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  • norbert scheuer – winterbienen

    norbert scheuer – winterbienen

    nun habe ich einen monat keine neue rezension online gestellt ein wenig aus protest und gröberer enttäuschung und leichterem entsetzen vor einem literaturbetrieb, der allen ernstes dieses buch in die finale auswahl #shortlist einer der bestdotierten literaturpreise des landes aufgenommen hat, denn was sagt es über die deutschsprachige literatur aus, wenn ein derart naives biederes selbstgefälliges romänchen als mögliches aushängeschild um internationale aufmerksamkeit werben soll –

    norbert scheuer, dessen romane schon mehrfach auf shortlists zu buchpreisen standen, ist ein in der westeiffel beheimateter autor, seine romane spielen auch größtenteils in dieser region, so auch winterbienen. es geht kurz gefasst um egidius arimond, ehemaliger lehrer, im letzten jahr des zweiten weltkrieges, der sich im wesentlichen mit seiner bienenzucht und übersetzungen aus dem lateinischen beschäftigt, um seine illegal besorgten medikamente gegen epliepsie zu finanzieren betätigt er sich zudem als schleuser im deutsch-belgischen grenzgebiet und hat affären mit allerhand frauen, so auch der frau des kreisleiters, was alles ziemlich gefährlich ist und zudem noch durch fliegerangriffe der britischen armee verstärkt wird. das kompositorische material des auf wahren begebenheiten beruhenden stoffes ist also enorm – die bearbeitung scheuers zum roman ist allerdings völlig ziellos und ohne jeden fokus auf die figuren.

    nicht allein, dass die form des tagebuches, in dem alle taten und gedanken säuberlich festgehalten sind und das meist offen in der stadtbibliothek herumliegt, je irgendwo befragt würde – ein blick der nazibibliothekarin hinein und egidius wäre umgehend geliefert – nein, von heimlich- oder bedrohlichkeit keine spur. bei egidius bzw scheuer steht alles sehr gleichberechtigt nebeneinander als ob es keinen unterschied machte mit wessen frau er schläft, ob seine geschleusten flüchtlinge die tour in seinen präparierten bienenkörben überleben oder dabei draufgehen, was der benediktinermönch ambrosius und urahn der bienenzüchter zur welt der bienen zu sagen hatte, welche fronterfolge sein bruder als pilot der ns-luftwaffe mal wieder feiert, dass es mit fortschreitendem krieg zunehmend schwieriger wird medikamente zu bekommen, wie das wetter ist und was man technisch über die britischen bomber wissen sollte, letztere sind auch immer hübsch ins buch hineingezeichnet. vom sohn des autors, der allen ernstes erasmus heißt, wie der autor stolz im selbstverfassten nachwort angibt. egidius sei eine ambivalente figur, betonte die rezensionsfachpresse dazu. das kann man wohlwollend so sehen.

    man kann aber auch feststellen, dass die figur nicht ausgearbeitet ist und der hoffnung anheim gegeben wurde, all die sonderbaren und widersprüchlichen handlungen erzeugen von sich aus genügend charakterschärfe. mitnichten. denn die vorhandenen und potentiell interessanten motive werden entweder kaum literarisch entwickelt – etwa den grotesken widerspruch, dass er die fliehenden menschen, zumeist juden, primär als nützliches material ansieht, um sich selbst am leben zu erhalten, da er für die bezahlung seiner schleuserdienste die medikamente für seine epilepsie besorgen kann, denn epilepsie ist aus sicht der nazis eine lebensunwerte erbkrankheit die vernichtet gehört. oder aber dass für ihn die wirklich wichtigen lebenwesen seine bienen sind, um die er sich beinah mütterlich kümmert, während ihm die schicksale seiner menschentransporte, so grausam sie auch sein mögen, keinerlei emotionen hervorlocken. oder die wertfreie gleichzeitigkeit von freude über seinen erfolgreich kämpfenden nazibruderpilot und die beinah schon liebevoll beschriebenen britischen und amerikanischen kampfflugzeuge, die zunehmend auch seine stadt angreifen. das steht alles sehr kommentarlos im roman ebenso wie die seitenlangen lateinübersetzungen von ambrosius, die eine zusätzliche textebene schlicht behauptet, ohne dass es irgendetwas tatsächlich hinzufügt, es sei denn man hat besonderes historisches interesse am thema bienen. und nicht zu vergessen, dass egidius schließlich doch an die ss verpfiffen und drei wochen gefoltert wird – in einem roman, wo die figur seitenlang über bienen und flugzeuge und frauen reden kann, gibt es nun eine riesige lücke des schweigens, ja nicht einmal der versuch einer reflektion sehr wahrscheinlich traumatischer erlebnisse wird unternommen, nichts, es hat eben stattgefunden und nun wieder bienen. man weiß nicht, ob das eine bewusste aussparung sein soll, das auf ein aktives verdrängen des schlechten verweist, oder doch nur ein weiteres unbearbeitetes element, da im original an dieser stelle eben auch nichts dazu gesagt wurde.

    gen ende des romans und auch des jahres 1944, als die medikamente ausgehen und alles unweigerlich auf das kriegsende verweist und damit erneut auf die deutsche nachkriegserzählung der stunde null, da blitzt unabsichtlich beinah die möglichkeit auf, die dem text tiefe hätte geben können: denn natürlich ist mit dem kriegsende der versorgungsmangel und die politisch-ideologische aufarbeitung keineswegs abgeschlossen, sondern würde sich im gegenteil zusätzlich verstärken. was also hätte der roman entfalten können, würde man ihn nach kriegsende erzählt haben: ideologische neusortierungen, rechtfertigungen, prahlereien, verschweigen, vertuschungen etc – doch scheuer hält sich an sein originalmaterial und lässt egidius noch vor kriegsende auf eine miene treten, um sich im nachwort selbst als autor mit „überbordender phantasie“ zu feiern.

    besonders hellhörig sollte zudem der einstieg in des autors nachwort machen, denn er wolle mit dem roman der region „gerechtigkeit widerfahren“ lassen – welche art gerechtigkeit ist damit gemeint bzw welche ungerechtigkeit? dass es in der nazizeit doch auch „gute“ menschen gegeben habe, nämlich fluchthelfer aus egoistischem interesse? von solcherart „ambivalenzen“, die das buch und sein autor sehr freimütig ausstellen, ist winterbienen voll und führt letztlich zu keiner neuen erkenntnis. außer dass sich der autor selbst ganz toll findet im literarischen aufarbeiten historischen materials. doch da ist ihm unbedingt zu widersprechen.

    und ebenso einem literaturbetrieb, der ein bloßes nebeneinander unausgearbeiteter motive als preiswürdige ambivalenz bzw äußerste nähe von zeichen und konkreter realität honoriert.

    norbert scheuer: winterbienen. roman. c.h.beck, münchen 2019, 319s, 22€.

  • ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    buch #1 der long list zum deutschen buchpreis 2019 – und es ist eins das viel richtig machen möchte und dennoch bieder bleibt und damit ein äquivalent zum deutschen sonntags-tv-krimi darstellt. auch da ist schon in den ersten sekunden eine leiche und dann werden die hintergründe stück für stück enthüllt zwischen holzgeschnittenen figuren, politischen hintergrundfassaden und sehr viel allzumenschlichem und zum schluss gibts einen plottwist, der dann letztlich so überraschend schon nicht mehr ist und sowieso nur funktioniert, wenn man ihn nicht spoilert und den film nur einmal sieht bzw den roman nicht erneut liest.

    in ulrich woelks der sommer meiner mutter ist der 10jährige tobias im jahr 1969 von der bevorstehenden mondlandung fasziniert, die selbstverständlichkeiten der wirtschaftswunderspießigkeit prägen sein kölner vorortleben, das in ähnlich grauen tönen daherkommt wie das schwarzweißfernsehen und die mondoberfläche. der vater ist konservativer ingenieur, die mutter folgsame hausfrau ( sich nur dem sex verweigernd ) und der onkel war einst erfolgreicher nazikampfpilot und ist jetzt farb-tv-besitzer da zum erfolgreichen bauunternehmer aufgestiegen. tobias, dessen 50 jahre älteres ich diesen roman als bericht schreibt, steht veränderungen ängstlich entgegen und wird sich später auch mit den worten gegen seine mutter wenden, dass sie alles zerstört habe.

    in diese übersichtliche welt zieht eine kommunistische nachbarsfamilie mit weltläufigkeitsgeruch und alle drei leinhards vater mutter und tochter rosa werden in so grellen farben geschildert dass die konservativen rheinländer von den linkspolitisierten paradiesvögeln nicht mehr lassen können. was anfänglich nach clash of political cultures aussieht sich dann aber gebärdet wie eine folge frauentausch mit hang zum polittrash führt letztlich zum ersten sex von tobias und zur tragischen auflösung der familien, denn tobias mutter bringt sich um – die leiche von sekunde eins -, nachdem sie mit rosas mutter ihr coming out erlebte, tobias das unfreiwillig entdeckte und der vater seine „unnatürliche“ frau verließ – der plottwist. die höhepunkte des buches – rosa-tobias-sex, lesbischer sex, mondlandung = interstellarer tv-sex – hat woelk in eine nacht hineinkomponiert der dramatik wegen. beide schwer betrogenen männer schieben daraufhin ihre frauen ab, diese sind zu keiner solidarität in der lage, da rosas mutter kurzerhand auch wegzieht und mehr erfahren wir nicht, schließlich wendet sich ein überforderter tobias auch noch gegen seine mutter und beschuldigt sie des hochverrats an seiner familie und flieht ebenfalls vor ihr.

    es sind die männer, die wie karikaturen wirken durch das gesamte buch, der altnazi-kapitalist und der universitäts-kommunist finden bei der sportschau ihre freundschaft, die antikriegsproteste als alberne tv-kulisse, die raumfahrtbegeisterung in ermangelung einer modelleisenbahn – das könnte ein evtl interessantes porträt einer zeit werden aber alles gerät zu allgemeiner lächerlichkeit und das zentrum des romans ist es, die rakete zum mond zu bekommen bzw tobias endlich zum ersten sex. rosa selbst als 12jährige feministin Ist dir schon mal aufgefallen, dass in allen Geschichten die Helden immer Männer sind? Und was wenn Jesus eine Frau war? wirkt in diesem nach das kleine fernsehspiel anmutendem setting noch ein bisschen deplazierter als es diese ganzen summer of love requisiten jeans the doors make love not war zudem tun. komischerweise raucht keiner auch nur eine klitzkleine friedenspfeife, das ist woelk irgendwie durchgerutscht.

    es sind diese bücher alternder autoren über westdeutsche adoleszenzerfahrungen, die mir außer einer gewissen kritischen nostalgie nicht viel sagen. das buch möchte menschen in den mittelpunkt stellen und ist vorrangig technikfixiert mit (kinder-)erotischer komponente, schließlich ist woelk studierter astrophysiker und seine sprache ist entsprechend mehr berichtsprosa als sprachsuchend. der naive tobias hat zudem ständig angst, dass ihn die meilen überlegene rosa nur als kleinen nerdigen jungen anschaut, und er hat allen grund zu dieser annahme, denn tobias ist ein kleiner nerdiger junge und wird später als astrophysiker uns alles zur raumsonde rosetta erzählen was man wissen sollte oder auch nicht. die tragödie der mutter und seine eigene beschuldigung mit schlechtem gewissen hat er dabei offenbar bestens weggesteckt, wird so schlimm dann wohl nicht gewesen sein.

    es sind die themen sex / erotik / tod und technik / gesellschaft / politik und gender / feminismus / sexuelle selbstbestimmung die im sommer meiner mutter verhandelt werden auf eine sehr puppenspielhafte bis unverständliche weise, die „initiation“ des jungen tobias und wieder ein männlicher held ist dabei vollkommen unnötig :

    was eigentlich treibt autoren dazu ausführlich sexuelle handlungen zwischen kindern zu beschreiben ??

    denn es ist wesentlich bedeutsamer dass er vom coming out seiner mutter ihrer liebe zur nachbarin und dem enormen druck den sie die gesamte ehe über ausgehalten hat und dass sie schließlich unter der zurückweisung von ihrer familie als bestrafung zusammenbricht dass er von seiner mutter nicht nur so gut wie nichts wusste sondern auch seinen eigenen anteil an ihrer demütigung nicht wahrnahm – doch dieser frage stellt sich der roman nicht und es ist letztlich unklar, was diesen recht knappen mäßig unterhaltsamen bis störenden mäßig gelungenen roman auf die long list gehoben hat vielleicht hat ihn irgendeine erotisierte raumsonde günstig fallenlassen – egal, unwichtig, abspann.

    ulrich woelk: der sommer meiner mutter. roman. c h beck, münchen 2019. 189 seiten, 19,95€.