der Gegenwart ist nach der aufregenden Alissa Ganijewa stehengeblieben im vereisten Blick auf vergangene Größe und seine Kanonisierung in Vitrinen, Vladimir Sorokins bitter-sarkastisch-kluge Bücher entstehen inzwischen im Exil, der letzte Literaturnobelpreis an einen ehemals in Russland aktiven Autor ging 1987 an den 1972 ausgebürgerten Joseph Brodsky (der Nobelpreis 2015 ging an die nicht mehr als „russisch“ zu vereinnahmende, sowjetkritische, belarussische Autorin Swelana Alexijewitsch), kurz: die russische bzw russländische Kultur in den Grenzen nach 1991 ist de facto nur noch als Nostalgie, Verlust und Verhinderung existent, nicht aber mehr als relevanter Beitrag zur Gegenwart (mit der winzigen Ausnahme Kirill Serebrennikov, der zur Einhegung des Ungezügelten mit diversen Bannflüchen belegt wurde), ähnlich Irrelevantes lässt sich über den erbärmlichen Wissenschaftsstandort Russland sagen, der seit Jahrzehnten zur Welt nichts mehr beizutragen hat und keine irgendwie relevanten Forschungen betreibt, in Putins Russland werden auch die Oppositionellen heute noch mit einem sowjetischen Kampfstoff getötet, der technologische Standort Russland ist inexistent, dieses Land hat außer purer Größe und militärischer Aggression nichts anzubieten, und vor allem kulturell fällt im Review der ersten zwei von insgesamt 30 Dekaden Putinscher Ewigkeits-Regentschaft – erst im Jahre 2222 verstarb er auf unrühmliche Weise – schmerzhaft auf, wie stumm und leblos dieses einst so einflussreiche Kulturland heute ist bzw: war.

    Update 25.3.22: dieses sehr lesenswerte Interview mit dem Filmregisseur Ilja Chrshanowski im Standard beschreibt die existierende und kommende Ödnis in Russlands Kulturlandschaft herausragend, auch die kommende russische Katastrophe, denn Putin und alle seine Helfer und Wähler und Getreuen und Vasallen zerstören das Land nachhaltig, seit 22 Jahren, in diesem Moment.