Kategorie: vinegar

dies ist essig

  • Russland, eine Ödnis

    Russland, eine Ödnis

    Rückblickend, nach der beginnenden Invasion Russlands in die Ukraine – nur äußerst naive Zeitgenossen glauben mit den russischen „Friedenstruppen“ in der Ostukraine gäbe sich der Leader Putin zufrieden, nicht wenige russische Politiker sprechen bereits von der Eroberung der gesamten Oblaste Donezk und Luhansk, die nicht von den Separatisten besetzt sind, was eigentlich die gesamte Ukraine bedeutet – und damit nach einer weiteren europäischen, weltpolitischen Zäsur des 21. Jahrhunderts, lässt sich feststellen, dass die vergangenen 21 Putin-Regentschaftsjahre kulturell äußerst dürftig gewesen sind, die Faszination für das unbegreifliche, unsinnige Riesenreich Russland (und die Sowjetunion im 20. Jahrhundert), von Thomas Mann in die deutschsprachige Literatur getragen, echot sie auf komische Weise zB in Alexander von Humboldts Russlanddurchquerung in Kehlmanns Vermessung der Welt, auf deutschen Bühnen in der nie verebbten Faszination für Tschechow oder Dostojewski-Adaptionen, geht zurück auf die Faszination russischer Kultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, von Puschkin aufwärts zu Gogol, Lermontow, Turgenjew, fünf Elefanten, jede Menge Tolstoj, Zwetajewa, Achmatowa, Charms etc bis in die 1990er Jahre zu vllt Dmitrij Prigow oder Irina Denezhkina; von Tschaikowsky, Mussorgsky, Glinka zu Prokofjew, Strawinsky, Schostakowitsch; nicht zu vergessen das einflussreiche russisch-sowjetische Kino von Dziga Vertov, Eisenstein, Tarkowski, dazu die Adaptionsfreude westlicher Stoffe – doch im frühen 21.Jahrhundert schwindet diese Faszination, die russische Kulturproduktion ist in den Jahren nach 2010 fast vollständig zum Erliegen gekommen, zumindest was relevante literarische musikalische filmische Produktionen betrifft, entscheidenden Anteil am Verschwinden der künstlerischen Gegenwartsanalysen und Kommentare hatte der Prozess um die Ausstellung „Verbotene Kunst 2006“ und die Verurteilung von Pussy Riot nach deren Gebet in der Erlöserkathedrale 2012, noch in den 1990er Jahren entstanden die russische Kultur prägende Werke, der vllt zentrale Film ist „Brat – der Bruder“ von Alexej Balabanov 1997, der die Stimmung und Abgründe der späten Jelzin-Zeit herausragend einfängt, in den frühen 2000er Jahren meldete sich Andrej Swjaginzew mit „Die Rückkehr“, einem düsteren, pessimistischen Film zu Wort, es entstanden überdrehte Produktionen wie „Nochnoj Dozor“ von Timur Bekmambetov, Künstler*innen wie Zemfira, Splin, Andrej Makarewitsch uva bezogen sich auf den Gründer der russischen modernen Popmusik Viktor Zoi und seine Band Kino – von all dem ist um 2020 nichts mehr erhalten, Zemfira ist verstummt, Splin machen belanglose Musik um sich nicht in Gefahr zu begeben, Makarewitsch wurde für sein Engagement gegen Putin und für Flüchtlinge in der Ostukraine 2014 zum Volksverräter erklärt, der russische Film ist jenseit von Swjaginzews „Leviathan“ und „Loveless“ vollkommen belanglos und international nicht mehr existent, auf der Berlinale 2022 ist gerade einmal ein russischer Kurzfilm zum Klimawandel zu sehen gewesen, die russische Literatur der Gegenwart ist nach der aufregenden Alissa Ganijewa stehengeblieben im vereisten Blick auf vergangene Größe und seine Kanonisierung in Vitrinen, Vladimir Sorokins bitter-sarkastisch-kluge Bücher entstehen inzwischen im Exil, der letzte Literaturnobelpreis an einen ehemals in Russland aktiven Autor ging 1987 an den 1972 ausgebürgerten Joseph Brodsky (der Nobelpreis 2015 ging an die nicht mehr als „russisch“ zu vereinnahmende, sowjetkritische, belarussische Autorin Swelana Alexijewitsch), kurz: die russische bzw russländische Kultur in den Grenzen nach 1991 ist de facto nur noch als Nostalgie, Verlust und Verhinderung existent, nicht aber mehr als relevanter Beitrag zur Gegenwart (mit der winzigen Ausnahme Kirill Serebrennikov, der zur Einhegung des Ungezügelten mit diversen Bannflüchen belegt wurde), ähnlich Irrelevantes lässt sich über den erbärmlichen Wissenschaftsstandort Russland sagen, der seit Jahrzehnten zur Welt nichts mehr beizutragen hat und keine irgendwie relevanten Forschungen betreibt, in Putins Russland werden auch die Oppositionellen heute noch mit einem sowjetischen Kampfstoff getötet, der technologische Standort Russland ist inexistent, dieses Land hat außer purer Größe und militärischer Aggression nichts anzubieten, und vor allem kulturell fällt im Review der ersten zwei von insgesamt 30 Dekaden Putinscher Ewigkeits-Regentschaft – erst im Jahre 2222 verstarb er auf unrühmliche Weise – schmerzhaft auf, wie stumm und leblos dieses einst so einflussreiche Kulturland heute ist bzw: war.

    Update 25.3.22: dieses sehr lesenswerte Interview mit dem Filmregisseur Ilja Chrshanowski im Standard beschreibt die existierende und kommende Ödnis in Russlands Kulturlandschaft herausragend, auch die kommende russische Katastrophe, denn Putin und alle seine Helfer und Wähler und Getreuen und Vasallen zerstören das Land nachhaltig, seit 22 Jahren, in diesem Moment.

  • hwang dong-hyuk – squid game

    hwang dong-hyuk – squid game

    zu dieser serie ist in den vergangenen wochen allerlei gesagt worden, vor allem als erklärungsversuche zum enormen erfolg dieser südkoreanischen netflix-serie. dabei ist der erfolg durchaus folgerichtig, denn das filmland südkorea ist für amerikanische investoren seit über 10 jahren höchst attraktiv, und auf dauer auch lukrativer als der große chinesische markt, dessen wesentliche schwäche seine parteiideologische begrenztheit ist. im gegensatz dazu war das filmland südkorea seit der korean new wave nach ende der militärdiktatur 1987 und seiner sich seitdem fortsetzenden öffnung äußerst produktiv gewesen. ab den späten 1990er jahren sind immer wieder außergewöhnliche filme aus südkorea in diversen festivals erfolgreich, die enorme kreativität und vielfalt des südkoreanischen kinos forderte das publikum heraus und gab neue impulse. filmereignisse wie oldboy, memories of murder, oasis oder samaria und viele weitere herausragende filme der 2000er jahre zeugen von einer einzigartigen vielfalt – wenn auch leider bis heute nur in ausnahmen mit weiblicher handschrift.

    mit einstieg amerikanischer investoren in den südkoreanischen markt ab 2010 lässt sich eine veränderung beobachten, die sich zusammenfassen lässt als annäherung an westliche bzw hollywood-amerikanische sehgewohnheiten und erwartungen. diese annäherung erfolgt durch glättung von ambivalenzen, eindeutigkeiten von figuren, erklärende dialoge, betonung und stärkung von genrefilmen, visuelle makellosigkeit, fokus auf entertainment. the wailing ist dafür ein exzellentes beispiel: optisch großartig im stil des asiatischen horrorkinos, alles ist erklärend auserzählt, die figuren sind moralisch klar auf gut und böse verteilt, den zusehenden wird nichts abverlangt, ein perfekter unterhaltungsfilm. weitere beispiele lassen sich problemlos im crime-genre finden, etwa the suspect oder aktuell the gangster, the cop, the devil. oder im historischen film wie dem teuren, mit koreanischen stars gefüllten the age of shadows oder der admiral. eindeutigkeit und komplexitätsreduktion zugunsten des unterhaltungsfaktors ist den meisten filmen des letzten jahrzehnts eingeschrieben, um koreanisches kino auch international vermarkten zu können. es ist nur ein effekt der zunehmenden korea-fixiertheit der popkultur, die als „hallyu“ oder „koreanische welle“ bezeichnet wird und mit jeder menge leicht und vergnügt goutierbarem aufwartet.

    spätestens seit bong joon-hos parasite ist koreanisches kino im zentrum der aufmerksamkeit und damit markttauglichkeit angekommen. auch wenn sich parasite gegen allzu unterhaltsame lesarten sperrt und durchaus widerständig ist, wie auch einige wenige andere filme wie etwa lee chang-dongs burning oder park chan-wooks die taschendiebin, so sind bong und park schon längst keine unbekannten mehr im amerikanischen kino und haben wie auch kim jee-won in amerika gedreht. (es überrascht nicht, dass snowpiercer, okja, the last stand und stoker alle hinter den möglichkeiten ihrer regisseure zurückbleiben.) insofern ist der erfolg von squid game nur folgerichtig, ebenso wie seine offensive vermarktung.

    squid game, das tintenfischspiel, ist im wesentlichen eine aneinanderreihung bekannter bilder und motive, das ganze in einem dystopischen crime-horror-setting. das wesen der serie ist ihr sadismus, aus dem sterben und quälen von menschen ihren unterhaltungswert zu beziehen. hoffnungslos verschuldete menschen finden sich in einem weltenthobenen lager wieder, wo sie kinderspiele überleben müssen, um am ende eine riesige geldsumme gewinnen zu können, je weniger menschen das überleben, desto mehr geld gibt es am ende. das setting ist ebenso zynisch wie menschenverachtend und in seiner dystopischen anlage so bekannt wie leicht verständlich. nicht zuletzt aus den tributen von panem und ähnlich aufgebauten (ohne todesdrohung natürlich) shows im tv, auch historische erfahrungen menschenverachtender inhaftierung in lagern ruft die serie auf, kz, gulag, usw. es gibt die inhaftierten, es gibt die überwacher, macht und gewalt: den tod als ultimative drohung verstehen alle. das ganze ist dann zuckersüß aufbereitet und netflix-tauglich durch die quietschbunte farbgebung passend zu den brutalen kinderspielen. denn im bunten gewand ist jede grausamkeit erträglich, auch wenn sie noch so expilizit gezeigt wird wie das sich gegenseitige nächtliche abschlachten der inhaftierten, die grelle farbgebung verstärkt den zynismus. und die toten werden in öfen verbrannt – in särgen mit geschenkschleifchen drumgebunden. es ist allzu offensichtlich, dass wir einem entmenschlichenden „spiel“ zuschauen einer im wahrsten sinne gesichtslosen macht (alle täter und schergen auf seiten der spielführung sind maskiert und werden bei enttarnung getötet), die sich in geld und gewalt zeigt: dem „kapital“. diese, nun ja, gesellschaftskritik auf 9 folgen zu strecken und gar noch eine westliche globalisierte finanzelite in goldenen tiermasken – die „v.i.p.s“ – als hintermänner zu präsentieren, zu deren belustigung die spiele veranstaltet werden, ist schon arg dünn, zudem mit antisemitischer note gewürzt.

    squid game hat kein interesse an irgendwelchen gesellschaftskritischen tönen, auch nicht an seinen figuren, die allesamt flat characters sind mit dem naiven aber herzensguten unglücksraben als hauptfigur. wie wenig interesse die serie an den 455 bemitleidenswerten spieler*innen hat (die person 001 hat sich aus spielfreude zu den spielenden gesellt und gehört eigentlich zur bösen elite) zeigt sich bereits im ersten spiel, wo in wenigen minuten über die hälfte von dutzenden maschinengewehren abgeschlachtet werden, ohne dass man etwas über sie erfahren hätte. die überlebenden werden spiel für spiel zu unsolidarischem verhalten erzogen, wie es sich für das competiton-genre im tv gehört. jedoch: bis in folge 7 gibt es – im gegensatz etwa zu tribute von panem – de facto nur den schwarz maskierten spielführer als publikum zu den veranstalteten grausamkeiten, es ist ein in sich geschlossenes system auf einer abgelegenen insel. fast – denn das publikum sitzt natürlich vor den netflix-geräten und kann die entwürdigung und entmenschlichung gemütlich binge-watchen. squid game hat als einziges ziel die unterhaltung, auch wenn sie das selbst anhand der v.i.p.s kritisierend ausstellt, doch die freude über den rekord beim weltweiten serienschauen wird dadurch keineswegs geschmälert, im gegenteil: 111 millionen netflix-abos ziehen sich weltweit zynische kapitalismuskritik zur unterhaltung rein, läuft. das also ist aus dem koreanischen kino inzwischen geworden, wenn es nur ordentlich mit geld gefüttert ist und weltweit erfolgreich sein soll. bunt, sadistisch, substanzlos. und alle kehren zur zweiten staffel vor die geräte zurück. so wie die hauptfigur gi-hun, der sich ohne jede nachvollziehbare motivation beim einstieg ins flugzeug gegen den besuch seiner tochter entscheidet und lieber nochmal zu den kinderspielen 2.0 zurückkehrt. er möchte herausfinden, wer wirklich dahinter steckt, liebe grüße an die verschwörungsfreunde. mehr begründung braucht es offenbar nicht.

    es ist davon auszugehen, dass in staffel 2 alle spuren von armut als gesellschaftlicher makel sowohl aus der figur gi-hun als auch aus der serie weitgehend verschwunden sein werden, denn so richtig ernst genommen als thema der serie hat das ja eigentlich sowieso niemand.

  • Benedict Wells – Fast genial

    Benedict Wells – Fast genial

    Vor Kurzem bin ich über Benedict Wells gestolpert und da ich von ihm noch nie etwas gelesen hatte – er wurde bekannt, als ich viele Jahre nicht in Deutschland lebte -, wollte ich nun einmal wissen, wie sich einer seiner hochgelobten Romane liest, ja vielleicht auch herausfinden, was diese Literatur so erfolgreich macht. Aus Kostengründen entschied ich mich für Fast genial, der auf dem Gebrauchtbüchermarkt am günstigsten zu haben war. Wells, der vor allem für sein Debüt Becks letzter Sommer und später Vom Ende der Einsamkeit ausführlich gefeiert wurde, auch sein aktueller Roman Hard Land findet meist die Gunst der Kritiker*innen. Meist, aber nicht immer. Fast genial jedoch zählt kritikerweit zu den Enttäuschungen, auf Wells‘ bisheriges Gesamtwerk bezogen aber liest er sich wie die Blaupause seiner Literatur.

    Die Story ist einfach: Francis ist ein Teenager an der amerikanischen Ostküste und lebt vaterlos mit seiner schwer depressiven Mutter am untersten Ende der amerikanischen Gesellschaft. Mit seinem Schulfreund Grover und der Krankenhausbekanntschaft Anne-May zieht er los an die Westküste, um dort seinen vorgeblich genialen Vater zu finden. Denn Francis ist das Wunschergebnis seiner Mutter, die sich für ein Experiment den Samen eines genialen Spenders einsetzen ließ in der Erwartung, das ebenso geniale Kind führt zum gesellschaftlichen Aufstieg. Stück für Stück platzen aber die Traumblasen vom besseren Leben, die alle Figuren umschweben, doch Francis versucht sich ein letztes Mal aus der Misere zu befreien – an den Roulettetischen in Las Vegas.

    Das Buch hat alles, was es braucht, um erfolgreich zu sein: es ist konventionell, nicht blöde, süffig, gefühlig, kurzweilig unterhaltend. Was nichts Schlechtes ist, gar nicht. Die Frage für mich ist: Warum interessiert es mich nicht, wieso sagt mir dieser Roman so erstaunlich wenig? Vordergründig geht es bei allen Figuren darum, ihr Dasein zu verlassen und in ein besseres Leben zu wechseln und aufzusteigen, in Francis‘ Las-Vegas-Traum ist das ganz konkret verbildlicht mit dem Wechsel aus dem normalen Saal in eine höhere Etage zu den exklusiven Tischen, an denen die Millionen verjubelt werden. Und natürlich um die Enttäuschung, dass es nur Blendung ist, Flucht vor dem Eigentlichen. Francis‘ Mutter bekommt keinen genialen Sohn, der Samenspender hat seine Biografie gefaket und ist ein kleinkrimineller Loser, die Gründer der Samenbank wollten eine genetisch höherwertige Gesellschaft begründen und erhielten mit den gezeugten Kindern mehrheitlich nur Schrott, wie es eine Figur nennt, die Beziehung der drei roadtrippenden Jugendlichen erweist sich als maximal instabil und auch seine Vaterrolle kann Francis nicht erfüllen. Im Buch wird es als das Potential benannt, das es zu entfalten gilt, und was letztlich nicht gelingt. Denn der ganze american dream vom Aufstieg beruht ja auf Blendung (die Mutter, Francis‘ zwei Lebensträume) und Fälschung (der Vater, Anne-Mays Geschichte) und Irrsinn (die Samenbank). Soweit so schlüssig. In die Banalität gleitet die Geschichte jedoch immer wieder durch die stets anwesende Hollywood-Esoterik des Erkenne dich selbst.

    Aber schon mal daran gedacht, dass du dein Potential erst entfalten kannst, wenn du weißt, wer du bist?

    Das Genre des Road-Movies bzw Romans ist der formale Beleg der Suche nach dem wahren Ich, es ist ein inzwischen ausgekautes Klischee, die Reise in die Fremde ist die Reise zu sich selbst: Wells hat kein Interesse daran, das zu ändern. Diese Selbstsuche findet sich gepaart mit der amerikanischen Leistungsethik, stets alles zu geben, denn nur dem Gewinner gebührt aller Ruhm, wie Francis‘ ehemaliger Ringer-Coach erklärt:

    Nur fast gewonnen zu haben tut am meisten weh. Dann lieber in der zweiten Runde ausscheiden. Aber so weit zu kommen, um dann kurz vor dem Ziel alles zu verlieren, ist das Schlimmste.

    Und so reist die kapitalistische Ideologie ziemlich ungebrochen mit von Küste zu Küste und findet sich immer wieder bestätigt, insbesondere in der Figur Grover, der nämlich keinen Traum verfolgt und mit seinem Dasein ziemlich zufrieden ist, also einfach stets er selbst ist, und daher gar nicht scheitern kann: weshalb er zum Internetstar wird und in Yale landet und einen riesigen Schwanz hat, der in Las Vegas die Tänzerinnen beglückt. Francis hingegen schuftet und gibt alles, um nach vielen Enttäuschungen schließlich erneut in Las Vegas zu landen, und nach allen ausgelegten Fährten und Zeichen und Hinweisen im Roman wird er seinen Traum vom Aufstieg durch Reichtum verwirklichen können – auch wenn das der Roman nicht mehr erzählt. Muss er auch nicht, nichts könnte deutlicher sein als dies: ein besseres Leben ist nur mit viel Geld möglich, Francis braucht eine Million, und sogar die Scheichs und Politiker am Roulette-Tisch sind für Francis‘ Reichtum. Schöner hat der Kapitalismus selten aus einem Roman gelacht. Nicht die Vatersuche ist das Zentrum von Fast genial, sondern die Kasinos von Las Vegas: hier wird aus Träumen Wahrheit. Beim ersten Besuch scheitert Francis noch, doch das zweite Mal ganz offenkundig nicht mehr, und natürlich muss das Wells nicht mehr erzählen, es ist ja alles gesagt: Francis hat sich als würdig erwiesen und sein volles genetisches, mentales Potential entfaltet.

    Der Text ist durchsetzt von allerlei Versatzstücken und Kulissen, die überhaupt nicht erklärt werden müssen, so ziemlich jede westeuropäisch sozialisierte Person hat die entsprechenden Bilder von Trailerparks, New York, San Francisco und all den anderen abziehbildhaften Stationen und Begegnungen im Kopf, es sind reine Filmklischees aus Hollywood, die im Roman aufgerufen und durchexerziert werden, von der eiskalten Psychiatrie-Anstalt über gescheiterte Kleinkriminellen-Existenz im mexikanischen Exil bis hin zum senilen Ex-Nazi-Eugeniker mit maximal klischeehafter Demenz. Alles Leute, denen der Roman unterstellt, an sich selbst und ihrem Selbstbetrug gescheitert zu sein.

    Und damit sind wir im Kern des Buches und in Wells‘ Literatur angekommen: die amerikanische Blaupause. Das große literarische Vorbild ist John Irving. Und von Irving übernimmt Wells all die uramerikanischen Settings und Figurenschablonen: Road-Trip-Stationen, adoleszentes Personal, Francis war Ringer, Vaterlosigkeit, die unterste Stufe der (weißen) Gesellschaft, Grover ist schüchtern, Anne-May erscheint als stark und sexuell höchst attraktiv – und nicht zuletzt die Anklänge an göttliche Eingriffe in die Handlung: In dem Moment, da Francis schon glaubt, die Suche nach seinem Vater sei zu Ende, betritt ein Arzt den Flur und Francis blendet die Sonne – und der Arzt gibt den entscheidenden Tipp. Und all dies taucht in kaum veränderter Form in so gut wie allen Romanen von Wells auf: nur zwei spielen nicht in den USA, nur einer ist strukturell kein Road-Trip, doch alle beziehen sich ohne jede Subtilität auf Irving. Was ist von derart apologetischer Literatur zu halten?

    Alles an Fast genial sieht aus wie ein Film, das Buch liest sich wie ein Roman zum Film, nur dass es den Film noch nicht gibt. Fast genial aber schreit danach, ein deutscher Kinofilm mit Christian Ulmen, Tom Schilling oder Jella Haase zu werden, und natürlich würde das ein erfolgreicher Film, so wie eben deutsches Kino erfolgreich ist. Und darin liegt auch der Erfolg von Wells‘ Literatur begründet: Es ist im Wesentlichen alles bereits bekannt, man fühlt sich von Beginn an Zuhause und mit der in den Romanen gezeichneten Welt vertraut. Der Roman verlangt den Leser*innen nichts ab, die Hauptfiguren sind alle durchwegs sympathisch mit ihren kleinen Macken, es gibt Sex, es gibt Emotionen, und es gibt eine klassische Entwicklungsgeschichte aus der sich irgendwelche Lehrsätze ableiten lassen. Das ist alles äußerst bürgerlich und behaglich, man sieht Verlierertypen jederzeit gern zu, wie sie sich mit aller Kraft aus dem Schlammloch der Armut strampeln und dafür generös Anerkennung von Milliadären erhalten. Interessanterweise gibt es im Roman eine Figur, die dem westlich bürgerlichen Lesepublikum bestens entspricht: Stiefvater Ryan. Der hält sich, wie auch Anne-Mays Eltern, bestmöglich von der Unterschichtenfamilie Francis und Mutter Katherine fern, hat in Manhatten ein Büro mit sexy Sekretärin, ist bisschen verschuldet und zu klein geraten, und gibt Francis widerwillig eine Finanzhilfe, danach will er mit ihm nichts mehr zu tun haben: Armut ist bekanntlich ansteckend. Bzw er stellt seine Armutsverachtung und Leistungsideologie abschließend zur Schau:

    Such dir einen richtigen Job. Auch deine Mutter kann sich eine Arbeit suchen. […] Ich konnte es mir nicht leisten, so faul und weinerlich zu sein wie du.

    Was das normale Bürgertum eben zu Pennern in der U-Bahn auch sagt. Du bist selbst schuld, ich hab selbst hart zu kämpfen, streng dich eben an. Es ist höchst interessant, dass Wells Ryans weißen bürgerlichen Blick auf arme Menschen in eine Erzählung vom Unfalltod des Vaters und zu frühe Übernahme der Vater-Ernährerrolle einbettet und dadurch geradezu entschuldigt. Der Verdacht nach Kritik an den Verhältnissen und ökonomischen Ideologien soll bitte nicht aufkommen, stattdessen imaginiert sich Francis gar noch ein gütiges Abschiedswort seines Stiefvaters. Denn auch das gehört zur bürgerlichen Armutserzählung, dass Armut eigentlich auch befreiend ist und dort die gutherzigen Menschen zu finden sind. Einer wie Francis, der zwar naiv ist und nur fast ganz wenig zur Gewaltphantasie neigt, aber das Herz am richtigen Fleck hat. So ein richtiger Romanheld eben, wie er in Benedict Wells‘ Literatur zu Erfolg kommt. Als Held von Romanen zu ungedrehten Verfilmungen von John-Irving-Büchern.

  • kim ji-young, geboren 1982

    kim ji-young, geboren 1982

    2016 erschien der roman von cho nam-joo über eine typische koreanische frau der gegenwart, vielmehr über ihre selbstverständliche diskriminierung in allen lebenslagen und altersstufen. die rezeption des romans und 2019 auch des filmes führte zu heftigen diskussionen auseinandersetzungen debatten und noch wesentlich mehr anfeindungen beleidigungen attacken gegen alle frauen, die sich zum buch und zur verfilmung öffentlich in korea bekannten. es ist DAS aktuellste virulenteste drängendste soziale problem nicht nur in der koreanischen sondern weltweit allen gesellschaften, denn diese sind trotz einzelner regierungschefinnen nach wie vor in ihrem selbstverständnis misogyn.

    kim ji-young ist 33 jahre alt, lebt mit viel arbeitendem mann und einjähriger tochter in seoul und ist am ende angelangt. sie verhält sich seltsam und ungewöhnlich, ihr mann rät zu einer therapie und der therapeut, mit dessen abschlussbericht der roman endet, vermutet postnatale depression, nichts besonderes. und in der tat sind alle ereignisse, die vorher geschildert werden, die geburt für die sich die mutter dem vater gegenüber entschuldigt da es wieder nur ein mädchen ist, das werdende dritte kind gar deshalb abtreiben lässt, die verhätschelung des dann endlich gekommenen sohnes, die benachteiligung in der schule, die endlosen absagen bei der jobsuche, die schlechterstellung bei der arbeit, gender-pay-gap, jobaufgabe bei schwangerschaft – es ist alles eben nichts besonderes. und genau darin besteht das skandalon: wie selbstverständlich und normal sexismus diskriminierung gewalt in allen momenten des lebens von koreanischen frauen sind. der roman in seiner gesamten gestalt, inhaltlich und formal, erzählt von der absoluten normalität des misogynen in konservativen patriarchalen gesellschaften: die hauptfigur trägt einen allerweltsnamen, die sprache ist bewusst reduziert und als bericht geschrieben, soziologische daten zur ungleichheit von frauen gegenüber männern sind in den text eingefügt als sei kims leben eben auch nur der mittelwert soziologischer studien und erkenntnisse: individuelle eigenschaften werden ihr im roman sehr oft und von allen seiten immer wieder abgesprochen bzw vorgeworfen, sei nicht so, mach nicht dies, verhalte dich anders etc. ihre eigene persönlichkeit wird im laufe des lebens so stark defomiert und zugerichtet, dass sie am ende nur noch sätze und tonlagen derer wiedergibt, die sie gemaßregelt haben.

    die perfektion der deformierung der frau zeigt sich auch an kims schwiegermutter, die ihr gegenüber offen feindselig auftritt, kim beleidigt und zurechtweist, während ihr mann mit ihr liebevoll umgeht, sich allerdings auch nicht für seine frau einsetzt und aus gründen der normalität auf kinder drängt, wissend ihre berufliche karriere damit irreparabel zu zerstören. kim versucht dabei stets alles richtig zu machen und begehrt zu keinem zeitpunkt auf oder wehrt sich gar, da sie die systematische unterdrückung vollkommen internalisiert hat. die sexistische fragestellung an die drei bewerberinnen während des einstellungsgespräches ist nur eines von zahlreichen beispielen, wie exakt choo nam-joo die internalisierung und perfidie darzustellen versteht: auf die frage, wie die frauen auf sexuelle belästigung am arbeitsplatz reagierten, antwortet kim, sie würde versuchen solche situationen künftig zu meiden. die zweite bewerberin würde offen protestieren während die dritte sich selbst dafür verantwortlich macht – am ende stellt sich heraus, dass keine bewerberin die stelle erhalten hat, dass es also egal ist wie sie reagieren: es ist stets falsch. kim selbst empört sich innerlich, doch spricht sie nichts davon aus. die perfidie des patriarchalen liegt darin, die frauen verstummen zu lassen und sie zu vereinzeln: es ist ihr problem, sie ist krank, sie muss behandelt werden. doch der gesamte roman in genau dieser art der beschreibung zeigt: die frau hat kein individualpsychologisches, sondern ein sozialpolitisches problem.

    cho nam-joos roman über die durchschnittsfrau koreas, in dem sie auch ihre eigene lebens- und arbeitssituation mit beschrieb – sie arbeitete als drehbuchautorin im fernsehen und musste aufgrund ihrer schwangerschaft kündigen -, erschien 2016 in korea nach einem mord an einer jungen frau im exponierten seouler stadtteil gangnam, viele frauen solidarisierten sich mit der aus reinem frauenhass getöteten: You died because you are a woman. The rest of us survived only because we were lucky. noch bevor in den usa und europa #metoo die selbstverständlichkeit misogynen und sexuell übergriffigen verhaltens offenlegte, entstand nach dem erscheinen von kim ji-young, geboren 1982 eine frauenbewegung in korea, die den weit verbreiteten sexismus in kultur und gesellschaft anprangerte und deren protagonistinnen heftig angefeindet und bedroht wurden. aus der vehementen ablehnung von feminismus und gleichstellung entstand sogar eine parodie auf choo nam-joos roman, der über diskriminierung von männern faselte.

    auch die 2019 erschienene verfilmung des buches führte zu erneuten „spannungen„, so etwa einen üblen shitstorm gegen die hauptdarstellerin jeong yu-mi, einer petition an den präsidenten den film nicht zu veröffentlichen und haufenweise aufrufen im internet dem film vorab bereits miserable kritiken auszustellen. dabei stellen buch und film sehr genau dar, wie ausweglos der von allen teilen der gesellschaft mitgetragene lebensentwurf für frauen aussieht und wie vehement dieser lebensentwurf eingefordert wird: hausfrau und mutter zu sein, sei für die frau das lebensziel mit nationaler verantwortung. wo den söhnen und männern alle erdenklichen freiheiten und privilegien zugestanden und eingeräumt werden, werden die frauen als rabenmütter disqualifiziert, wenn ihnen in der öffentlichkeit ein missgeschick mit einem kaffeebecher passiert.

    die verfilmung ist der erste film der schauspielerin kim do-young und schiebt den fokus , anders als das buch, im wesentlichen auf die gesellschaftliche kernzelle familie. so bleibt die haupterzählung im film in der gegenwart der 33jährigen kim und konzentriert sich auf ihre begegnungen mit ihrer familie bzw der ihres mannes. sämtliche diskriminierenden muster und verhaltensweisen, insbesondere die internalisierung der diskriminierung als selbstverständlich, so formuliert die verfilmung, werden in der familie erlernt und tradiert, in der schwiegerfamilie bestätigt und bestärkt. das familiäre system aus respekt den älteren generationen gegenüber und der klaren rollenverteilung von männern und frauen scheint für die frauen im wesentlichen auf unterwürfigkeit zu beruhen. in kurzen rückblenden erzählt der film episoden aus kims leben, vorrangig ihrem arbeitsleben, und spart so unter anderem die schule als ort der erniedrigung von mädchen vollständig aus. leider gelingt es dem film nicht so gut, die beklemmung kims sicht- und spürbar zu machen, die musik, farbgebung und bildkompositionen sind eher an gewöhnlichen fernsehfilmen geschult, denen ästhetisch gelungene aufnahmen wichtiger sind als die filmische bildsprache, und dies wird auch nicht als bewusst gewähltes formprinzip deutlich, sondern zeichnet die figuren zu oft einfach nur in warmen weichen licht. auch die von der regisseurin vorgenommene änderung vom psychiater zu einer psychiaterin, um dem publikum eine etwas positivere perspektive zu geben als das resignierende buchende, weicht die trockene, genaue, sezierende analyse des buches auf, dämmt die wucht der feministischen aussagekraft. so wird aus der kühl aufbereiteten aber zornigen schilderung der erdrückenden gegenwart das gedämpfte portrait einer aufgrund unerfüllbarer erwartungshaltungen von familie und arbeit der despression verfallenen frau, das unbedingt ein happy end erzählen möchte.

    cho nam-joo: kim ji-young, geboren 1982. roman. kiwi 2021. 208s, 18€.

    audiobook: gelesen von nele rosetz und felix von manteuffel. argon verlag 2021. 4h45min, 19,95€/15,95€.

    kim do-young: kim ji-young, geboren 1982. südkorea 2019. 119min.

  • pedro mairal – auf der anderen seite des flusses

    pedro mairal – auf der anderen seite des flusses

    die literaturproduktion in den jahren vor corona ( falls die pandemie sich jenseits von tagebüchern relevant literarisch niederschlägt ) befand sich offenkundig bereits in einer krise, die man nur am rande wahrgenommen hat, da sie marktinhärent war : eine außerordentliche überproduktion von romanen oder romanartigen prosatexten, ein auf verkäuflichkeit basierender literaturbegriff, der als idealfall den bestseller annimmt, damit einhergehend eine stetige entwertung der ware buch und seinen literarischen inhalten. als einer der vielen belege dieser vielfachen überlastung des buchmarktes kann pedro mairals auf der anderen seite des flusses gelesen werden. er ist inhaltlich belanglos, eitel bis zur lächerlichkeit und war ein internationaler so großer bestseller, dass er auch im übersättigten deutschen markt erscheinen musste.

    der 2016 in argentinien unter dem titel la uruguaya erschienene text ist ein dokument dafür, was autoren erzählen, wenn sie eigentlich überhaupt nichts zu erzählen haben : sie reden weitschweifig von sich selbst und ihrer eigenen privaten krise, natürlich im gewand eines anderen. der schriftsteller lucas, ein uninteressanter mensch in den 40ern, fährt von buenos aires ins auf der anderen seite des flusses gelegene montevideo, um dort sehr viel geld als buchvorschuss in empfang zu nehmen und eine unvollendete geliebte wiederzutreffen, die ihn aber ausrauben lässt, so dass er arm und geprügelt zurückkehren muss und seine eh schon angeknackste ehe zerbricht. eine solche geschichte könnte reichlich möglichkeiten zu reflexionen über soziale politische wirtschaftliche gesellschaftliche themen argentiniens bieten vor dem kontrastierenden hintergrund uruguays, tatsächlich dient sich der roman eher als rieseführer durch montevideo an und beschäftigt sich ausschließlich mit der selbstbespiegelung von lucas. dem deutschen cover nach könnte man vllt eine schwule liebesgeschichte im stile von vargas llosa erhoffen, doch der roman ist so vollkommen hetero, dass es peinlich schmerzt. die uruguayerin guerra, die dem originaltext den titel gibt, ist der feuchte traum eines jeden midlife-befindlichen manns mit ehe- & sinnkrise : mistkerl. ich will, dass du mich vögelst haucht die mitte-20-jährige sexbombe ihm ins ohr und an ausführlichen beschreibungen ihres intimpiercings wird nicht gespart. ebensowenig an beschreibungen des ach so beschwerlichen elternalltags, die banalitäten eines sich selbst toll findenden aber nicht zu potte kommenden autors, die lächerlichen treue- & liebesschwüre des verlassenen mannes an seine exfrau, und zu schlechter letzt auch noch das kernproblem dieser ganzen story : nicht nur hat ihn die uruguayerin nicht gevögelt und auch noch ausrauben lassen und seine frau sich ein neues leben gesucht – sie ist auch noch mit einer frau zusammen, was für lucas kaum zu ertragen ist und ihr ungefiltert ungebrochen mansplainend ihr leben erklärt :

    Meine Liebelei aus der Ferne war reichlich kindisch. Du brauchtest meine Story, um deine erzählen zu können. […] Was du mir dann sagtest, hätte ich nie für möglich gehalten: Ich habe mich in jemanden verliebt, es ist eine Freundin. Eine Frau? Aber du bist nicht lesbisch. […] Mein Kopf dröhnte. Ich vermute, dass ich das weiterhin verarbeiten muss, und ich bin immer noch gekränkt. […] Und ich blieb verletzt, in sexueller Hinsicht, meine ich, der Macho, fertig, erledigt. […] In letzter Zeit treffe ich mich mit meiner Yogalehrerin. […] Wir machen es auf die tantrische Art. […] Eine echte Milf. […] Was mich am meisten fasziniert, ist, dass ich sie heftig bumse, fest an den Hüften packe […] Ich erzähle das, weil ich in letzter Zeit viel über Familie und Ehe nachdenke. Das klingt jetzt, als ob ich den Überlegenen spiele, aber ich meine das hier ganz ernst: Wir müssen eine neue Denkweise entwickeln. […] Vielleicht könnten wir etwas gemeinsam unternehmen und sogar zusammen in den Urlaub fahren. […] Ich nehme an, dass sich die Idee von Familie gewandelt hat. Sie hat etwas von einem Bausteinprinzip.

    etc etc etc so dümmlich selbstgefällig dozierend schmierig bettelnd geht es am ende des romans seitenlang zu, und da lucas seinen sohn allein und ohne auto von der schule abholt, entblödet er sich sogar, von sich selbst als wir fortschrittlichen väter zu fabulieren und in keinem einzigen satz schimmert durch, dass dieser männlich-larmoyante unsinn – wohlwollende männliche rezensenten finden diesen ton spielerisch plaudernd und wunderbar komisch – irgendwie anders gemeint sein könnte, als wie er da steht ich meine das hier ganz ernst : einem selbstverliebten gockel dabei zuzusehen, wie er einen 170seitigen brief an seine exfrau verfasst um sie zurückzugewinnen ( ich kann sie mir nicht anders als in lachen ausbrechend vorstellen, evtl peinlich berührt, dass sie mit diesem deppen ein kind gezeugt hat ) und damit seine größte niederlage zu verarbeiten, nämlich die ehefrau verloren und von der geliebten (als geliebte imaginierte) vorgeführt worden zu sein, diese story ins gewand eines künstlerromans zu kleiden, denn den künstlern wird der größte mist noch als heilig abgenommen – es steht nicht gut um die literatur der gegenwart.

    das eigentlich erstaunliche an den bestsellern ist ja, dass sie zwar eine erhöhte papierproduktion zur folge haben, aber ihr literarisch-kultureller einfluss verschwindend gering ist. die bestseller-produktion ist lediglich eine kategorie zur geldgewinnung und materialverbrennung, von dem letztlich gesellschaftlich nichts übrig bleiben wird. die argentinische tageszeitung la nacíon beschrieb mairals text so: Mit großer Dynamik erforscht dieser Roman, auf welch unterschiedliche Weise sich sexuelles Begehren auf Liebe, Geld und Literatur auswirken kann. abgesehen davon, dass der roman gar nichts erforscht außer die untiefen maskuliner selbstverklärung – ist das behauptete forschungsinteresse überhaupt von irgendeinem interesse? man könnte profan antworten : wer fickt, schreibt nicht. egal auf welcher seite des flusses.

    pedro mairal: auf der anderen seite des flusses. übersetzt von carola s fischer. mare, hamburg 2020. 176s. 20€.

  • drago jančar – die nacht, als ich sie sah

    drago jančar – die nacht, als ich sie sah

    von der gier zu leben verkündet der rücktitel dieses buches, in dem es nur vordergründig um eine faszinierende junge frau in zeiten des krieges geht, tatsächlich um eine darstellung bürgerlicher rückwärtsgewandtheit und das verhältnis von kultur zu tier: in drago jančars reaktionärem roman kommt u.a. ein wehrmachtsoffizier kritikfrei zu ehren und partisanen werden als unzivilisierte waldwilde geschildert. karl-markus gauß findet das meisterlich gut.

    die nacht, als ich sie sah ist ein buch, das sich auf eine wahre begebenheit zu beginn des jahres 1944 im heutigen slowenien bezieht und daraus das kapital der rehabilitation der kriegsparteien schlägt, sofern sie der alten k.u.k-bürgerlichkeit nahestehen. die junge frau veronika ist noch zur zeit des jugoslawischen königreiches mit dem slowenischen industriellen leo verheiratet, beginnt eine liebschaft beim reitunterricht – oh so schlüpfrig – mit einem feschen serbischen offizier der königsgarde, die beiden werden in den hintersten serbischen winkel strafversetzt, veronika ist irgendwann so angeödet vom rückständigen hinterdörflerdasein, dass sie via zagreb zurück in die vergebenden arme leos flieht, ihn erneut heiratet und auf seinem bei lubljana befindlichen herrschaftshaus lebt, bis das paar von partisanen als kolloborateure und kriegsgewinnler verhaftet und wohl noch am selben tag im wald hingerichtet und verscharrt wird. jančar erzählt diese geschichte in fünf kapiteln aus fünf blickwinkeln überlebender beteiligter kurze zeit nach kriegsende. das könnte soweit als modern durchgehen, wenn – ja wenn der ganze roman nicht wäre, denn den anfang der fünf zeugen macht der serbische offizier, der für sich genommen eine karikatur einer joseph-roth-figur abgibt, nur ist er gar nicht komisch angelegt: der kerl meint es in seiner hoffnungslos veralteten steifheit loyalität liebesberauschtheit ehrbewusstheit patriotismus absolut ernst. und nach ihm veronikas greise mutter, die ausschließlich in der vergangenheit lebt und diese betrauert. nach dieser der wehrmachtsoffizier, der den bösen verdacht der kolloboration zerstreuen möchte, da er ja als arzt nicht so wirklich zur wehrmacht gehört, ein bisschen reue über den krieg empfindet und bei leo und veronika auch nur zu klavierabenden als gast weilte. nach diesem dann das dienstpersonal, das noch einmal die großzügige und gebildete herrschaft preist und das verbrechen gesühnt sehen möchte. und ganz am schluss ein verräter, ein partisan aus dem wald, der zuvor auch als gärtner dem paar diente – jančar versucht gar nicht erst, seine sympathien irgendwie zu kaschieren, lässt die ersten vier erzähler*innen die eleganz und gebildetheit veronikas preisen und sie übertreten jederzeit mühelos die schwelle zum kitsch:

    Der Mond schien auf ihr glattes blondes Haar. Die Gnädige sang: „Tutti mi chiamano bionda, ma bionda io non sono…“ und tanzte durchs Zimmer, sie war ganz versunken in ihre Erinnerungen.

    während die partisanen ihre antipoden sind und bleiben werden:

    Sie kamen mitten im Winter, wie nächtliche Wölfe. […] Plötzlich liefen sie durch die Burg, gingen in die Zimmer, durchwühlten Schubladen und trugen verschiedene Sachen auf den Burghof. Sie fragten nichts, sagten nicht, weshalb sie gekommen waren und was sie suchten, sie schrien oder drohten nicht, schweigend taten sie ihre Arbeit, nur hier und da fiel ein abgerissener Befehl.

    eine stärkere, plakativere, dämlichere schwarz-weiß-zeichnung lässt sich kaum denken. und jančar revidiert diese konstellation im gesamten roman nicht. wenn man den furchtbar altbacken und gekünstelt klingenden text auch nur im ansatz ernst nehmen oder mit interesse lesen wollte, so fehlt jegliche entwicklung, jegliche veränderung in den behaupteten perspektivwechseln. es ist stets ein einziges lamento über das untergegangene, geraubte, kulturlos ermordete schöne: veronika lässt sich als sexuell überladene allegorie des serbischen könig-/habsburgischen kaiserreichs lesen, die blond-blöd-eitel mit alligator und wallender mähne umherspazierenden großbürgerliche herrlichkeit – die gestaltgewordene vormoderne, dessen verschwinden der roman betrauert. klebrig wird das ganze durch die vollständige zurückweisung politischen kontextes – veronika trägt die selbstverständlichen züge der unschuld, quasiheilig und fin-de-siècle-femme fatale in eins gequetscht, böswillig kulturlos von wilden aus dem wald zerstört.

    damit ist er eine variation des schon damals eklig reaktionären romans die glut des damals als wiederentdeckung gefeierten sándor márai. das besondere detail: der anfangs erwähnte karl-markus gauß, der selbst sehr lesenswerte bücher über minderheiten europas schrieb, nannte in der süddeutschen zeitung maráis roman kulissenschieberei, aus dem der staub altösterreichs riesele und wunderte sich über die lächerliche ernsthaftigkeit des textes. gleicher gauß stellt zwanzig jahre später im gleichen blatt einen im grunde identischen roman als ein meisterwerk der europäischen erzählkunst vor. wie doch die zeit vergeht.

    womöglich gibt es eine spezifisch slowenische perspektive auf diese zeit und ihre ereignisse, die den öden bis lächerlichen bis relativierenden und reaktionären text selbst in anderes licht stellen könnten. denn die jahre nach dem ersten weltkrieg und bis zum beginn der jugoslawischen volksrepublik sind für ungeschulte leser*innen im grunde nicht zu erfassen. dass etwa zur slowenischen spezifik ihr status als banschaft drau im königreich jugoslawien gehört, zugleich die territorialen varianzen und herrschaftswechsel des gebietes des heutigen sloweniens, teile zu italien gehörend, teile zum jugoslawischen königreich, dann deutsche herrschaft und/oder deutsche militärverwaltung der operationszone adria, flankiert vom kroatischen, faschistischen ustascha-staat – es gäbe vieles, das ein guter verlag zur historischen einordnung, als lektürestütze, als weiterführende informationen beigefügt hätten haben können, für das leseverständnis sehr wahrscheinlich notwendige anmerkungen, um auszugweise den historischen kontext der ganzen sache zu erfassen. und so vielleicht auch den schock nachvollziehbar zu machen, den die proletarischen partisanen beim vom krieg und von jeher in allen politischen konstellationen profitierenden großbürgertum auslösten: den schock zu wissen, dass man nun nicht mehr einfach davonkommt, denn die königlich-vormoderne ordnung stützte sich auf die wahrheit, dass soldaten die kleinen leute sind, die in den kriegen für das überleben des kapitals ihre rübe hinhalten – nun, in diesem zweiten weltkrieg, aber eben nicht mehr. dass er mit dem kriegsende 1945 bzw in der nacht… bereits mit dem tod veronikas die tradierte ordnung für ewig an „wölfe“ verloren hat, beklagt jančar also wortreich und schreibt sich so ein in einen von männern dominierten konservativen bis reaktionären, intellektuell zutiefst antimodernen, in konsequenz antieuropäischen literaturzirkel (tellkamp, handke, lewitscharoff etc), um den man getrost einen großen historischen bogen machen darf.

    drago jančar. die nacht, als ich sie sah. folio 2015. 200s. 19,90€.

  • colson whitehead – die nickel boys

    colson whitehead – die nickel boys

    wir müssen über übersetzungen reden. war das vorige buch eine herausragende arbeit der großartigen terézia mora, so ist die vorliegende übersetzung des etwas weniger bekannten henning ahrens mindestens diskutabel, stellt vor allem in sachen lektoratsarbeit für den verlag hanser kein gutes zeugnis aus. der eigentliche roman von colson whitehead verblasst dahinter weitgehend.

    die geschichte des dreiteiligen romans die nickel boys ist rasch erzählt. 1) der intelligente aber naive elwood curtis lebt anfang der 1960er jahre mit seiner großmutter in einer kleinen amerikanischen südstaatengemeinde und hilft im örtlichen lebensmittelladen. als er unerwartet für ein college vorgeschlagen wird und die zusage erhält, könnte ihm eine glänzende zukunft eröffnet werden, so wie es rev. dr. king in seinen reden andeutet, doch aufgrund eines fatalen zufalls landet er 2) im nickel, einer verwahranstalt für kriminelle und sozial auffällige jugendliche. dort wird er misshandelt und gedemütigt in einem system, das vollständig jenseits aller gesellschaftlicher aufmerksamkeit steht. bei einem fluchtversuch mit seinem besten freund turner wird elwood erschossen, doch 3) turner nimmt ihn zu ehren seine identität an und lebt viele jahre später in new york ein recht solides leben. eines tages offenbart er sich seiner lebensgefährtin und nachforschungen zu den verbrechen im nickel beginnen.

    der roman steht gänzlich im schatten des viel beachteten und ausgezeichneten, von nikolaus stingl übersetzten railroad underground, eine rasante fahrt durch die untiefen amerikanischer unterdrückung von black americans. die nickel boys zeichnen ein anderes bild, das wesentlich von den hoffnungen zur teilhabe an der amerikanischen gesellschaft und den brutalen enttäuschungen bestimmt wird. die geschichte von elwood beginnt damit, dass er eine schallplatte mit reden martin luther kings immer wieder hört und diese als ermutigung begreift. elwoods tod und das weitertragen seines andenkens durch turner spiegelt auf eigene weise den mord an dr. king und seiner enormen nachwirkung: turner/elwood hat 20 jahre nach der flucht in new york fuß gefasst und ein eigenes business eröffnet, das symbol schlechthin für die verwirklichung des american dream. es ist colson whitehead hoch anzurechnen, dass er diese geschichte, insbesondere auch die kapitel in der anstalt, ohne moral larmoyanz und pathos schildert, sondern sehr nah an seiner hauptfigur elwood bleibt und damit dessen erleben schildert, ohne es wertend auszustellen. es geht weniger um den aspekt der unterdrückung der schwarzen bevölkerung, sondern um den von schweren rückschlägen geprägten, schmerzvollen aber letztlich in teilen erfolgreichen weg zur selbstbestimmung in freiheit. in teilen, da new york und dessen einzigartige atmosphäre keineswegs die nach wie vor rassistisch geprägte usa repräsentiert.

    was nun die übersetzung ahrens‘ problematisch macht, ist dass es ihm nicht gelingt, diesen konflikt und bezug zu rev. dr. kings reden sprachlich sichtbar zu machen, ja vielmehr verstellen falsche begriffe und fragwürdige übersetzungen den roman. die spezielle sprachlichkeit des black american english im text whiteheads schafft ahrens zu keinem zeitpunkt zu transportieren. die deutsche fassung klingt meist beamtet und in vielen formulierungen ungelenk im vergleich zum oft lakonischen original: That was Elwood – as good as anyone. spreizt sich zu Das war Elwood – genauso viel wert wie jeder andere. mag das unbedeutend erscheinen und eine für übersetzungen typische oder kaum zu vermeidende unschärfe, so wird es durchaus ärgerlich im gebrauch von begriffen, die im deutschen einen sehr konkreten kontext haben, der im roman absolut nichts zu suchen hat. so heißt es in der deutschen ausgabe auf s.78:

    Er hatte in einer Kleinstadt zum Tanken gehalten. In einer Stadt der Weißen, einer Stadt der Wutbürger.

    das ist offenkundiger unsinn. der wutbürger existiert als begriff erst seit ca. 2010 und hat keinerlei bezug zur passage des romans, der in den amerikanischen 1960er jahren spielt. die originalpassage hält daher auch vollkommen andere begriffe parat, die einen gänzlich anderen fokus haben:

    He’d stopped for gas in one of those little towns. Cracker town, crack-your-head-town.

    cracker ist insbesondere im black american english ein abwertender begriff für weiße, für selbstverständlich ihre weißen rassistischen privilegien auslebenden und verteidigenden weißen, vergleichbar mit dem heutigen von migrantischen communities geprägten, pejorativ-amüsierten almans für deutsche, die ihr eigenes verhalten normativ setzen und abweichungen davon im sinne einer „leitkultur“ lautstark disqualifizieren. auch wenn dieser kontext sich nicht ohne weiteres in einem wort überträgt, so könnte man die mit cracker town formulierte haltung zb mit wichser-stadt deutlich besser als im rein formalen stadt der weißen transportieren. und eine crack-your-head-town ist auch nicht nur eine stadt mit „wutbürgern“, was immer man sich darunter vorstellen mag, sondern gemeint ist die klare bedrohung, als schwarzer dort totgeprügelt zu werden: die übersetzung ist hier verharmlosend und verfälschend.

    ähnlich schwere irrtümer im sprachgebrauch unterlaufen ahrens / hanser im bezug auf die amerikanische rassistische unterdrückung, die im roman als selbstverständliche nicht änderbare bedingung für die schwarzen beschrieben wird: wenn im original von racial matters gesprochen wird und im deutschen die rassenfrage gestellt wird, befinden wir uns klar auf dem völlig falschen gebiet der rassentheorie – allerdings ist im american english der begriff race nicht in diesem biologistisch-diskriminierenden konzept zu sehen. race ist in allererster bedeutung eine offene beschreibungskategorie für volkszählungen, vergleichbar mit ethnie oder volksgruppe, also etwas sehr unkonkretem, das der selbstbeschreibung dient und das nicht auf scheinwissenschaftlichen begründungen beruht. ein satz wie The boy was intelligent and hardworking and a credit to his race. ist also komplett unzutreffend mit Der Junge war intelligent und fleißig und eine Zierde für seine Rasse. übertragen. es ist nicht begreiflich, warum der bereits 1950 deutlich zurückgewiesene historisch veraltete rasse-begriff in ahrens‘ übertragung kommentarlos neben heutigen ausdrücken steht, was die sprachliche einordnung des textes und des erzählers – der in der rückschau die ereignisse schildert – ziemlich durcheinanderbringt.

    vollends problematisch wird die übersetzung im selbstverständlichen gebrauch des n-wortes – wobei im original-text stets der begriff Negro verwendet wird: Elwood asked his grandmother when Negroes were going to start staying at the Richmond […] was bei ahrens so klingt: Elwood wollte von seiner Großmutter wissen, wann die ersten N* im Richmond wohnen würden [anm: unkenntlichmachung von a&v] wobei mit staying eher übernachten als wohnen gemeint ist und vor allem: das wort Negro muss aus figurensicht elwoods gelesen werden und bekommt im zusammenhang mit der erwähnten schallplatte von dr. king einen klaren kontext: king hat immer wieder in seinen reden den begriff Negro verwendet als selbstermächtigung und selbstvergewisserung der black americans, auch als sozialen begriff – damit ist es vom deutschen n-wort, das nie als „schwarze“ selbstbezeichnung verwendet wurde, insbesondere im kontext des romans deutlich unterschieden und es wäre dem originaltext whiteheads angemessen gewesen, den englischen begriff zu übernehmen, zumal im roman selbst längere passagen aus reden von dr. king eingefügt und gelegentlich englische formulierungen kursiv wiedergegeben sind, allerdings völlig unklar nach welchen kriterien. ahrens und hanser haben sich aus welchen gründen auch immer entschieden, dem text damit nicht nur unschärfen hinzuzufügen, etwa a brown face mit eine farbige Person etc zu übersetzen, sondern insgesamt rücksichtslos vorzugehen, verwirrend bis verfälschend in den text einzugreifen, die komplexität und bedeutung des themas rassismus nicht erfasst zu haben.

    daher plädiere ich dringend dafür, den roman in neuer übersetzung zu veröffentlichen, die sich der rassistischen gewalt in der sprache ebenso bewusst ist wie der autor.

    es mag zur entlastung ahrens‘ gelten, dass übersetzungen insbesondere aus dem englischen heutzutage unter großem zeitdruck entstehen müssen, das arbeitspensum sollte bei mindestens 4 seiten pro tag liegen, was für literarisch anspruchsvolle texte eine große herausforderung für übersetzer*innen bedeutet – und eine quelle für fehler. dass derart offensichtliche fehler jedoch im buch verblieben sind, deutet auf ein unzureichendes lektorat seitens des verlages hin. zudem ist die wahl ahrens‘ als übersetzer für the nickel boys nur nachzuvollziehen, wenn man den bekanntheitsgrad des übersetzers vor qualität setzt. ahrens besitzt viel expertise mit übersetzungen aus dem englischen, allerdings mehrheitlich von irischen, englischen und weißen amerikanischen autor*innen wie hugo hamilton, richard powers oder gar arthur conan doyle. von colson whitehead hatte er 2000 lediglich dessen erstling the intuitionist / die fahrstuhlinspektorin übertragen, zusätzliche erfahrungen mit schwarzen englischsprachigen autor*innen hat er hingegen nicht. insofern verwundert der wenig sensible umgang mit sprachlichen besonderheiten der nickel boys nur insofern, als dass der verlag offenbar selbst wenig sorgfalt an die durchsicht der übertragung gelegt hat, um das buch möglichst rasch auf den markt zu bringen. tatsächlich ist die deutsche ausgabe des guten, mit dem pulitzer-preis ausgezeichneten romans nach wahren motiven eine irritierende, enttäuschende leseerfahrung.

    colson whitehead: die nickel boys. aus dem englischen von henning ahrens. hanser 2019. 224s, 23€.

  • stellungnahme grundeinkommen

    stellungnahme grundeinkommen

    da aktuell die situation für selbständige und freiberufler sehr schwierig bis existenzbedrohend ist, gibt es eine recht wilde mischung von vorschlägen zur absicherung, aus der einer immer wieder herausragt: das (bedingungslose) grundeinkommen. ich habe vor längerer zeit an anderer stelle einige gedanken dazu notiert, was manche für zu polemisch hielten. daher versuche ich hier ohne ironie und nüchtern zu benennen, warum ich von einem grundeinkommen absolut nichts halte – und zwar aus dezidiert linkem und sozialem verständnis. und ebenso, was mir insgesamt wesentlich sinnvoller da nachhaltiger und wirkungsvoller erscheint.

    zunächst: dem begriff „bedingungslos“ ist auf jeden fall zu misstrauen, denn natürlich gibt es zu definierende bedingungen, unter denen ein grundeinkommen gezahlt werden würde, ob es das alter ist, die staatszugehörigkeit, die aufenthaltsdauer im land, die wahlberechtigung etc etc – der möglichkeiten sind viele, und bisher wurden keine vorschläge gemacht, um nicht größere gruppen vom geldbezug auszuschließen. sinnvollerweise müsste man das grundeinkommen so benennen, was es tatsächlich fordert: ein einkommen ohne arbeitsbezogene gegenleistung. denn dem erhalt des grundeinkommens soll ja in erster linie kein arbeitswert vorausgehen. womit theoretisch eine bedingung für die möglichen bezieher des einkommens genannt wäre: die bevölkerung im arbeitsfähigen alter. und spätestens jetzt wird es schwierig, um nicht zu sagen unfair (denn jede definition für den bezug eines grundeinkommens exkludiert, hier etwa von armut betroffene kinder und rentner und kinderreiche familien erhielten das gleiche grundeinkommen wie kinderlose singles), und zeigt, wie beschränkt die fähigkeiten eines grundeinkommens sind, das zu tun, was man sich von ihm verspricht: menschen von arbeitsbezogenen zwängen befreien, menschen finanziell abzusichern und zu „entstressen“, menschen eine perspektive jenseits des reinen broterwerbs zu geben. diese ideen sind auf jeden fall gut und richtig und auch sozial gedacht, nur halte ich ein grundeinkommen für das völlig falsche instrument dafür. ich halte es tatsächlich für eine polemische, populistische idee, auf soziale schieflagen und fehlentwicklungen zu reagieren.

    warum: erstens und für mich absolut entscheidend wird mit einem grundeinkommen keine einzige ursache für die entstandenen fehlentwicklungen verändert. die gründe dafür, dass man im bezug auf arbeit und familie zunehmend stress erfährt, es eine ungerechte einkommensverteilung zwischen geschlechtern gibt, der zugang zu bildung und damit auch zum wohnungs- und arbeitsmarkt extrem von herkunft, name, hautfarbe abhängt – all dies wird von einem grundeinkommen nicht berührt, analysiert, infrage gestellt oder gar verändert. denn nicht die bezahlung selbst ist das vorrangige problem, sondern die zutiefst ungerechte verteilung des vermögens und dem zugang dazu.

    zweitens: ein grundeinkommen schafft selbst neue ungerechtigkeit, da es notwendigerweise bedingungen voraussetzt – oben sind einige mögliche genannt – und damit wie gesagt auch menschen vom erhalt ausschließt oder benachteiligt. es ist also bedarfsunabhängig. was für viele nach einer guten lösung klingt, ist aber ungerecht, denn warum sollten menschen, die etwa kein bafög erhalten, da die eltern zu vermögend sind, trotzdem bafög bekommen? warum sollten personen oder familien, die aufgrund ihres hohen einkommens und privatbesitzes als reich gelten, eine monatliche finanzhilfe bekommen? wohingegen menschen, die nicht unter die bedingungen eines grundeinkommens fallen, aber bedürftig wären (je nach bedingung wären das zb arme rentner, menschen ohne deutschen pass, menschen mit schwerbehinderung oder die als nicht vermittelbar in den ersten arbeitsmarkt gelten), ausgeschlossen sein könnten. es macht in meinen augen sozialpolitisch und finanzpolitisch keinen sinn, einfach allgemein geld zur verfügung zu stellen. auch und gerade jetzt, wo viele menschen sich in existenzieller bedrohung sehen und vor privatinsolvenzen aufgrund fehlendem einkommen geschützt werden müssen, ist ein grundeinkommen kein sinnvolles hilfsmittel, eben weil es bedarfsunabhängig ist und damit unpolitisch. sinnvoll aber, gerade jetzt in dieser situation, sind ausschließlich politische hilfen und veränderungen, die bedingungen und strukturen der ungerechtigkeit verändern. dass eben in den sog. systemrelevanten berufen (kassiererin, pflegerin etc) vorrangig frauen arbeiten und dort deutlich zu niedrig bezahlt werden – ein grundeinkommen gibt nur geld und ändert nichts. warum dann nicht gleich eine bessere bezahlung verlangen?

    befürworter und ideologen des grundeinkommens wie sascha liebermann setzen das recht des einzelnen und die maximale entscheidungsfreiheit des einzelnen als erstrebenswertes ziel des grundeinkommens. erst durch die sogenannte befreiung des einzelnen aus den zwängen der arbeit und staatlicher bevormundung – allein diese denkfigur ist ideologisch und setzt moralisch-wertende implikatoren – sei eine soziale gesellschaft möglich: „Wir aber halten den Freiheitsgewinn für entscheidend, den ein BGE eröffnet.“ dieser gedanke, die menschen könnten sich mittels geld von dem arbeitszwang befreien, ist libertärer unsinn, denn der zwang ist ja nicht arbeiten zu wollen oder zu können, sondern im ungünstigsten fall zu schlecht dafür bezahlt zu werden: die arbeit selbst nimmt ja nicht ab in den fraglichen branchen. wenn nun also die grundschullehrerinnen erzieherinnen pflegerinnen busfahrerinnen stadtreiningerinnen etc von der arbeit befreien, bleibt diese arbeit, die wir inzwischen als systemrelevant bezeichnen, einfach nur liegen. befreiuung ist damit wohl eher als abhauen zu verstehen.

    zudem könnte, wenn man das grundeinkommen jetzt einführte, die kaufkraft gestützt werden, insbesondere in der jetzigen situation. dass insbesondere letzteres argument absurd ist, denn die kaufkraft kann in zeiten sozialer distanzierung, geschlossener geschäfte und home-office-leben überhaupt nicht eingebracht werden, etwa durch reisen, kino, restaurants, hotels etc., wird selbstredend übergangen.

    drittens: unabhängig von corona und seinen noch nicht absehbaren folgen sind die entwicklungen, die zur immer weiter auseinandergehenden arm-reich-teilung der gesellschaften geführt haben, stets politisch herbeigeführt worden, durch steuergesetze, die vermögen begünstigen und niedrige einkommen und familien benachteiligen, durch neoliberale wirtschaftsreformen zugunsten unsicherer arbeitsverhältnisse, durch all die maßnahmen, die umverteilung zugunsten der vermögenden begünstigen und fördern. ein aktiver schutz vor armut, sozialem stress, vor unvereinbarkeit arbeit-familie gelingt nicht mit einem grundeinkommen, sondern ausschließlich mit politischen entscheidungen. denn das deutsche sozialsystem ist ungerecht und muss politisch verändert werden, was tatsächlich die entlasten würde, die von ungleichheit und druck betroffen sind. ein grundeinkommen als hilfe gegen drohenden existenzverlust zb für freiberufler ist nur dann sinnvoll, wenn es tatsächlich denen hilft, die es brauchen (ein mario barth, til schweiger oder sebastian fitzek gehören ebenso zu den freiberuflern, sind aber keineswegs in ihrer existenz bedroht, im ggs etwa zu honorardozent*innen für sprachkurse, musicaltänzer oder freie theater und viele mehr). also sollten wir uns gerade jetzt und ganz besonders aus gründen der solidarität dafür entscheiden, eben kein grundeinkommen (und schon gar kein kaufkraft stützendes helikoptergeld) zu fordern, sondern tatsächlich denen helfen, die hilfe benötigen. instrumente dazu existieren oder könnten, wie hier beschrieben, kurzfristig eingerichtet und umgesetzt werden und gleichzeitig gerecht sein.

    zusammengefasst lässt sich formulieren: die vom grundeinkommen gewünschte und als ziel benannte stärkung des individuums gegenüber der gemeinschaft bedeutet tatsächlich einen rückzug des staates aus der verantwortung gegenüber seinen bürgern, der staat gibt lediglich geld – es ist, was im ökonomischen bereich seit 1980 als „neoliberalismus“ bekannt ist und der überhaupt die aktuellen probleme im arbeits- und sozialbereich geschaffen hat. das neoliberale denkmodell minimiert staatliche steuerungsmöglichkeiten („deregulierung“) und fokussiert sich auf monetäre belange. das grundeinkommen ist die neoliberalisierung des sozialen: durch geld wird alles besser.

    oder anders gesagt: wenn man denjenigen in der nachbarschaft, die zur risikogruppe zählen, hilfe etwa beim einkaufen anbietet, bringt man doch auch nicht allen anderen in der straße, die sich problemlos selbst versorgen können oder gerade erst den supermarkt von nudeln und klopapier leergekauft haben, auch noch brot eier und käse mit.

  • yishai sarid – limassol

    yishai sarid – limassol

    im vergangenen frühjahr war monster von yishai sarid eines der herausragenden bücher, die erzählung eines orientierungslosen israeli, der in yad vashem zum holocaustforscher, nachfolgend begehrter reiseleiter durch konzentrationslager und davon immer mehr überfordert wird. das monster erinnerung und das monster mensch in einem soghaften monolog. mit seinem zweiten roman limassol wurde der autor 2009 international bekannt. in der rückschau wirkt dieser text aber, ganz anders als zu seinem erscheinen, wie ein durchschnittlicher beitrag zum geheimdienstthriller-genre.

    es geht um genau das, was als klappentext auf dem rücktitel des buches steht:

    Ein israelischer Geheimdienstler soll mithilfe der attraktiven Schriftstellerin Daphna einen Terrorverdächtigen aufspüren. Doch je tiefer er ins Geschehen eintaucht, desto mehr gerät sein Weltbild ins Wanken. In Limassol auf Zypern muss er schließlich entscheiden: Kann er an seinem Auftrag festhalten, oder wechselt er die Seiten?

    selbstverständlich ist der suspense, bezogen auf die frage, sehr gering. und was noch wichtiger ist: diese handlungsebene ist für den roman selbst vergleichsweise bedeutungslos. es ist der teil des buches, der zum genre gehört und an dem man die genreregeln sehr gut studieren kann: spannung im text entsteht vor allem deshalb, da der geheimdienstler gegenüber der daphna und damit auch dem leser nicht mit offenen karten spielen kann. wüssten wir von anfang an seinen auftrag, wäre das genre hinfällig. daphna, um den plot dennoch zu erzählen, dient als kontaktmöglichkeit zu einem todkranken palästinenser, einem befreundeten autor, der nach israel gebracht werden soll zur behandlung, um so an dessen sohn zu kommen, der als einer der hauptakteure im antiisraelischen terrornetzwerk gilt. interessanterweise ist der abfall vom glauben des aus der perspektive des geheimdienstmitarbeiters erzählten romans nicht grundsätzlichen erkenntnissen geschuldet, sondern vorrangig der tatsache, dass die operation auf limassol wesentlich von den amerikanern bestimmt und vorbereitet wurde, was ihn in seiner selbstbestimmung kränkt.

    wesentlich interessanter als diese etwas vorhersehbare secret-service-story ist die figur des namenlosen erzählers: dieser ist so sehr mit seiner arbeit und berufsmäßigen paranoia verwachsen, dass er ein normal bürgerliches familienleben nicht mehr realisieren kann, überall mögliche bedrohungen vermutet und aus wut über einen nicht gefassten selbstmordattentäter dessen bruder brutal tötet. der erzähler ist ein sehr genretypischer, desillusionierter, überambitionierter, intelligent-naiver verlierer, ihm entgleitet sein leben ebenso wie seine arbeit. seine frau verlässt ihn recht früh im roman und nimmt den kleinen sohn, den er eigentlich liebt, aber sich viel zu selten zeit für ihn nimmt, mit nach amerika. für den totschlag im folterkeller der zentrale wird er vorübergehend suspendiert. der erzähler ist das signum einer unter ständiger bedrohung und angriffen lebender und westliche standards aufrecht erhaltender gesellschaft, eine erholungspause ist unter diesen bedingungen selbst im abgelegendsten wellness-hotel nicht möglich.

    konterkariert wird dieser abgehetzte und letztlich gescheiterte erzähler von der schriftstellerin daphna und ihrem ehemaligen liebhaber und autor hani. sie haben eine ihm unbegreifliche eleganz und würde bewahrt, was auf ihn äußerst attraktiv wirkt. dass sich daraus sogar eine liebesbeziehung mit daphna entwickelt, gehört zu den unglaubwürdigen film-noir-elementen des romans, denn daphna mag den erzähler zwar auch ein bisschen, aber hauptsächlich blickt sie spöttisch auf ihn herab. hani wiederum hat krebs im endstadium und verblüfft den erzähler vor allem damit, nicht seinem bild des zornigen, gewaltbereiten und antiisraelischen palästinensers zu entsprechen.

    „Kaum zu glauben, dass Sie uns nicht hassen“, sagte ich. […] „Warum sollte ich Sie hassen?“ Hani lachte und drehte mir von unten sein Gesicht zu. „Ich kann nicht hassen. Vielleicht bin ich kein richtiger Mann. Rachegelüste sind mir fremd. Unter euch gibt es etliche Missetäter, doch für einen Menschen wie Daphna würde ich mein Leben lassen.“

    dies ist im grunde alles, was in limassol über den sog. nahost-konflikt zu erfahren ist, und das ist auch absolut in ordnung, denn beileibe nicht jedes buch von israelischen autor*innen muss nach seinem beitrag zu israel-palästina abgeklopft werden. zumal sarid seinen thriller nur strukturell angelegt hat, tatsächlich sich viel mehr für das moralische dilemma seiner hauptfigur interessiert, einen jungen araber so zu misshandeln, dass dieser stirbt, gleichzeitig eine persönliche nähe zu hani und daphna nur vorzuspielen bzw aufgrund eben dieser nähe den sohn hanis zu retten. dieses motiv dominiert letztlich den roman, der dadurch auch das genre thriller verlässt: den sohn retten.

    bzw genauer: den fremden sohn retten. den eigenen sohn konnte der erzähler schließlich nicht bei sich halten. also rettet er letztlich hanis sohn vor der erschießung, und – wesentlich breiter erzählt – den drogenabhängigen gemeinsamen sohn von daphna und hani, der fern von der mutter in einer heruntergekommenen hütte am strand wohnt und den daphna wieder bei sich haben möchte. diese eigentümliche rettungsaktionen sind allerdings im roman sehr schwach motiviert und daher wenig plausibel, gen ende gleitet der roman in ein entzugsszenario in daphnas wohnung ab, das einem nur noch behaupteten familienidyll gefährlich nahe kommt. das motiv der geretteten fremden söhne soll vermutlich im privaten das kompensieren, was ihm beruflich für ganz israel nicht gelungen ist und scheint schuldhaft zum verlust der eigenen familie zu stehen – allerdings sind die motive zu wenig ausgearbeitet und die pathetische familienmetapher drängt sich etwas schief in den text. der roman verliert an spannung und tempo in dem moment, in dem daphnas sohn in die handlung aufgenommen wird und der erzähler versucht, seine verloren gegangene vaterrolle auszufüllen.

    so entstehen zwei gegensätzliche romane, die des geheimdienstlers im klassischen genre-outfit, und die des gescheiterten vaters, der eine neue familie findet, ein bürgerlicher stoff, der sich seltsamerweise mit dem agentenkrimi nicht besonders gut versteht und der sich besonders in der zweiten hälfte als ein eher farbloser thriller liest, von dem heute, 10 jahre nach seinem erscheinen, nicht mehr allzu viele spuren im gedächtnis bleiben.

    yishai sarid: limassol. aus dem hebräischen von helene seidler. kein und aber, 206 s, 16,90€.

  • der erfolg

    der erfolg

    es lagen gerade einmal 9 tage zwischen dem auch im thüringer landtag begangenen gedenktag der opfer des nationalsozialismus und der wahl eines bis dahin bedeutungslosen fdp-karrieristen mithilfe von faschisten zum ministerpräsidenten thüringens. die reaktionen auf diesen politischen zivilisationsbruch bezeugen die fassungslosigkeit in weiten teilen der gesellschaft über diesen unverzeihlichen vorgang – und ebenso die erzreaktionäre freude dass alles besser sei als eine linke regierung. bodo ramelow brachte den zusammenhang mit einem inzwischen gelöschten tweet auf den punkt: mit zwei fotos und einem zitat adolf hitlers, dessen nsdap durch eine ganz ähnliche wahl zur entscheidenden politischen kraft aufstieg, vor 90 jahren, in thüringen. ( die erwartbare empörung über diesen hindenburg-vergleich mit kemmerich hielt sich bei einem ähnlichen tweet des europäischen liberalen guy verhofstadt, der seine abscheu der kemmerichwahl gegenüber ausdrückte, naturgemäß in grenzen. )

    der tabubruch dieser wahl – der liberal-konservative pakt mit völkisch-nationalen faschisten – ist offenkundig lange vorbereitet worden, sowohl in thüringen selbst, als auch deutlich früher. karl-eckhard hahn, u.a. leiter des wissenschaftlichen dienstes der cdu-fraktion im thüringer landtag, fantasierte im the european wenige tage vor der wahl über genau jenes szenario

    Doch was ist, wenn eine Regierung mit Stimmen von AfD-Abgeordneten ins Amt kommt? Die Frage ist durch die Ankündigung der FDP Thüringen, über einen eigenen Kandidaten für die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten im Thüringer Landtag nachzudenken, wieder virulent geworden. […] Ein solcher Ministerpräsident hätte keine geringere demokratische Legitimation als ein Ministerpräsident Bodo Ramelow auch.

    hahn steht weit im rechten lager der cdu, die benannte position ist konsens im rechtsnationalen verein werteunion für dessen vorstandsvorsitzenden alexander mitsch alles besser ist als ein linker ministerpräsident – also auch eine regierung, die von einem nazi gewählt wurde, wie der thüringer cdu-vorsitzende mohring noch vor der landtagswahl bernd (!) höcke betitelte. noch einmal: für teile der konservativen partei ist die strategische zusammenarbeit mit nazis besser als eine linksbürgerliche regierung : dies ist der eigentliche zivilisationsbruch – die wahl kemmerichs war kein ergebnis politischer naivität, wie es manche fdp-politiker darstellen möchten, sondern ganz offenkundig vorbereitet und bewusst durchgeführt. und nicht nur in thüringen : die gedankenspiele einer zusammenarbeit mit der afd sind im vergangenen sommer vom cdu-vorsitzenden in sachsen-anhalt ulrich thomas ganz offen geäußert worden – mit folgenden worten:

    Es muss wieder gelingen, das Nationale mit dem Sozialen zu versöhnen.

    da kann die cdu noch so oft beschlüsse fassen – das gift des erfolges ist schon längst injiziert

    erfolg : versöhnung von nationalem und sozialem, nation und bürgertum, staat und kapital. alles ist besser als linke politik. auch die vogelschiss-relativierung der deutschen verbrechen 1933-45 (gauland) und denkmal-der-schande-verunglimpfung des gedenkens an die opfer der systematischen ermordung der europäischen juden (höcke). das alles ist besser als linke bzw als links imaginierte politik. dies ist politische linie der werteunion, mag sich die cdu noch so sehr von ihr abgrenzen wollen, es ist auch politische linie darüberhinaus, hahn und thomas gehören der werteunion nicht an.

    die wahl kemmerichs zum ministerpräsident wird also nicht die letzte wahl einer regierung mit afd-beteiligung gewesen sein, sofern cdu und fdp und konservative medien ihr verhältnis zur linkspartei nicht versachlichen. was nicht geschehen wird – die angst vor dem gespenst des kommunismus ist nach wie vor derart übermächtig, dass man lieber den erfolg mit faschisten und nazis sucht als sich zu therapieren.

    wie erfolgreich eine konservativ-nationalistische symbiose gegen das gespenst des kommunismus sein kann, hat 1930 lion feuchtwanger in seinem vermutlich besten zeitgeschichtlichen roman erfolg beschrieben. dieser spielt in münchen und beschreibt in seinem sittengemälde des landes bayern u.a. den aufhaltsamen aufstieg der wahrhaft deutschen von rupert kutzner : der roman […]

    […] betont besonders, wie die breite Bevölkerung Kutzner unterstützt, wie aber auch die konservativen Kräfte in Bayern die Kutzner-Bewegung benutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, womit sie aber erst Kutzners Aufstieg ermöglichen.

    genau dies ist die aktuelle situation in thüringen – das willfährige paktieren mit den höcke-faschisten aus egoistischem machtinteresse, woraus der aufstieg der afd zur entscheidenden politischen kraft wesentlich befördert wird, eine partei, die sich seit ihrer gründung und fortschreitenden radikalisierung nie glaubhaft von militanten nazis distanzierte, völkisches und rassistisches und antisemitisches denken förderte, ebenso aggression gegen kritiker*innen der eigenen positionen, und verachtung gegenüber der liberalen demokratie. diese förderung des aufstiegs einer rassistischen völkisch-nationalistischen antidemokratischen partei durch die kemmerich-wahl ist offenkundig noch lange in der cdu nicht verstanden worden.

    das kommunistische gespenst treibt seit seiner ersten sichtung wirtschaftsliberale und konservative politiker zu höchstleistungen auf dem antidemokratischen sektor. die wesentlichen grundzüge amerikanischer politik sind von der abwehr des kommunistischen gespenstes geprägt : die militärischen hilfen nationalistischer und faschistischer regierungen in mittel- und südamerika gegen die kommunistischen guerilleros sind dafür wohl der grausamste beleg.

    gespenster gehören zu paranormalen phänomenen und damit zu denen der einbildung und imaginierung ergo sinnestäuschung. dennoch führen imaginierungen, insbesondere solche aus angst, zu sehr realen handlungen. ein geradezu perfektes imago eines kommunistischen gespenstes hat – sehr zu vermuten wohl unfreiwillig – christopher nolan in the dark knight rises mit der figur bane erschaffen. er tritt als im tatsächlichen untergrund organisierender in der masse unsichtbarer guerilla-kämpfer maoistischer prägung in erscheinung, okkupiert mit der börse das heiligtum des kapitals, bringt mit einer atombombe ( natürlich von einem russischen wissenschaftler gebaut ! ) die gotham-welt in seine gewalt, organisiert schauprozesse stalinscher art und ist dabei selbst nur wegbereiter einer besseren zukünftigen gesellschaft. bane ist das imago einer westlichen kapitalistischen bürgergesellschaft, das fleischgewordene gespenst der kommunistischen partei, wie es seit 150 jahren durch die westlichen kapitalistischen hirne spukt und diese – angstgetrieben – zu grotesken skrupellosen antisozialen handlungen treibt.

    wie wirkmächtig irreale angstbilder sind, ist anhand der kemmerich-wahl erneut zu beobachten gewesen. armselige, dummdreiste, skrupellose politiker lassen sich lieber von rassisten menschenverächtern antidemokraten wählen als anzuerkennen, dass eine linke regierung tatsächlich überhaupt kein problem darstellt.