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  • zum schluss, bevor etwas neues folgt

    a&v habe ich aus vielen gründen in den vergangenen monaten wenig gepflegt, die reihe zum koreanischen kino ist unvollendet, oft genug fehlte die zeit, die einzelnen filme zu besprechen, zumal insbesondere das koreanische kino und alles was mit koreanischer kultur in verbindung gebracht wurde und wird, in den vergangenen jahren einen enormen boom erfuhr, mit dem höhepunkt von parasite als bestem film. die innovationskraft des koreanischen kinos hat sich inzwischen allerdings offenbar erschöpft, die serie squid game war zwar extrem erfolgreich aber inhaltlich dürftig, vieles ist durchschnittlich und ohne aufwand auch hiesigen sehgewohnheiten zugänglich, filme wie park chan-wooks in cannes ausgezeichneter die frau im nebel sind ausnahmen geworden in einer überfülle an genreware.

    für alle, die das koreanische kino der vergangenen 30 jahre kennenlernen möchten, sind die folgenden filme als orientierung gedacht, eine art best-of:

    vom wahrscheinlich besten regisseur park chan-wook: zu seinen stärksten filmen gehören zweifellos OldboyLady VengeanceDie TaschendiebinJSA.

    der bekannteste regisseur ist wohl bong joon-ho, dessen eigenständiger stil seine filme unverwechselbar macht: seine drei besten filme sind MotherMemories of Murder Parasite.

    in europa weitgehend unbekannt sind die außergewöhnlichen filme von lee chang-dong, dessen ruhiges und tiefgründiges kino leider hierzulande kaum erhältlich ist: am bekanntesten ist zweifellos der faszinierende Burning, aber auch Poetry und Secret Sunshine sind absolut herausragend.

    deutlich bekannter ist das kompromisslose und radikale kino des 2020 verstorbenen kim ki-duk, vor allem in den 2000er jahren waren filme von ihm auch in europa populär und wurden häufig sehr einseitig rezipiert. nach dem radikalen moebius wurden seine letzten filme hierzulande nicht mehr veröffentlicht. unbedingt sehenswert wegen ihrer klaren und ebenso wiedersprüchlichen erzählweise sind: The Isle SamariaPieta.

    ähnlich kompromisslos und eigenständig ist das scheinbar undramatische, doch klug komponierte kino von hong sang-soo: faszinierend ist die doppelte erzählung in Right Now Wrong Then oder der unaufgeregt kluge Eine Kinogeschichte.

    liebhaber des genre-kinos kommen mit na hong-jins düsterem und wenig optimistischem The Chaser auf ihre kosten.

    beliebt, doch in meinen augen überbewertet sind die filme von kim jee-woon, der sich an verschiedenen genres ausprobiert hat und vor allem action inszeniert. sehenswert sind der mystery-film A Tale of two Sisters und der pessimistische mafia-film Bittersweet Life.

    und als abschluss zwei filme des in korea jungen zombie-genres: yeon sang-ho hat mit Train to Busan und Seoul Station von 2016 sowohl einen realfilm als auch einen sehenswerten anime zum thema beigetragen.

    auch andere kinoregionen asiens sollte man immer wieder im blick behalten. da ist natürlich der unendliche chinesische markt, dessen filmindustrie sich mit sehr wenigen ausnahmen – jia zhangke! – dem parteipolitischen diktat zu beugen hat und bevorzugt propagandistisches und überwältigendes kino hervorbringt. seine faszinierende eigenständigkeit hatte natürlich ebenso das kino aus hong kong, berühmt geworden insbesondere durch die filme von wong kar-wei. und natürlich nicht zu vergessen das traditionsreiche japanische kino, das ohne akiro kurosawa nicht vorstellbar ist, aber ebenso auch nicht ohne kenji mizoguchi und dem wichtigen, doch weniger bekannten yasujiro ozu.

    doch auch das kleine kino-land thailand hat außergewöhnliches kino anzubieten, vor allem die eigenwilligen und faszinierenden filme von apichatpong weerasethakul und die nur auf den ersten blick zugänglicheren filme von pen-ek ratanaruang sind absolut lohnenswert. kino, das unbedingt entdeckt werden will.


    und so endet an dieser stelle der cineastische blick nach asien. ich werde mich nun verstärkt auf europa konzentrieren, auf die literatur dieses kontinents, auf sein kino und seine musik. denn trotz EU und europäischer integration und unproblematischer reisemöglichkeiten ist die künstlerische wahrnehmung und begegnung jenseits von festivals sehr überschaubar. musik aus den europäischen ländern jenseits eines eurovision song contests, bei dem es vorrangig um buntlautes spektakel geht, ist kaum zugänglich, das kontinentale kino kaum bekannt, ähnlich sieht es in der literatur aus. ich werde also diese seite hier weiterentwickeln um aufmerksamkeit zu schaffen für die in europa existierende kunst, die auch journalistisch kaum bis gar nicht abgebildet wird. ob es weiter unter dem titel „art & vinegar“ laufen wird, habe ich noch nicht entschieden. doch bis dahin:

    bleibt neugierig!

  • barbenheimer

    barbenheimer

    barbenheimer bezeichnet das phänomen der zeitgleich gestarteten filme barbie von greta gerwig und oppenheimer von christopher nolan vor einem monat. um beide filme entstand gleichzeitig ein enormer hype und erfolg, der so nicht vorzusehen war. insbesondere die vollständige gegensätzlichkeit der beiden filme scheint zu einer lust am widersprüchlichen geführt zu haben, denn konträrer in thematik, gestaltung und tonart könnten zwei filme zur gleichen zeit kaum sein: hier ein überzuckert-flippiger film mit franchise-absicht über ein weltbekanntes spielzeug mit durchaus unterkomplexer feministischer botschaft, dort ein extrem verlangsamtes epos über einen widersprüchlichen wissenschaftler in verschachtelter erzählweise. mehr gegensatz ist im amerikanischen blockbuster wohl unmöglich.

    und doch sind sie eindeutig amerikanische filme über rein us-amerikanische themen. so unterschiedlich die filme sind, so sehr haben sie den gleichen kern: den mythos amerika weitererzählen, mit allen mitteln. greta gerwigs barbie versucht, die als anti-feministische ikone bekannte und verachtete spielzeugpuppe aus dem hause mattel irgendwie für eine doch sinnvolle feministische erzählung neu zu deuten, indem sie die puppe mit der realen welt des patriarchats kollidieren und von drei frauen-generationen – der alten barbie-erfinderin ruth handler, einer desillusionierten frau und mutter und ehemalige barbie-besitzerin in ihren 40ern sowie deren pubertierender tochter und barbie-hasserin – mit feministischer lehre aufladen lässt. christopher nolans in zwei zeitebenen spielender film erzählt anhand der person oppenheimers, der mit enormem aufwand die erste funktionsfähige atombombe entwickelte, die moralische unverlässlichkeit der politischen usa. denn so sehr oppenheimer auch gefördert wird mit hilfe des verteidigungsministeriums, als erste die kaum zu kontrollierende bombe zu haben, während des zweiten weltkrieges und gegen die ebenfalls an der bombe arbeitenden nazis, so sehr wird ihm nach dem krieg und den ersten beiden bombenabwürfen letztlich der prozess wegen verrats gemacht. nolan erzählt zugleich sowohl die faszination an der bombe an sich als auch die politische doppelmoral aus schmutzigen motiven – in einer auf 3 stunden gedehnten ewigkeit.

    barbie bezieht seinen unterhaltungswert aus dem bubblegum-cinema mit hohem tempo und bunten tanzeinlagen, bedient sich dabei eines holzhammer-feminismus mit vorgeführten, bodenlos dummen männergestalten und einer margot robbie als barbie, die wie keine andere schauspielerin derzeit künstliche figuren verkörpern kann – von harley quinn zu barbie ist es nicht weit -, die feministischen themen wirken aber an ihr wie eine weitere kostümierung. hinzu kommt, dass der culture clash von barbie-welt und realer welt nicht mehr offenbart, als dass auch die realen menschen bzw vor allem die männer eigentlich so hohl wie puppen sind. kein wunder, dass die patriarchale welt den heimlich bei barbie mitgereisten ken auf saudumme gedanken bringt und barbie zu tränen rührt, weil sie von der pubertierenden göre als faschistin bzeichnet wurde und an der bushaltestelle eine alte frau gesehen hat. (in beiden szenen verlässt der film ungewollt die figur der barbie und nimmt die perspektive der zuschauerinnen ein: woher weiß barbie, was eine faschistin ist, die in ihrer welt nicht existiert? warum sagt sie der alten frau, dass sie schön ist, obwohl sie falten und zellulitis fürchtet wie die pest und eine gealterte barbie ebenfalls nicht existiert? solche unreflektierten brüche in der figurenzeichnung fallen in all dem bunten treiben schon gar nicht mehr ins gewicht.) der film erzählt somit nur den kulturkampf frauen vs männer und einen feminismus von vor langer zeit, zudem auf materieller ebene: spiel mit barbie, doch spiel mit ihr richtig – aber um himmels willen nicht mit einem anderen spielzeug! das kann man lustig finden oder nervig, barbie ist im wesentlichen eine intellektuelle unterforderung: die frau-werdung von barbie initiiert sich darin, dass sie am schluss – als könnte es nichts schöneres für eine frau geben! – endlich auch zu einem gynäkologen gehen kann. uff.

    christopher nolans oppenheimer ist erwartbar komplexer und anspruchsvoller, und doch ist es wieder nur ein typischer nolan-film, der sich selbst sehr gern reden hört, perfekte bilder zelebriert – und wie in jedem guten nolan-film mit einem groß gefilmten countdown aufwartet: es macht die bombe 3 – 2 – 1 – bumm. oppenheimer geht den langen weg des überdehnten epos und zeigt geballte männlichkeit, die frauenfiguren sind randerscheinungen, es gibt nur männer in opulenten und an sich selbst berauschten bildern. die figur oppenheimer wird wie in der buchvorlage mit dem zivilisationsbringer prometheus überhöht, die grenzüberschreitung des feuerbringens ist hier mit der zerstörungskraft der atombombe parallel gesetzt. die manie nolans, einen realistischen film zu schaffen, konterkariert er immer wieder mit aussagen der figuren, die um ihre deutung der nachgeborenen wissen. „…weil es hier um das verdammt nochmal wichtigste ereignis in der weltgeschichte geht“ sagt matt demons lieutenant general leslie groves einmal und der satz wirkt komplett ahistorisch und deplatziert, wie andere ähnliche bemerkungen, die auf die interpretation der geschehnisse verweisen. selbstverständlich war den am manhattan project beteiligten klar, was sie taten, aber nicht im sinne der welthistorischen nachbedeutung, sondern in erster linie, um einer atombombe der nazis zuvor zu kommen. die deutung und bedeutung wurde auch einem oppenheimer erst nach den abwürfen über hiroshima und nagasaki klar, zuvor hatte er hingegen die befürchtung, mit der bombe augenblicklich in einer kettenreaktion die gesamte atmosphäre zu verbrennen. nolan arbeitet mit solchen ahistorischen verschiebungen seinem eigenen realismus-fetisch zuwider, bei dem alles so „echt“ und „wahr“ wie nur möglich aussehen und das fiktive zum verschwinden bringen soll. es ist ein grotesker irrtum in dieser überlangen biografie, die hauptsächlich den weg bis zum erfolgreichen bombenbau sowie den späteren verratsprozess der mccarthy-ära erzählt, den restlichen lebensweg hingegen ausblendet. nolans arbeitsweise wie filmschaffender irrtum ist der extreme hang zu einem hyperrealismus, der in oppenheimer zum spleen wird: jede kulisse ist eine exakte kopie des originals, die bombenexplosion soll echter als echt aussehen und alles soll vor allem beeindrucken – dabei war nolan schon einmal bedeutend weiter:

    was im fantastischen genre des comicfilms mit der dark knight trilogie herausragend funktionierte, eben weil es KEIN realistisches kino war, sondern die comic-fiktion mit der kino-fiktion kombinierte, wie ein realer bruce wayne / batman heute aussehen könnte: es entstand ideale cineastische illusion, weil die filme räume öffneten für das imaginäre – es ist außergewöhnliches kino. jedoch ist eine filmische biografie über eine reale persönlichkeit trotz aller realistischer engführung immer auch fiktion, eben weil es eine erzählung ist, die seine gestalterischen und wertenden elemente nie wird leugnen können, warum sollte sie auch. nolan aber versucht genau das in seinem hyperrealismus zu ignorieren, obwohl er sich auf der filmischen ebene genau dieser fiktionalisierenden mittel – farbe vs s/w – interpretierend bedient. die frage ist also: wozu dieser allzu eifrige realismus, als „echtheit“ missverstanden? nolans kino möchte das handwerkliche betonen gegenüber dem beliebig computergenerierten bild und so einen moralischen mehrwert der erzählung hinzufügen. das ist einerseits sympathisch, andererseits aber ebenso eitel, da nolans ästhetik die der perfektion ist, es soll echt, wahr und sauber sein (umso verwunderlicher die schnittfehler im finalen gespräch oppenheimer-einstein). nolan schafft dabei andächtige und perfekte Bilder, die nach fotografien von oppenheimer komponiert sind, und doch bleibt es eine absurd künstliche wirklichkeit, so wie auch die stadt los alamos in der wüste new mexicos nichts als ein künstliches gebilde war. nolan aber versucht sie fotorealistisch nachzubilden: es ist diese art der beeindruckung durch makellose oberfläche, die in den vergangenen nolan-filmen stets zu verfolgen war. das bild triumphiert über seinen inhalt.

    Barbie verfolgt den exakt gegensätzlichen Ansatz: offensive Fiktionalisierung und ausgestellte Imagination. So gelingt Greta Gerwig in der ersten halben Stunde ein tatsächlich aufregendes Kinoereignis, weil hier alles vollkommen künstlich ist, und doch sind die Puppenfiguren wie im Imaginationsraum eines spielenden Kindes lebendig und agil. Barbie duscht zB mit Duschgeräuschen aber ohne Wasser – und auch ihr Erschrecken darüber, dass eben dieses inexistente fiktive Wasser plötzlich eiskalt ist, ist absolut glaubwürdig. Nolans Oppenheimer hingegen ist gerade aufgrund des hyperrealistischen Ansatzes oft genug nicht glaubwürdig, weil immer wieder das interpretierende Medium Film das behauptete „Echte“ und „so war es wirklich“ durchstreicht. Nolans Film ist sich seiner Künstlichkeit oftmals erstaunlich wenig bewusst, etwa wenn „Wissenschaft“ gezeigt wird: Ein „echter“ Physiker wie Oppenheimer hat an einer Tafel zu stehen und in hoher Geschwindigkeit unbegeifliche Formeln an diese zu schreiben. Oder: Oppenheimer ist Wissenschaftler bis zur Nerdigkeit, also übersetzt er sogar beim Sex noch für die Geliebte Texte aus dem Sanskrit. Und ein böser Charakter wie Robert Downey Jr.s Lewis Strauss neigt von Anfang an zur Besserwisserei und ist so a priori unsympathisch, also zu keinem Zeitpunkt mögliche Identifikationsfigur. Von solcherlei stereotypen, bis zur Lächerlichkeit bekannten Bildern ist der Film voll, und natürlich ist es dem unantastbaren Wissenschaftsidol Einstein vorbehalten, das alles erklärende Schlusswort zu halten. Es sind einfache und wenig herausfordernde Bildwelten in einem Film, der sich selbst einmal mehr verliebt beim Dozieren über Wissenschaft zuhört, und das mit Realismus verwechselt.

    Barbie, interessanterweise, scheitert filmisch aber ebenso an Fiktion und Realität, denn in dem Moment, wo Barbie und Ken in der „realen Welt“ erscheinen und später „echte“ Menschen in Barbies Spielzeugwelt, in diesem Moment verliert der Film sein hyper-unrealistisches Konzept des Puppen-Spiels und kippt ins Belehrende und Beliebige und ebenso Unglaubwürdige. Er findet für die hochmoralische feministische Erzählung keine kohärente Filmsprache mehr außer einer überbetonten pädagogischen Albernheit, die so tiefschürfend ist wie ein Popsong, von denen es bezeichnenderweise gleich mehrere inklusive ihrer Music-TV-Videos in voller Länge gibt.

    Dort, wo Barbie eifrig belehrend wird, wird Oppenheimer trivial und selbstverliebt – und vor allem langweilig. Beide Filme finden keinen Rhythmus und formulieren ihre moralisierenden Aussagen – das Patriarchat ist Scheiße bzw die Atombombe war ne miese Idee – in sehr unsubtilen Bildern. Es ist dann eben doch Hollywood, das seinen Zuschauern stets alles erklärt, was auf der Leinwand zu sehen ist. Und es tut mir wirklich leid, aber mich ödet Nolans Kino inzwischen maximal an. Greta Gerwig hat wenigstens für selbstverliebte Langeweile schlicht viel zu viel Humor. Barbenheimer bleibt aber vor allem deshalb interessant, weil es ein Sommer-Ereignis war und darüberhinaus wenig bedeutsam.

    Nachtrag 26.8.23: angesichts der unglaublichen Ereignisse seit dem sexuellen Übergriff des spanischen Verbandspräsidenten Rubiales gegenüber der frisch gekürten Fußball-Weltmeisterin Jenni Hermoso – Rubiales‘ trotzige, uneinsichtige Nicht-Entschuldigung, der enormen nationalen und internationalen Solidarisierung mit Hermoso bis zum umfangreichen Boykott der Nationalmannschaft, der angekündigten unfassbaren Klage gegen Hermoso und der Suspendierung von Rubiales durch die FIFA – zeigt sich das Patriarchat keineswegs lustig oder voller geistig minderbegabter Deppen sondern maximal autoritär und aggressiv: die sich wehrende Frau soll bestraft werden, nicht der übergriffige und komplett uneinsichtige Mann. So hätte die Geschichte von Barbie und Ken auch aussehen können, vllt sogar müssen…. #feminism

  • der frieden und sein preis

    der frieden und sein preis

    nachbetrachtung zur diskussion um die vergabe des friedenspreises des deutschen buchhandels an serhij zhadan

    mitten im krieg einen friedenspreis zu vergeben, und nicht während „irgendeines“ krieges sondern eines dessen nachbeben aller russischen bomben- und granateneinschläge weltweit zu spüren sind, zeugt von einem im moment weltfremd erscheinenden doch hoffnungsvollen bis romantischem wissen, dass jeder krieg endet, dass die gegner des krieges auch und insbesondere auf seiten der kriegsparteien ( der kriegserfüllten wie der unfreiwillig gewordenen ) lauter sein müssen als die tödlichen einschläge

    zhadan ist dafür kritisiert worden, dass er in seiner jüngsten deutschen veröffentlichung der himmel über charkiw. nachrichten vom überleben im krieg von den russischen angreifern 1x als „tiere“ und gar 2x im text als „unrat“ spricht . das buch ist eine kompilation von facebook-posts zhadans während der kriegsereignisse, schnelle kurze gedanken, ein online-tagebuch, nicht unähnlich wenngleich deutlich expliziter als das buch von julia solska . die „unrat“-stellen sind dabei semantisch nicht eindeutig, ob es die soldaten meint oder nicht doch die vielen zerstörten und liegengebliebenen panzer und fahrzeuge, die eben nichts als unrat = müll abfall sind, oder letztlich alles zusammen:

    6. März 17:41 […] Man wünscht sich, [die Stadt Charkiw] so rasch wie möglich wiederaufzubauen, nachdem wir diesen Unrat, der aus dem Osten über uns hergefallen ist, zurück über die Grenze und ins Nichts geworfen haben.

    die zweite stelle ist ähnlich offen:

    16. Juni 20:41 […] Mehr als alles in der Welt wünscht man sich, dass dieser ganze nördliche Unrat über die Grenze verschwindet und alle Menschen guten Willens wieder die Möglichkeit bekommen, ihrer natürliche Beschäftigung nachzugehen.

    die „tiere“-stelle hingegen ist eindeutig – jedoch handelt es sich nicht um zhadans eigenen text, sondern um einen repost eines freundes, der den Tod eines anderen Freundes betrauert:

    Repost von Wasyl Rjabko 16. März 12:55 […] Heute hat ihn die russische Welt getötet. Die russischen Tiere, die gekommen sind, um uns zu befreien.

    mehr stellen fördert eine textsuche des ebooks von der himmel über charkiw zu den einträgen „tiere“ und „unrat“ nicht zutage – ein repost und zwei seltsam uneindeutige stellen ( aus dem osten oder aus dem norden? ) sind nicht viel für eine so lautstark vorgetragene kritik, die zhadan selbst „barbarische wortwahl“ vorwirft, die begriffe „barbaren“, „horde“, „verbrecher“ für die russländischen soldaten stünden ja auch noch im text, ja darf das denn literatur sein. und die rachefantasie „brennt in der hölle ihr schweine!“, wie sie jutta ditfurth zhadan vorwirft, wobei ditfurth auch hier den märz-repost für zhadans eigene worte hält: nein, das ist der wütende text von wasyl, der seinen besten freund verloren hat, und natürlich gehört das mit ins buch, weil der krieg nichts anderes kann und schafft als zerstörung, überall. doch für genaue lektüre ist keine zeit, man liebt hierzulande seine werteorientierte haltung, seine moralische klarheit und überlegenheit, auch im betrachten eines krieges noch den verwundeten zu sagen, sei ruhig und klage an aber sei nicht wütend und differenziere bitte. bzw in gestalt von harald welzer eine zu große empathie gegenüber zhadan, wenn der in seiner dankesrede sich kritisch über deutsche intellektuelle briefeschreiber ausließ und welzer dann nachher der applaus zu lang war, was er in der formulierung gesinnungsethische überanstrengung zusammenzufassen meinte doch eigentlich ausdrückte, dass er zhadan und sein publikum irgendwie doof fand. es ist eine hübsche empörung gewesen, die sich da durchs deutsche feuilleton getragen hat: einem autor, dessen sämtliche literarische arbeiten getragen sind von einer enormen beobachtungsgabe und größtem verständnis und humanität, der seit 2014 über den russischen angriffskrieg schreibt und weitsichtige kluge doch von all den empörten kaum rezipierte texte publiziert hat, romane, gedichte, tagebücher – warum ich nicht im netz bin, mesopotamien, internat, antenne – und noch im april 2022 in der zeitschrift theater heute sein jüngstes theaterstück lieder von vertreibung und nimmerwiederkehr abgedruckt und im mai in münchen in deutschland erstmals aufgeführt wurde, in all diesen arbeiten ist stets von den verheerungen des krieges und von den diesen krieg erfahren müssenden menschen die rede, verachtung für den krieg und seine zerstörungswut, seine entmenschlichung. aber natürlich ist es einfach, sich darüber zu empören, dass ein autor, der sich unfreiwillig im krieg befindet und tagtäglich den zerstörungen und dem sterben ausgesetzt ist, in seinen fast täglichen notizen auch hochgradig emotional werden kann und sich nicht auch um die menschen unter den uniformen besorgt zeigt, die sein land überfallen, ob die denn alle wussten was sie taten oder ob sie selbst missbraucht und geopfert werden, nur kann das den ukrainer*innen herzlichst egal sein, und sie alle wissen sehr wohl was von höchster russischer stelle aus immer und immer wieder wiederholt wurde und wird und wie lange sie insbesondere in den westen hinein gewarnt haben und der eu-nato-westen dennoch seine russlandgeschäfte betrieb und bis heute nicht zu wenige glauben, man muss nur verhandeln und putins leuten gut zureden – ach es ist ein jämmerliches herumjammern hierzulande dass der friedenspreisträger nicht stets über den frieden und wie man dahingelangen könnte redet, sondern über die menschen im krieg und wie erschöpft wütend überanstrengt hilfsbereit wach und müde er ist ohne zu wissen wann das endet und ob er dann selbst noch da sein wird – ein dokument der tapferkeit wurde das tagebuch genannt, durchhalten, hoffnung finden, trotz allem, und so kann man es auch einfach rezipieren, als dokument aus einem krieg, aus dem krieg des 21. jahrhunderts, an dessen ende eine vollständig andere welt stehen wird und dessen nachwirken sehr tiefgreifend sein wird, auch wenn die russische politische mafiaelite noch lange nicht zusammenbricht, ebensowenig wie das iraner regime, das diesen krieg mit seinen drohnen massiv befeuert und auf gleiche weise wie auch belarus involviert ist: ein krieg der sich sehr lange ziehen oder mit einem möglichen iranischen regimezusammenbruch sehr schnell vorbei sein kann – es ist immer romantisch, im krieg dem frieden einen preis zu widmen, auch und gerade dann wenn die den frieden herbeiflehenden stimmen derart gehetzt und bedroht sind, wie die von zhadan, aber auch die der träger*innen des friedensnobelpreises 2022 memorial, center for civil liberties und ales bialiatski.

  • julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska ist eine von vielen millionen europäerinnen in der ukraine, sie hat in deutschland studiert, in düsseldorf gearbeitet, kehrte in die ukraine nach kiew zurück – im buch wird die lange zeit im deutschen übliche schreibweise verwendet – und wurde wie das gesamte land vom angriffskrieg russlands am morgen des 24. februar 2022 überrascht. ihre erfahrungen, gedanken, gefühle in den tagen sowohl vor als vor allem auch nach der russischen invasion auf ihrer flucht aus kiew durch das land vor dem krieg, dem tod, dem horror, hat sie als tagebuch und in deutschland veröffentlichen können. es ist ein beeindruckendes zeitdokument über die ukraine und ihre mutige bevölkerung in den ersten kriegstagen, und eine wichtige mahnung an alle europäer*innen, sich nicht an diesen russländischen eroberungs- und zerstörungskrieg zu gewöhnen.

    julia solska ist in einem kleinen dorf nördlich von kiew aufgewachsen, in michajliwka-rubeschiwka, wo ihre eltern leben. das dorf ist eine nachbargemeinde der durch die massaker der russischen armee international bekannt gewordenenen orte butscha und irpin, die eltern wollen anfangs das dorf nicht verlassen, erst als russische panzer im ort stehen und die soldaten mit den plünderungen und wahllosen zerstörungen begonnen haben, entschließen sie sich zu einer lebensgefährlichen flucht. julia ist da bereits weit weg und erfährt erst im nachhinein von ihrer rettung. der kontakt mit der familie ist schwierig, da es oft keinen strom zum aufladen der handyakkus gibt, die schwester ist mit ihrer familie in die eine richtung geflohen, julia mit ihrem freund anton nach einem kurzbesuch bei den eltern in den süden von kiew, von dort über zwischenstationen gen westen nach lwiw, nach 14 tagen und einem extremen fußmarsch ist sie schließlich in polen, von wo sie per zufall ein auto nach deutschland mitnimmt. sie lässt ihren freund und viele bekannte ebenso wie ihren kater fran in der ukraine zurück, im unwissen wer die russische aggression überleben wird, doch entschlossen dass putin diesen krieg nicht gewinnen wird:

    ich habe große sorge, dass der westen „kriegsmüde“ wird. die welt hat putin diesen krieg erlaubt. nun sollte sie sich wenigstens nicht an ihn gewöhnen. ich flehe die menschheit an, mein land weiter zu unterstützen, auch mit waffen. jeder, der sagt, gebt russland die krim und was es sonst noch haben will, dann ist frieden, dann haben wir unsere ruhe und müssen uns keine fotos mehr von toten und zerbombten städten ansehen, hat noch nicht verstanden, dass putin nie aufhören wird, bis er die ukraine vollständig erobert hat. danach ist das baltikum dran.

    so schließen julias aufzeichnungen am tag 97 der invasion, 31.mai, ein nachtrag aus deutschland zu den ersten einträgen. es ist ein appell, wie er von serhij zhadan und vielen anderen in der ukraine regelmäßig gegen dürftige bis eitle und selbstgerechte deutsche offene briefe publiziert werden: der krieg hört nicht auf, wenn die ukraine sich nicht mehr verteidigt, der krieg hört erst auf, wenn putin nicht mehr schießen lässt, und das macht er nicht von sich aus, im gegenteil, er möchte die ukraine vernichten. übrigens sagt putin das genau so immer wieder selbst, man sollte ihm einfach mal zuhören statt zu glauben, man könne mit dieser russischen führung verhandeln.

    das lesen ihres tagebuchs führt mehrere dinge vor augen: als erstes und wichtigstes zeigt es die enorme solidarität der menschen untereinander, die auf den irrsinn des krieges mit größter hilfsbereitschaft reagieren, auch nur entfernte freunde oder bekannte von bekannten stellen ihren wohnraum, und sei er noch so klein, zur verfügung, man sorgt sich gegenseitig umeinander und schützt sich miteinander vor dem krieg, die selbstverständlichkeit der fürsorge um die millionen vor dem krieg fliehenden menschen ist ebenso beeindruckend wie auch die fürsorge um die überall anwesenden tiere, seien es katzen, hunde oder eichhörnchen im park. gleichzeitig ruft es die erinnerung an die ersten kriegstage wieder wach, die riesige angst was dort passiert, wohin das führt, welcher wahnsinn in der ukraine losgetreten wurde, mein telefonat am nachmittag mit meinen fassungslosen eltern, die stets geglaubt hatten dass putin nur falsch verstanden wurde, so wie sehr viele in diesem land, zum teil bis heute….. und diese tage sind keine 5 monate her, der krieg ist keine 5 monate alt, ein säugling ist er noch immer, dieses russische monstrum. mir will nicht in den kopf, dass es nicht wenige gibt, die das alles, was dort in der ukraine geschieht, was im tagebuch festgehalten ist, immer noch für lüge und westliche propaganda halten, ausgedacht von irgendwelchen ukrainischen faschisten oder sonstwelchen phantomen, dass es nicht wenige gibt, die ganz bewusst wegschauen und zynisch willfährig groteske gegenwahrheiten und alternative facts behaupten, wissend dass sie lügen und gigantischen dreck produzieren oder konsumieren, und ich begreife die motivation dahinter immer noch nicht, es lässt mich fassungslos zurück, mit großer wut, eine ehemalige kollegin von mir behauptete, dass butscha eine inszenierung sei, eine nachbarin ist weggezogen vor der westlichen propaganda – ausgerechnet ins baltikum, dort wird sie auch nicht glücklich werden….

    zweitens zeigt es sehr klar anhand eines gespräches mit einer frau, eigentlich einer freundin von julia, wie weit sich die ukraine von der russischen föderation mental entfernt hat, wie offen liebral und europäisch die ukrainische bevölkerung ist und wie unbegreiflich das in russland ist. selbst die menschen in ursprünglich russlandfreundlichen städten haben sich längst abgewandt und wollen nichts mit diesem russland zu tun haben. julia nimmt der russischen freundin ihre mutlosigkeit und unterwürfigkeit in den wenigen selbstmitleidigen sätzen übel, so dass sie die freundschaft schließlich beendet. sie leben in völlig anderen politischen realitäten, die in russland noch im sowjetischen verhaftet geblieben sind, während die ukraine sich erstmals 2004 und dann erneut 2014 deutlich davon lossagte, diese realitäten haben sich in die gedanken und handlungen der menschen als selbstverständlich eingeschrieben haben, die liberale julia steht ihrer von der vertikale der macht dominierten russischen freundin fassungslos gegenüber – und dies ist der mentale kern des krieges. die selbstverständlichkeit eines dominanten staates war und ist in russland überall absolut gegenwärtig und niemand stellte es in frage bzw diejenigen, die es taten, sind heute im exil, ermordet oder verhaftet. der russische mensch, so die unmissverständliche ansage putins an den damaligen oligarchen michail chodorkowski, darf nicht politisch sein (chodorkowski brach das gebot und landete im gefängnis und ist heute im exil), der russische mensch ist ein entpolitisiertes objekt in den händen eines nicht zu fassenden unverständlichen staates, russlands macht gegenüber seiner bevölkerung äußert sich in seiner bewussten rätselhaftigkeit, die nicht angst sondern vielmehr verachtung ist. die ukraine hat sich von dieser verachtung stück für stück emanzipiert, kunst und kultur sind im land lebendig, während in russland konservierender stillstand herrscht, eine als unveränderbare normalität begriffene unterwürfigkeit zu einem staat, der kein interesse an seiner bevölkerung hat. dieses kurze gespräch am zehnten tag der invasion verdeutlicht dies unmissverständlich, weshalb julia letztlich auch die gesamte russländische bevölkerung für diesen krieg verantwortlich macht, wenn sie sich nicht gegen den krieg im eigenen land zur wehr setzt. dass dies nicht geschehen wird, sollte nach 5 monaten krieg inzwischen verstanden worden sein. auch meine bekannten, mit denen ich in sibirien zusammenarbeitete und theater spielte, posten videos im zeichen des „z“ oder bezeichnen mich als „blind/geblendet“ von westlicher propaganda. wie sehr die russische von der ukrainischen welt entfernt ist, zeigt eindrucksvoll und bedrückend auch die dokumentation von andrej loschak.

    dieser krieg ist ein monstrum, jeder krieg. doch dieser krieg als völkerrechtswidriger angriff eines revisionistischen russlands gegen ein freies, souveränes land hinterlässt ungeheuerliche folgen, es ist ungeheuer wichtig, dass mit diesem tagebuch das fluchtdokument einer jungen, klugen, erschütterten, wütenden und liebevollen ukrainerin vorliegt und unmissverständlich zeigt, dass es nicht um unsere deutsche angst gehen kann, sondern um die europäische solidarität, dem angegriffenen land ukraine bei der verteidigung gegen einen rücksichtslosen und brutalen aggressor zu helfen, auf welchen wegen auch immer. möglichkeiten und bedarf gibt es jede menge.

    julia solska: als ich im krieg erwachte. tagebuch einer flucht aus der ukraine. edel books, 192 seiten.

  • Russland, eine Ödnis

    Russland, eine Ödnis

    Rückblickend, nach der beginnenden Invasion Russlands in die Ukraine – nur äußerst naive Zeitgenossen glauben mit den russischen „Friedenstruppen“ in der Ostukraine gäbe sich der Leader Putin zufrieden, nicht wenige russische Politiker sprechen bereits von der Eroberung der gesamten Oblaste Donezk und Luhansk, die nicht von den Separatisten besetzt sind, was eigentlich die gesamte Ukraine bedeutet – und damit nach einer weiteren europäischen, weltpolitischen Zäsur des 21. Jahrhunderts, lässt sich feststellen, dass die vergangenen 21 Putin-Regentschaftsjahre kulturell äußerst dürftig gewesen sind, die Faszination für das unbegreifliche, unsinnige Riesenreich Russland (und die Sowjetunion im 20. Jahrhundert), von Thomas Mann in die deutschsprachige Literatur getragen, echot sie auf komische Weise zB in Alexander von Humboldts Russlanddurchquerung in Kehlmanns Vermessung der Welt, auf deutschen Bühnen in der nie verebbten Faszination für Tschechow oder Dostojewski-Adaptionen, geht zurück auf die Faszination russischer Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von Puschkin aufwärts zu Gogol, Lermontow, Turgenjew, fünf Elefanten, jede Menge Tolstoj, Zwetajewa, Achmatowa, Charms etc bis in die 1990er Jahre zu vllt Dmitrij Prigow oder Irina Denezhkina; von Tschaikowsky, Mussorgsky, Glinka zu Prokofjew, Strawinsky, Schostakowitsch; nicht zu vergessen das einflussreiche russisch-sowjetische Kino von Dziga Vertov, Eisenstein, Tarkowski, dazu die Adaptionsfreude westlicher Stoffe – doch im frühen 21.Jahrhundert schwindet diese Faszination, die russische Kulturproduktion ist in den Jahren nach 2010 fast vollständig zum Erliegen gekommen, zumindest was relevante literarische musikalische filmische Produktionen betrifft, entscheidenden Anteil am Verschwinden der künstlerischen Gegenwartsanalysen und Kommentare hatte der Prozess um die Ausstellung „Verbotene Kunst 2006“ und die Verurteilung von Pussy Riot nach deren Gebet in der Erlöserkathedrale 2012, noch in den 1990er Jahren entstanden die russische Kultur prägende Werke, der vllt zentrale Film ist „Brat – der Bruder“ von Alexej Balabanov 1997, der die Stimmung und Abgründe der späten Jelzin-Zeit herausragend einfängt, in den frühen 2000er Jahren meldete sich Andrej Swjaginzew mit „Die Rückkehr“, einem düsteren, pessimistischen Film zu Wort, es entstanden überdrehte Produktionen wie „Nochnoj Dozor“ von Timur Bekmambetov, Künstler*innen wie Zemfira, Splin, Andrej Makarewitsch uva bezogen sich auf den Gründer der russischen modernen Popmusik Viktor Zoi und seine Band Kino – von all dem ist um 2020 nichts mehr erhalten, Zemfira ist verstummt, Splin machen belanglose Musik um sich nicht in Gefahr zu begeben, Makarewitsch wurde für sein Engagement gegen Putin und für Flüchtlinge in der Ostukraine 2014 zum Volksverräter erklärt, der russische Film ist jenseit von Swjaginzews „Leviathan“ und „Loveless“ vollkommen belanglos und international nicht mehr existent, auf der Berlinale 2022 ist gerade einmal ein russischer Kurzfilm zum Klimawandel zu sehen gewesen, die russische Literatur der Gegenwart ist nach der aufregenden Alissa Ganijewa stehengeblieben im vereisten Blick auf vergangene Größe und seine Kanonisierung in Vitrinen, Vladimir Sorokins bitter-sarkastisch-kluge Bücher entstehen inzwischen im Exil, der letzte Literaturnobelpreis an einen ehemals in Russland aktiven Autor ging 1987 an den 1972 ausgebürgerten Joseph Brodsky (der Nobelpreis 2015 ging an die nicht mehr als „russisch“ zu vereinnahmende, sowjetkritische, belarussische Autorin Swelana Alexijewitsch), kurz: die russische bzw russländische Kultur in den Grenzen nach 1991 ist de facto nur noch als Nostalgie, Verlust und Verhinderung existent, nicht aber mehr als relevanter Beitrag zur Gegenwart (mit der winzigen Ausnahme Kirill Serebrennikov, der zur Einhegung des Ungezügelten mit diversen Bannflüchen belegt wurde), ähnlich Irrelevantes lässt sich über den erbärmlichen Wissenschaftsstandort Russland sagen, der seit Jahrzehnten zur Welt nichts mehr beizutragen hat und keine irgendwie relevanten Forschungen betreibt, in Putins Russland werden auch die Oppositionellen heute noch mit einem sowjetischen Kampfstoff getötet, der technologische Standort Russland ist inexistent, dieses Land hat außer purer Größe und militärischer Aggression nichts anzubieten, und vor allem kulturell fällt im Review der ersten zwei von insgesamt 30 Dekaden Putinscher Ewigkeits-Regentschaft – erst im Jahre 2222 verstarb er auf unrühmliche Weise – schmerzhaft auf, wie stumm und leblos dieses einst so einflussreiche Kulturland heute ist bzw: war.

    Update 25.3.22: dieses sehr lesenswerte Interview mit dem Filmregisseur Ilja Chrshanowski im Standard beschreibt die existierende und kommende Ödnis in Russlands Kulturlandschaft herausragend, auch die kommende russische Katastrophe, denn Putin und alle seine Helfer und Wähler und Getreuen und Vasallen zerstören das Land nachhaltig, seit 22 Jahren, in diesem Moment.

  • hwang dong-hyuk – squid game

    hwang dong-hyuk – squid game

    zu dieser serie ist in den vergangenen wochen allerlei gesagt worden, vor allem als erklärungsversuche zum enormen erfolg dieser südkoreanischen netflix-serie. dabei ist der erfolg durchaus folgerichtig, denn das filmland südkorea ist für amerikanische investoren seit über 10 jahren höchst attraktiv, und auf dauer auch lukrativer als der große chinesische markt, dessen wesentliche schwäche seine parteiideologische begrenztheit ist. im gegensatz dazu war das filmland südkorea seit der korean new wave nach ende der militärdiktatur 1987 und seiner sich seitdem fortsetzenden öffnung äußerst produktiv gewesen. ab den späten 1990er jahren sind immer wieder außergewöhnliche filme aus südkorea in diversen festivals erfolgreich, die enorme kreativität und vielfalt des südkoreanischen kinos forderte das publikum heraus und gab neue impulse. filmereignisse wie oldboy, memories of murder, oasis oder samaria und viele weitere herausragende filme der 2000er jahre zeugen von einer einzigartigen vielfalt – wenn auch leider bis heute nur in ausnahmen mit weiblicher handschrift.

    mit einstieg amerikanischer investoren in den südkoreanischen markt ab 2010 lässt sich eine veränderung beobachten, die sich zusammenfassen lässt als annäherung an westliche bzw hollywood-amerikanische sehgewohnheiten und erwartungen. diese annäherung erfolgt durch glättung von ambivalenzen, eindeutigkeiten von figuren, erklärende dialoge, betonung und stärkung von genrefilmen, visuelle makellosigkeit, fokus auf entertainment. the wailing ist dafür ein exzellentes beispiel: optisch großartig im stil des asiatischen horrorkinos, alles ist erklärend auserzählt, die figuren sind moralisch klar auf gut und böse verteilt, den zusehenden wird nichts abverlangt, ein perfekter unterhaltungsfilm. weitere beispiele lassen sich problemlos im crime-genre finden, etwa the suspect oder aktuell the gangster, the cop, the devil. oder im historischen film wie dem teuren, mit koreanischen stars gefüllten the age of shadows oder der admiral. eindeutigkeit und komplexitätsreduktion zugunsten des unterhaltungsfaktors ist den meisten filmen des letzten jahrzehnts eingeschrieben, um koreanisches kino auch international vermarkten zu können. es ist nur ein effekt der zunehmenden korea-fixiertheit der popkultur, die als „hallyu“ oder „koreanische welle“ bezeichnet wird und mit jeder menge leicht und vergnügt goutierbarem aufwartet.

    spätestens seit bong joon-hos parasite ist koreanisches kino im zentrum der aufmerksamkeit und damit markttauglichkeit angekommen. auch wenn sich parasite gegen allzu unterhaltsame lesarten sperrt und durchaus widerständig ist, wie auch einige wenige andere filme wie etwa lee chang-dongs burning oder park chan-wooks die taschendiebin, so sind bong und park schon längst keine unbekannten mehr im amerikanischen kino und haben wie auch kim jee-won in amerika gedreht. (es überrascht nicht, dass snowpiercer, okja, the last stand und stoker alle hinter den möglichkeiten ihrer regisseure zurückbleiben.) insofern ist der erfolg von squid game nur folgerichtig, ebenso wie seine offensive vermarktung.

    squid game, das tintenfischspiel, ist im wesentlichen eine aneinanderreihung bekannter bilder und motive, das ganze in einem dystopischen crime-horror-setting. das wesen der serie ist ihr sadismus, aus dem sterben und quälen von menschen ihren unterhaltungswert zu beziehen. hoffnungslos verschuldete menschen finden sich in einem weltenthobenen lager wieder, wo sie kinderspiele überleben müssen, um am ende eine riesige geldsumme gewinnen zu können, je weniger menschen das überleben, desto mehr geld gibt es am ende. das setting ist ebenso zynisch wie menschenverachtend und in seiner dystopischen anlage so bekannt wie leicht verständlich. nicht zuletzt aus den tributen von panem und ähnlich aufgebauten (ohne todesdrohung natürlich) shows im tv, auch historische erfahrungen menschenverachtender inhaftierung in lagern ruft die serie auf, kz, gulag, usw. es gibt die inhaftierten, es gibt die überwacher, macht und gewalt: den tod als ultimative drohung verstehen alle. das ganze ist dann zuckersüß aufbereitet und netflix-tauglich durch die quietschbunte farbgebung passend zu den brutalen kinderspielen. denn im bunten gewand ist jede grausamkeit erträglich, auch wenn sie noch so expilizit gezeigt wird wie das sich gegenseitige nächtliche abschlachten der inhaftierten, die grelle farbgebung verstärkt den zynismus. und die toten werden in öfen verbrannt – in särgen mit geschenkschleifchen drumgebunden. es ist allzu offensichtlich, dass wir einem entmenschlichenden „spiel“ zuschauen einer im wahrsten sinne gesichtslosen macht (alle täter und schergen auf seiten der spielführung sind maskiert und werden bei enttarnung getötet), die sich in geld und gewalt zeigt: dem „kapital“. diese, nun ja, gesellschaftskritik auf 9 folgen zu strecken und gar noch eine westliche globalisierte finanzelite in goldenen tiermasken – die „v.i.p.s“ – als hintermänner zu präsentieren, zu deren belustigung die spiele veranstaltet werden, ist schon arg dünn, zudem mit antisemitischer note gewürzt.

    squid game hat kein interesse an irgendwelchen gesellschaftskritischen tönen, auch nicht an seinen figuren, die allesamt flat characters sind mit dem naiven aber herzensguten unglücksraben als hauptfigur. wie wenig interesse die serie an den 455 bemitleidenswerten spieler*innen hat (die person 001 hat sich aus spielfreude zu den spielenden gesellt und gehört eigentlich zur bösen elite) zeigt sich bereits im ersten spiel, wo in wenigen minuten über die hälfte von dutzenden maschinengewehren abgeschlachtet werden, ohne dass man etwas über sie erfahren hätte. die überlebenden werden spiel für spiel zu unsolidarischem verhalten erzogen, wie es sich für das competiton-genre im tv gehört. jedoch: bis in folge 7 gibt es – im gegensatz etwa zu tribute von panem – de facto nur den schwarz maskierten spielführer als publikum zu den veranstalteten grausamkeiten, es ist ein in sich geschlossenes system auf einer abgelegenen insel. fast – denn das publikum sitzt natürlich vor den netflix-geräten und kann die entwürdigung und entmenschlichung gemütlich binge-watchen. squid game hat als einziges ziel die unterhaltung, auch wenn sie das selbst anhand der v.i.p.s kritisierend ausstellt, doch die freude über den rekord beim weltweiten serienschauen wird dadurch keineswegs geschmälert, im gegenteil: 111 millionen netflix-abos ziehen sich weltweit zynische kapitalismuskritik zur unterhaltung rein, läuft. das also ist aus dem koreanischen kino inzwischen geworden, wenn es nur ordentlich mit geld gefüttert ist und weltweit erfolgreich sein soll. bunt, sadistisch, substanzlos. und alle kehren zur zweiten staffel vor die geräte zurück. so wie die hauptfigur gi-hun, der sich ohne jede nachvollziehbare motivation beim einstieg ins flugzeug gegen den besuch seiner tochter entscheidet und lieber nochmal zu den kinderspielen 2.0 zurückkehrt. er möchte herausfinden, wer wirklich dahinter steckt, liebe grüße an die verschwörungsfreunde. mehr begründung braucht es offenbar nicht.

    es ist davon auszugehen, dass in staffel 2 alle spuren von armut als gesellschaftlicher makel sowohl aus der figur gi-hun als auch aus der serie weitgehend verschwunden sein werden, denn so richtig ernst genommen als thema der serie hat das ja eigentlich sowieso niemand.

  • Benedict Wells – Fast genial

    Benedict Wells – Fast genial

    Vor Kurzem bin ich über Benedict Wells gestolpert und da ich von ihm noch nie etwas gelesen hatte – er wurde bekannt, als ich viele Jahre nicht in Deutschland lebte -, wollte ich nun einmal wissen, wie sich einer seiner hochgelobten Romane liest, ja vielleicht auch herausfinden, was diese Literatur so erfolgreich macht. Aus Kostengründen entschied ich mich für Fast genial, der auf dem Gebrauchtbüchermarkt am günstigsten zu haben war. Wells, der vor allem für sein Debüt Becks letzter Sommer und später Vom Ende der Einsamkeit ausführlich gefeiert wurde, auch sein aktueller Roman Hard Land findet meist die Gunst der Kritiker*innen. Meist, aber nicht immer. Fast genial jedoch zählt kritikerweit zu den Enttäuschungen, auf Wells‘ bisheriges Gesamtwerk bezogen aber liest er sich wie die Blaupause seiner Literatur.

    Die Story ist einfach: Francis ist ein Teenager an der amerikanischen Ostküste und lebt vaterlos mit seiner schwer depressiven Mutter am untersten Ende der amerikanischen Gesellschaft. Mit seinem Schulfreund Grover und der Krankenhausbekanntschaft Anne-May zieht er los an die Westküste, um dort seinen vorgeblich genialen Vater zu finden. Denn Francis ist das Wunschergebnis seiner Mutter, die sich für ein Experiment den Samen eines genialen Spenders einsetzen ließ in der Erwartung, das ebenso geniale Kind führt zum gesellschaftlichen Aufstieg. Stück für Stück platzen aber die Traumblasen vom besseren Leben, die alle Figuren umschweben, doch Francis versucht sich ein letztes Mal aus der Misere zu befreien – an den Roulettetischen in Las Vegas.

    Das Buch hat alles, was es braucht, um erfolgreich zu sein: es ist konventionell, nicht blöde, süffig, gefühlig, kurzweilig unterhaltend. Was nichts Schlechtes ist, gar nicht. Die Frage für mich ist: Warum interessiert es mich nicht, wieso sagt mir dieser Roman so erstaunlich wenig? Vordergründig geht es bei allen Figuren darum, ihr Dasein zu verlassen und in ein besseres Leben zu wechseln und aufzusteigen, in Francis‘ Las-Vegas-Traum ist das ganz konkret verbildlicht mit dem Wechsel aus dem normalen Saal in eine höhere Etage zu den exklusiven Tischen, an denen die Millionen verjubelt werden. Und natürlich um die Enttäuschung, dass es nur Blendung ist, Flucht vor dem Eigentlichen. Francis‘ Mutter bekommt keinen genialen Sohn, der Samenspender hat seine Biografie gefaket und ist ein kleinkrimineller Loser, die Gründer der Samenbank wollten eine genetisch höherwertige Gesellschaft begründen und erhielten mit den gezeugten Kindern mehrheitlich nur Schrott, wie es eine Figur nennt, die Beziehung der drei roadtrippenden Jugendlichen erweist sich als maximal instabil und auch seine Vaterrolle kann Francis nicht erfüllen. Im Buch wird es als das Potential benannt, das es zu entfalten gilt, und was letztlich nicht gelingt. Denn der ganze american dream vom Aufstieg beruht ja auf Blendung (die Mutter, Francis‘ zwei Lebensträume) und Fälschung (der Vater, Anne-Mays Geschichte) und Irrsinn (die Samenbank). Soweit so schlüssig. In die Banalität gleitet die Geschichte jedoch immer wieder durch die stets anwesende Hollywood-Esoterik des Erkenne dich selbst.

    Aber schon mal daran gedacht, dass du dein Potential erst entfalten kannst, wenn du weißt, wer du bist?

    Das Genre des Road-Movies bzw Romans ist der formale Beleg der Suche nach dem wahren Ich, es ist ein inzwischen ausgekautes Klischee, die Reise in die Fremde ist die Reise zu sich selbst: Wells hat kein Interesse daran, das zu ändern. Diese Selbstsuche findet sich gepaart mit der amerikanischen Leistungsethik, stets alles zu geben, denn nur dem Gewinner gebührt aller Ruhm, wie Francis‘ ehemaliger Ringer-Coach erklärt:

    Nur fast gewonnen zu haben tut am meisten weh. Dann lieber in der zweiten Runde ausscheiden. Aber so weit zu kommen, um dann kurz vor dem Ziel alles zu verlieren, ist das Schlimmste.

    Und so reist die kapitalistische Ideologie ziemlich ungebrochen mit von Küste zu Küste und findet sich immer wieder bestätigt, insbesondere in der Figur Grover, der nämlich keinen Traum verfolgt und mit seinem Dasein ziemlich zufrieden ist, also einfach stets er selbst ist, und daher gar nicht scheitern kann: weshalb er zum Internetstar wird und in Yale landet und einen riesigen Schwanz hat, der in Las Vegas die Tänzerinnen beglückt. Francis hingegen schuftet und gibt alles, um nach vielen Enttäuschungen schließlich erneut in Las Vegas zu landen, und nach allen ausgelegten Fährten und Zeichen und Hinweisen im Roman wird er seinen Traum vom Aufstieg durch Reichtum verwirklichen können – auch wenn das der Roman nicht mehr erzählt. Muss er auch nicht, nichts könnte deutlicher sein als dies: ein besseres Leben ist nur mit viel Geld möglich, Francis braucht eine Million, und sogar die Scheichs und Politiker am Roulette-Tisch sind für Francis‘ Reichtum. Schöner hat der Kapitalismus selten aus einem Roman gelacht. Nicht die Vatersuche ist das Zentrum von Fast genial, sondern die Kasinos von Las Vegas: hier wird aus Träumen Wahrheit. Beim ersten Besuch scheitert Francis noch, doch das zweite Mal ganz offenkundig nicht mehr, und natürlich muss das Wells nicht mehr erzählen, es ist ja alles gesagt: Francis hat sich als würdig erwiesen und sein volles genetisches, mentales Potential entfaltet.

    Der Text ist durchsetzt von allerlei Versatzstücken und Kulissen, die überhaupt nicht erklärt werden müssen, so ziemlich jede westeuropäisch sozialisierte Person hat die entsprechenden Bilder von Trailerparks, New York, San Francisco und all den anderen abziehbildhaften Stationen und Begegnungen im Kopf, es sind reine Filmklischees aus Hollywood, die im Roman aufgerufen und durchexerziert werden, von der eiskalten Psychiatrie-Anstalt über gescheiterte Kleinkriminellen-Existenz im mexikanischen Exil bis hin zum senilen Ex-Nazi-Eugeniker mit maximal klischeehafter Demenz. Alles Leute, denen der Roman unterstellt, an sich selbst und ihrem Selbstbetrug gescheitert zu sein.

    Und damit sind wir im Kern des Buches und in Wells‘ Literatur angekommen: die amerikanische Blaupause. Das große literarische Vorbild ist John Irving. Und von Irving übernimmt Wells all die uramerikanischen Settings und Figurenschablonen: Road-Trip-Stationen, adoleszentes Personal, Francis war Ringer, Vaterlosigkeit, die unterste Stufe der (weißen) Gesellschaft, Grover ist schüchtern, Anne-May erscheint als stark und sexuell höchst attraktiv – und nicht zuletzt die Anklänge an göttliche Eingriffe in die Handlung: In dem Moment, da Francis schon glaubt, die Suche nach seinem Vater sei zu Ende, betritt ein Arzt den Flur und Francis blendet die Sonne – und der Arzt gibt den entscheidenden Tipp. Und all dies taucht in kaum veränderter Form in so gut wie allen Romanen von Wells auf: nur zwei spielen nicht in den USA, nur einer ist strukturell kein Road-Trip, doch alle beziehen sich ohne jede Subtilität auf Irving. Was ist von derart apologetischer Literatur zu halten?

    Alles an Fast genial sieht aus wie ein Film, das Buch liest sich wie ein Roman zum Film, nur dass es den Film noch nicht gibt. Fast genial aber schreit danach, ein deutscher Kinofilm mit Christian Ulmen, Tom Schilling oder Jella Haase zu werden, und natürlich würde das ein erfolgreicher Film, so wie eben deutsches Kino erfolgreich ist. Und darin liegt auch der Erfolg von Wells‘ Literatur begründet: Es ist im Wesentlichen alles bereits bekannt, man fühlt sich von Beginn an Zuhause und mit der in den Romanen gezeichneten Welt vertraut. Der Roman verlangt den Leser*innen nichts ab, die Hauptfiguren sind alle durchwegs sympathisch mit ihren kleinen Macken, es gibt Sex, es gibt Emotionen, und es gibt eine klassische Entwicklungsgeschichte aus der sich irgendwelche Lehrsätze ableiten lassen. Das ist alles äußerst bürgerlich und behaglich, man sieht Verlierertypen jederzeit gern zu, wie sie sich mit aller Kraft aus dem Schlammloch der Armut strampeln und dafür generös Anerkennung von Milliadären erhalten. Interessanterweise gibt es im Roman eine Figur, die dem westlich bürgerlichen Lesepublikum bestens entspricht: Stiefvater Ryan. Der hält sich, wie auch Anne-Mays Eltern, bestmöglich von der Unterschichtenfamilie Francis und Mutter Katherine fern, hat in Manhatten ein Büro mit sexy Sekretärin, ist bisschen verschuldet und zu klein geraten, und gibt Francis widerwillig eine Finanzhilfe, danach will er mit ihm nichts mehr zu tun haben: Armut ist bekanntlich ansteckend. Bzw er stellt seine Armutsverachtung und Leistungsideologie abschließend zur Schau:

    Such dir einen richtigen Job. Auch deine Mutter kann sich eine Arbeit suchen. […] Ich konnte es mir nicht leisten, so faul und weinerlich zu sein wie du.

    Was das normale Bürgertum eben zu Pennern in der U-Bahn auch sagt. Du bist selbst schuld, ich hab selbst hart zu kämpfen, streng dich eben an. Es ist höchst interessant, dass Wells Ryans weißen bürgerlichen Blick auf arme Menschen in eine Erzählung vom Unfalltod des Vaters und zu frühe Übernahme der Vater-Ernährerrolle einbettet und dadurch geradezu entschuldigt. Der Verdacht nach Kritik an den Verhältnissen und ökonomischen Ideologien soll bitte nicht aufkommen, stattdessen imaginiert sich Francis gar noch ein gütiges Abschiedswort seines Stiefvaters. Denn auch das gehört zur bürgerlichen Armutserzählung, dass Armut eigentlich auch befreiend ist und dort die gutherzigen Menschen zu finden sind. Einer wie Francis, der zwar naiv ist und nur fast ganz wenig zur Gewaltphantasie neigt, aber das Herz am richtigen Fleck hat. So ein richtiger Romanheld eben, wie er in Benedict Wells‘ Literatur zu Erfolg kommt. Als Held von Romanen zu ungedrehten Verfilmungen von John-Irving-Büchern.

  • kim ji-young, geboren 1982

    kim ji-young, geboren 1982

    2016 erschien der roman von cho nam-joo über eine typische koreanische frau der gegenwart, vielmehr über ihre selbstverständliche diskriminierung in allen lebenslagen und altersstufen. die rezeption des romans und 2019 auch des filmes führte zu heftigen diskussionen auseinandersetzungen debatten und noch wesentlich mehr anfeindungen beleidigungen attacken gegen alle frauen, die sich zum buch und zur verfilmung öffentlich in korea bekannten. es ist DAS aktuellste virulenteste drängendste soziale problem nicht nur in der koreanischen sondern weltweit allen gesellschaften, denn diese sind trotz einzelner regierungschefinnen nach wie vor in ihrem selbstverständnis misogyn.

    kim ji-young ist 33 jahre alt, lebt mit viel arbeitendem mann und einjähriger tochter in seoul und ist am ende angelangt. sie verhält sich seltsam und ungewöhnlich, ihr mann rät zu einer therapie und der therapeut, mit dessen abschlussbericht der roman endet, vermutet postnatale depression, nichts besonderes. und in der tat sind alle ereignisse, die vorher geschildert werden, die geburt für die sich die mutter dem vater gegenüber entschuldigt da es wieder nur ein mädchen ist, das werdende dritte kind gar deshalb abtreiben lässt, die verhätschelung des dann endlich gekommenen sohnes, die benachteiligung in der schule, die endlosen absagen bei der jobsuche, die schlechterstellung bei der arbeit, gender-pay-gap, jobaufgabe bei schwangerschaft – es ist alles eben nichts besonderes. und genau darin besteht das skandalon: wie selbstverständlich und normal sexismus diskriminierung gewalt in allen momenten des lebens von koreanischen frauen sind. der roman in seiner gesamten gestalt, inhaltlich und formal, erzählt von der absoluten normalität des misogynen in konservativen patriarchalen gesellschaften: die hauptfigur trägt einen allerweltsnamen, die sprache ist bewusst reduziert und als bericht geschrieben, soziologische daten zur ungleichheit von frauen gegenüber männern sind in den text eingefügt als sei kims leben eben auch nur der mittelwert soziologischer studien und erkenntnisse: individuelle eigenschaften werden ihr im roman sehr oft und von allen seiten immer wieder abgesprochen bzw vorgeworfen, sei nicht so, mach nicht dies, verhalte dich anders etc. ihre eigene persönlichkeit wird im laufe des lebens so stark defomiert und zugerichtet, dass sie am ende nur noch sätze und tonlagen derer wiedergibt, die sie gemaßregelt haben.

    die perfektion der deformierung der frau zeigt sich auch an kims schwiegermutter, die ihr gegenüber offen feindselig auftritt, kim beleidigt und zurechtweist, während ihr mann mit ihr liebevoll umgeht, sich allerdings auch nicht für seine frau einsetzt und aus gründen der normalität auf kinder drängt, wissend ihre berufliche karriere damit irreparabel zu zerstören. kim versucht dabei stets alles richtig zu machen und begehrt zu keinem zeitpunkt auf oder wehrt sich gar, da sie die systematische unterdrückung vollkommen internalisiert hat. die sexistische fragestellung an die drei bewerberinnen während des einstellungsgespräches ist nur eines von zahlreichen beispielen, wie exakt choo nam-joo die internalisierung und perfidie darzustellen versteht: auf die frage, wie die frauen auf sexuelle belästigung am arbeitsplatz reagierten, antwortet kim, sie würde versuchen solche situationen künftig zu meiden. die zweite bewerberin würde offen protestieren während die dritte sich selbst dafür verantwortlich macht – am ende stellt sich heraus, dass keine bewerberin die stelle erhalten hat, dass es also egal ist wie sie reagieren: es ist stets falsch. kim selbst empört sich innerlich, doch spricht sie nichts davon aus. die perfidie des patriarchalen liegt darin, die frauen verstummen zu lassen und sie zu vereinzeln: es ist ihr problem, sie ist krank, sie muss behandelt werden. doch der gesamte roman in genau dieser art der beschreibung zeigt: die frau hat kein individualpsychologisches, sondern ein sozialpolitisches problem.

    cho nam-joos roman über die durchschnittsfrau koreas, in dem sie auch ihre eigene lebens- und arbeitssituation mit beschrieb – sie arbeitete als drehbuchautorin im fernsehen und musste aufgrund ihrer schwangerschaft kündigen -, erschien 2016 in korea nach einem mord an einer jungen frau im exponierten seouler stadtteil gangnam, viele frauen solidarisierten sich mit der aus reinem frauenhass getöteten: You died because you are a woman. The rest of us survived only because we were lucky. noch bevor in den usa und europa #metoo die selbstverständlichkeit misogynen und sexuell übergriffigen verhaltens offenlegte, entstand nach dem erscheinen von kim ji-young, geboren 1982 eine frauenbewegung in korea, die den weit verbreiteten sexismus in kultur und gesellschaft anprangerte und deren protagonistinnen heftig angefeindet und bedroht wurden. aus der vehementen ablehnung von feminismus und gleichstellung entstand sogar eine parodie auf choo nam-joos roman, der über diskriminierung von männern faselte.

    auch die 2019 erschienene verfilmung des buches führte zu erneuten „spannungen„, so etwa einen üblen shitstorm gegen die hauptdarstellerin jeong yu-mi, einer petition an den präsidenten den film nicht zu veröffentlichen und haufenweise aufrufen im internet dem film vorab bereits miserable kritiken auszustellen. dabei stellen buch und film sehr genau dar, wie ausweglos der von allen teilen der gesellschaft mitgetragene lebensentwurf für frauen aussieht und wie vehement dieser lebensentwurf eingefordert wird: hausfrau und mutter zu sein, sei für die frau das lebensziel mit nationaler verantwortung. wo den söhnen und männern alle erdenklichen freiheiten und privilegien zugestanden und eingeräumt werden, werden die frauen als rabenmütter disqualifiziert, wenn ihnen in der öffentlichkeit ein missgeschick mit einem kaffeebecher passiert.

    die verfilmung ist der erste film der schauspielerin kim do-young und schiebt den fokus , anders als das buch, im wesentlichen auf die gesellschaftliche kernzelle familie. so bleibt die haupterzählung im film in der gegenwart der 33jährigen kim und konzentriert sich auf ihre begegnungen mit ihrer familie bzw der ihres mannes. sämtliche diskriminierenden muster und verhaltensweisen, insbesondere die internalisierung der diskriminierung als selbstverständlich, so formuliert die verfilmung, werden in der familie erlernt und tradiert, in der schwiegerfamilie bestätigt und bestärkt. das familiäre system aus respekt den älteren generationen gegenüber und der klaren rollenverteilung von männern und frauen scheint für die frauen im wesentlichen auf unterwürfigkeit zu beruhen. in kurzen rückblenden erzählt der film episoden aus kims leben, vorrangig ihrem arbeitsleben, und spart so unter anderem die schule als ort der erniedrigung von mädchen vollständig aus. leider gelingt es dem film nicht so gut, die beklemmung kims sicht- und spürbar zu machen, die musik, farbgebung und bildkompositionen sind eher an gewöhnlichen fernsehfilmen geschult, denen ästhetisch gelungene aufnahmen wichtiger sind als die filmische bildsprache, und dies wird auch nicht als bewusst gewähltes formprinzip deutlich, sondern zeichnet die figuren zu oft einfach nur in warmen weichen licht. auch die von der regisseurin vorgenommene änderung vom psychiater zu einer psychiaterin, um dem publikum eine etwas positivere perspektive zu geben als das resignierende buchende, weicht die trockene, genaue, sezierende analyse des buches auf, dämmt die wucht der feministischen aussagekraft. so wird aus der kühl aufbereiteten aber zornigen schilderung der erdrückenden gegenwart das gedämpfte portrait einer aufgrund unerfüllbarer erwartungshaltungen von familie und arbeit der despression verfallenen frau, das unbedingt ein happy end erzählen möchte.

    cho nam-joo: kim ji-young, geboren 1982. roman. kiwi 2021. 208s, 18€.

    audiobook: gelesen von nele rosetz und felix von manteuffel. argon verlag 2021. 4h45min, 19,95€/15,95€.

    kim do-young: kim ji-young, geboren 1982. südkorea 2019. 119min.

  • walter salles – jia zhangke, a guy from fenyang

    walter salles – jia zhangke, a guy from fenyang

    in diesem dokumentarfilm treffen zwei regisseure aufeinander, deren namen hierzulande wohl nur cineasten kennen, die jedoch zu den wichtigsten und einflussreichsten regisseuren im gegenwärtigen kino zählen. der brasilianer walter salles, der neben eigenen filmen wie seinem bekannten central do brasil, der jack kerouac-verfilmung on the road oder der reise des jungen che auch das drehbuch zum biopic frieda mit selma hayek schrieb oder den herausragenden film city of god über bandenkriminalität in rio produzierte, portraitiert in a guy from fenyang den chinesischen independent-regisseur jia zhangke, in dessen filmen sich die komplexe, widersprüchliche entwicklung chinas in den vergangenen 20 jahren abgebildet findet.

    salles‘ dokumentation begleitet jia zhangke bei gesprächen mit freunden, familienmitgliedern, schauspielern seiner filme in seiner heimatstadt fenyang in der nordchinesischen provinz shanxi. aus den erzählungen und berichten über die filmischen arbeiten jias, die mit vielen ausschnitten der filme begleitet werden, entsteht so ein einblick in den werdegang und die sozialkritische arbeitsweise jias. wie in einer zeitreise kontrastieren die frühen filme das gegenwärtige fenyang und bezeugen die wirtschaftlichen, architektonischen und sozialen veränderungen. so bekräftigt walter salles‘ film das anliegen jia zhangkes, den wandel und die damit einhergehenden brüche chinas in seinen filmen einzufangen im moment der transformation. zudem belegt er die komplizierte situation unabhängiger filmemacher in china, die sich immer wieder mit zensur konfrontiert sehen. der film endet mit dem aufführungsverbot von a touch of sin, einem episodenfilm mit radikaler kritik an chinas real existierendem gewalttätigen kapitalismus.

    die stärke dieses leisen, reichen filmes, der jias entwicklung von seinem ersten film pickpocket, über platform, welt park, still life bis zu a touch of sin zeigt, liegt in der großen nahbarkeit der im film portraitierten persönlichkeiten, die unverstellt offene einblicke in ihr leben und die arbeit geben. das fehlen jeglicher allüren oder dem streben nach einem bestimmten image ist auch ein kennzeichen der filme jias, die selbst immer wieder dokumentarischen charakter haben, am eindrücklichsten wohl in still life, der 2006 in venedig den goldenen löwen gewann. im gegensatz zur chinesischen realität haben jia zhangke und die von ihm regelmäßig wiederbesetzten schauspieler*innen – allen voran die großartige zhao tao – nichts zu verbergen und zu verdecken durch künstlichkeit und bedeutungsvollem reden. eben diese nahbarkeit und unverstelltheit ist das, was jias filme offenbar auch für die zensurbehörde in china verdächtig macht. doch die verbannten filme tauchen als schwarzmarkt-kopien wieder auf und verbreiten sich umso mehr – es gehört zu den eindrücklichen momenten des films, wie jia auf der zugfahrt ( im fenster ist walter salles beim zuhören gespiegelt ) erst von der enttäuschung berichtet, dass sein film nicht gezeigt werden darf, um dann auf dem schwarzmarkt zu erkennen, dass die behörde gegen die verbreitung nichts ausrichten kann. einzig die große kränkung bleibt, statt in einem würdevollen kinosaal lediglich zu aufführungen in abrissreifen cafés eingeladen werden zu können.

    die dokumentation a guy from fenyang lief 2015 lediglich auf der berlinale und blieb in europa so gut wie unbeachtet, trotz der international bekannten namen, obwohl jia zhangkes filme regelmäßig auf festivals, insbesondere in cannes, zu sehen sind. jia zhangke gilt seit anfang der 2000er jahre als eine der wichtigsten stimmen im chinesischen kino abseits aller vereinnahmungen aus hollywood, seine fähigkeit, die wenig erheiternde realität in der provinz shanxi, aus der ein drittel der chinesischen kohle stammt, in so nüchterne wie beeindruckend traumhafte bilder und erzählungen zu übersetzen, verdient hierzulande wesentlich mehr aufmerksamkeit, denn wie der new yorker 2011 befand: Jia is simply one of the best and most important directors in the world.

    walter salles: jia zhangke, a guy from fenyang. brasilien 2014, 105min.

  • kim ki-duk 1960-2020

    kim ki-duk 1960-2020

    die corona-pandemie hält trotz aller impfstoff-entwicklungen weiter an und gestern, am 11.12.2020, wenige tage vor seinem 60.geburtstag, verstarb leider auch kim ki-duk an einer covid-19-erkrankung in lettland. für die internationale kino-welt ist dies ein extremer verlust, im koreanischen kino hinterlässt kim eine riesige lücke, auch wenn sein ruf nach (unbestätigten) anschuldigungen sexuellen missbrauchs und gewalt gegen eine schauspielerin seines films moebius gelitten hatte.

    kim gehört unzweifelhaft zu den prägenden regisseuren des koreanischen kinos und des internationalen autorenfilms nach 1990. seine filme sind von extremen situationen und gegensätzen geprägt, gewalt und rohheit gehören ebenso zu seinen stilmitteln wie eine schutzversprechende abgeschiedenheit und stille bis zur völligen stummheit. die individuellen geschichten steigern sich immer wieder zu hochkomplexen symbolischen fabeln über die widersprüchliche verfasstheit der koreanischen gesellschaft und dem in oder außerhalb ihrer einen platz suchenden individuen, vorrangig jugendlichen oder jungen erwachsenen. kims eigene kindheit und sein gewalttätiger, ihn misshandelnder vater finden sich in seinen filmen ebenso verarbeitet wie seine armeezeit und die ihren weg suchende koreanische gesellschaft nach dem ende der militärdiktatur 1990.

    in europa am bekanntesten dürfte der zugängliche und hochkonzentrierte film frühling, sommer, herbst, winter … und frühling von 2003 sein. er ist eine beinah hypnotische reflexion über einen vom kind zum mann heranwachsenden menschen, der seiner schuld auch mit meditativer religiöser anstrengung in strengster einsamkeit und weltferne nicht entkommt. auch wenn die wichtigsten motive kims – strenge, einsamkeitserfahrung, weltabgewandtheit, religiöse motivik – hier kunstvoll versammelt sind, so ist die extreme körperliche gewalt in diesem film weitgehend ausgespart. wie sehr gewalt oder gewaltdrohung in kims filmen die funktion der kommunikation übernehmen, bezeugen der einsatz des titelgebenden bogens in hwal und der ebenfalls im original als titel verwendeten 3er golfschläger in bin-jip – leere häuser (im original 3-iron). dass die (expliziten und psychologischen) gewaltdarstellungen in seinen filmen das zeitgenössische koreanische publikum überforderte, lässt sich an kims ersten wichtigen internationalen erfolg seom – die insel und noch mehr am als skandalös empfundenen bad guy verstehen: kim übertritt alle grenzen der sehgewohnheiten und konfrontiert sein publikum mit archetypen und hochkomplexen ambivalenzen, bildsprache und (oft abwesende) figurensprache sind sich ergänzende kontraste, die verhältnisse und beziehungen der figuren zueinander variieren und wechseln, eindeutigkeiten im sinne einer moralischen klaren lehre sind nicht möglich. trotz aller formen von gewalt – bis hin zu extrem fordernder blutroher schuld-und-rache-erzählung wie in moebius oder vorwürfen des exzesshaften wie in human, space, time and human – bleibt doch immer die erkenntnis, dass kim gewalt erzählt, weil sie teil des menschen und seiner ausdrucksweise ist, er sie doch stets als schockierend ablehnt.

    kim selbst wurde von einer angedrohten gewalttat derart schockiert, dass er 2008 in eine tiefe krise und depression verfiel, nachdem sich eine schauspielerin für seinen film dream das leben nehmen wollte. nach 12 jahren ununterbrochener schaffenszeit und insgesamt 15 filmen zog sich kim in die einsamkeit zurück. drei jahre später veröffentlichte er das äußerst intime selbstporträt dieser krise: arirang. die radikalität von kim ki-duk und seinem kino ist in diesem sowie dem nachfolgenden film pieta, der in venedig den goldenen löwen gewann, eindrücklich festgehalten. es sind filme von überwindungen, bezwingungen, nur allerdings gänzlich unheroisch, ohne naturmystik oder heldenkitsch, sondern so roh und intim und hochverletztlich wie nur möglich. in arirang quält sich kim und ringt mit sich selbst, ohne dass es je larmoyant und eitel würde. in pieta muss sich ein brutaler schuldeneintreiber seiner eigenen schuld stellen, als unerwartet seine lang verlorene mutter bei ihm auftaucht. das stets komplexe hochemotionale verhältnis der geschlechter und generationen gleichermaßen zueinander ist ein weiteres zentrales motiv in kims filmen, sei es in pieta der sohn und die ihn bergende mutter, in hwal die kindhafte frau und der alte mann, oder in samaria die jugendliche sich prostituierende tochter und der überforderte vater.

    kims arbeit an den erzählungen der archetypen ist nun unvermittelt abgebrochen, sein einfluss auf das gegenwärtige kino zwar gering, doch als „außenseiter“ mit einer sowohl radikalen bildsprache als auch eigener lebensführung haben seine filme das kino nachhaltig bereichert. niemand hat so klar wie ambivalent, leise wie grausam von den psychologischen untiefen erzählt wie kim. eine revision seines werkes steht aus, doch dazu müssten seine filme überhaupt erst einmal in deutschland verfügbar sein, derzeit sind lediglich pieta, moebius, seom und arirang als stream abrufbar, dvds von filmen der frühen 2000er-phase nur noch antiquarisch. und viele sind bis heute in deutschland gar nicht erschienen, darunter der als einer seiner wichtigsten filme geltende adress unknown. auch hier klafft also eine enorme lücke.