Schlagwort: shortlist

  • norbert scheuer – winterbienen

    norbert scheuer – winterbienen

    nun habe ich einen monat keine neue rezension online gestellt ein wenig aus protest und gröberer enttäuschung und leichterem entsetzen vor einem literaturbetrieb, der allen ernstes dieses buch in die finale auswahl #shortlist einer der bestdotierten literaturpreise des landes aufgenommen hat, denn was sagt es über die deutschsprachige literatur aus, wenn ein derart naives biederes selbstgefälliges romänchen als mögliches aushängeschild um internationale aufmerksamkeit werben soll –

    norbert scheuer, dessen romane schon mehrfach auf shortlists zu buchpreisen standen, ist ein in der westeiffel beheimateter autor, seine romane spielen auch größtenteils in dieser region, so auch winterbienen. es geht kurz gefasst um egidius arimond, ehemaliger lehrer, im letzten jahr des zweiten weltkrieges, der sich im wesentlichen mit seiner bienenzucht und übersetzungen aus dem lateinischen beschäftigt, um seine illegal besorgten medikamente gegen epliepsie zu finanzieren betätigt er sich zudem als schleuser im deutsch-belgischen grenzgebiet und hat affären mit allerhand frauen, so auch der frau des kreisleiters, was alles ziemlich gefährlich ist und zudem noch durch fliegerangriffe der britischen armee verstärkt wird. das kompositorische material des auf wahren begebenheiten beruhenden stoffes ist also enorm – die bearbeitung scheuers zum roman ist allerdings völlig ziellos und ohne jeden fokus auf die figuren.

    nicht allein, dass die form des tagebuches, in dem alle taten und gedanken säuberlich festgehalten sind und das meist offen in der stadtbibliothek herumliegt, je irgendwo befragt würde – ein blick der nazibibliothekarin hinein und egidius wäre umgehend geliefert – nein, von heimlich- oder bedrohlichkeit keine spur. bei egidius bzw scheuer steht alles sehr gleichberechtigt nebeneinander als ob es keinen unterschied machte mit wessen frau er schläft, ob seine geschleusten flüchtlinge die tour in seinen präparierten bienenkörben überleben oder dabei draufgehen, was der benediktinermönch ambrosius und urahn der bienenzüchter zur welt der bienen zu sagen hatte, welche fronterfolge sein bruder als pilot der ns-luftwaffe mal wieder feiert, dass es mit fortschreitendem krieg zunehmend schwieriger wird medikamente zu bekommen, wie das wetter ist und was man technisch über die britischen bomber wissen sollte, letztere sind auch immer hübsch ins buch hineingezeichnet. vom sohn des autors, der allen ernstes erasmus heißt, wie der autor stolz im selbstverfassten nachwort angibt. egidius sei eine ambivalente figur, betonte die rezensionsfachpresse dazu. das kann man wohlwollend so sehen.

    man kann aber auch feststellen, dass die figur nicht ausgearbeitet ist und der hoffnung anheim gegeben wurde, all die sonderbaren und widersprüchlichen handlungen erzeugen von sich aus genügend charakterschärfe. mitnichten. denn die vorhandenen und potentiell interessanten motive werden entweder kaum literarisch entwickelt – etwa den grotesken widerspruch, dass er die fliehenden menschen, zumeist juden, primär als nützliches material ansieht, um sich selbst am leben zu erhalten, da er für die bezahlung seiner schleuserdienste die medikamente für seine epilepsie besorgen kann, denn epilepsie ist aus sicht der nazis eine lebensunwerte erbkrankheit die vernichtet gehört. oder aber dass für ihn die wirklich wichtigen lebenwesen seine bienen sind, um die er sich beinah mütterlich kümmert, während ihm die schicksale seiner menschentransporte, so grausam sie auch sein mögen, keinerlei emotionen hervorlocken. oder die wertfreie gleichzeitigkeit von freude über seinen erfolgreich kämpfenden nazibruderpilot und die beinah schon liebevoll beschriebenen britischen und amerikanischen kampfflugzeuge, die zunehmend auch seine stadt angreifen. das steht alles sehr kommentarlos im roman ebenso wie die seitenlangen lateinübersetzungen von ambrosius, die eine zusätzliche textebene schlicht behauptet, ohne dass es irgendetwas tatsächlich hinzufügt, es sei denn man hat besonderes historisches interesse am thema bienen. und nicht zu vergessen, dass egidius schließlich doch an die ss verpfiffen und drei wochen gefoltert wird – in einem roman, wo die figur seitenlang über bienen und flugzeuge und frauen reden kann, gibt es nun eine riesige lücke des schweigens, ja nicht einmal der versuch einer reflektion sehr wahrscheinlich traumatischer erlebnisse wird unternommen, nichts, es hat eben stattgefunden und nun wieder bienen. man weiß nicht, ob das eine bewusste aussparung sein soll, das auf ein aktives verdrängen des schlechten verweist, oder doch nur ein weiteres unbearbeitetes element, da im original an dieser stelle eben auch nichts dazu gesagt wurde.

    gen ende des romans und auch des jahres 1944, als die medikamente ausgehen und alles unweigerlich auf das kriegsende verweist und damit erneut auf die deutsche nachkriegserzählung der stunde null, da blitzt unabsichtlich beinah die möglichkeit auf, die dem text tiefe hätte geben können: denn natürlich ist mit dem kriegsende der versorgungsmangel und die politisch-ideologische aufarbeitung keineswegs abgeschlossen, sondern würde sich im gegenteil zusätzlich verstärken. was also hätte der roman entfalten können, würde man ihn nach kriegsende erzählt haben: ideologische neusortierungen, rechtfertigungen, prahlereien, verschweigen, vertuschungen etc – doch scheuer hält sich an sein originalmaterial und lässt egidius noch vor kriegsende auf eine miene treten, um sich im nachwort selbst als autor mit „überbordender phantasie“ zu feiern.

    besonders hellhörig sollte zudem der einstieg in des autors nachwort machen, denn er wolle mit dem roman der region „gerechtigkeit widerfahren“ lassen – welche art gerechtigkeit ist damit gemeint bzw welche ungerechtigkeit? dass es in der nazizeit doch auch „gute“ menschen gegeben habe, nämlich fluchthelfer aus egoistischem interesse? von solcherart „ambivalenzen“, die das buch und sein autor sehr freimütig ausstellen, ist winterbienen voll und führt letztlich zu keiner neuen erkenntnis. außer dass sich der autor selbst ganz toll findet im literarischen aufarbeiten historischen materials. doch da ist ihm unbedingt zu widersprechen.

    und ebenso einem literaturbetrieb, der ein bloßes nebeneinander unausgearbeiteter motive als preiswürdige ambivalenz bzw äußerste nähe von zeichen und konkreter realität honoriert.

    norbert scheuer: winterbienen. roman. c.h.beck, münchen 2019, 319s, 22€.

  • saša stanišić – herkunft

    saša stanišić – herkunft

    shortlist #4 – das buch ohne gattungsbezeichnung, ein eigensinniger text, roman autobiografie tagebuch und ein erzähltes spiel. saša stanišić hat mit herkunft ein unaufgeregt radikales buch geschrieben, um für sich selbst herauszufinden, als kriegsgeflohener aus dem heutigen bosnien, als in deutschland neustartender, als kaum zurückblickender, was herkunft ist war wäre bedeutet bedeuten könnte – radikal deshalb, weil stanišić immer nur erzählt, nie erklärt.

    herkunft ist ein ganz und gar nicht deutsches buch, und dies ist ausschließlich geistesgeschichtlich gemeint : ein in deutschland sozialisierter autor hätte sich philosophisch mit der thematik und den sich immer neu öffnenden räumen ereignissen assoziationen begebenheiten aspekten begriffen etc genähert, es wäre eine mehr oder minder überzeugende theoretisch fundierte gelehrsam dozierende erkenntnisreich grübelnde besonnen anklagende abhandlung herausgekommen und in angemessener schwere als bedeutsames werk erschienen. sehr wahrscheinlich. aber zum glück ist saša stanišić erzähler mit einer großen portion osteuropäischer erzähltradition: die dinge erklären ist vielleicht ok aber unfassbar öde, sich geschichten zu erzählen macht viel mehr spaß.

    der begriff herkunft als titel ist klug gewählt, kein artikel kein pronomen so schafft er viel raum für narrationen diskurse dekonstruktionen. an herkunft und der mit oder ohne doppeltem boden gestellten frage woher kommst du klebt der politisch komplizierte begriff identität und das pathetische heimat – dabei ist herkunft erst einmal nur die frage nach der persönlichen geschichte: was ist dir widerfahren, was hast du erlebt, was hat dich geprägt? also erzählen wir es uns. und genau das macht herkunft so radikal: es ist konsequentes erzählen ohne deutungsvorgabe, storytelling, historytelling der eigenen persönlichen und familiengeschichte. die beiden zentralen figuren sind dabei saša selbst und seine in višegrad, sašas geburtsstadt lebende großmutter, die er während der entstehung des buches wiederholt besucht. bei ihr und bei anderen der gegend erfährt er seine familiengeschichten und es ist nicht immer ganz klar, was ist tatsächlich und was ist fiktion bzw wieso sollten das gegensätze sein:

    Fiktion, wie ich sie mir denke, sagte ich, ist ein offenes System aus Erfindung, Wahrnehmung und Erinnerung, das sich am wirklich Geschehenen reibt –

    das buch besteht aus beinah unendlich vielen geschichten, aus višegrad aus heidelberg aus hamburg über bosnien über die flucht über das ankommen in deutschland über die sprachen über identitäten über seine großmutter und seinen in hamburg geborenen sohn – es sind zu viele, um sie zu behalten. dies der einzige wirkliche kritikpunkt: in der fülle verlieren sich die einzelnen teile.

    doch man wird aufgefangen und darf am ende die story der großmutter und saša selbst weiterspielen : im drachenhort wird gespielt. und genau deshalb ist herkunft ein großartiges buch : es stellt die fiktion ins zentrum und nimmt den tatsachen, den traurigen den furchtbaren den traumatischen den banalen den beleidigenden den erniedrigenden den grotesken den sinnlosen den rätselhaften, sich selbst und allen begriffen der herkunft die erdrückende schwere.

    saša stanišić: herkunft. luchterhand, münchen 2019. 360s, 22€.

    NACHTRAG

    die kritik stanišićs an der nobelpreisvergabe für handke teile ich absolut. handkes politische unterstützung für einen mörderischen serbischen nationalismus von seinem reisebericht über die grabrede für milošević und darüberhinaus ist von seiner literarischen arbeit – wie auch immer man zu dieser stehen mag – nicht zu trennen. umso wichtiger ist es daher, diese debatte als politische debatte zu führen und der ansicht des nobelkomitees zu widersprechen, handke vertrete einen grundlegend antinationalistischen standpunkt – genau das tut er gerade nicht. handke hat sich aus berechtigter kritik an der vereinfachten sicht- und darstellungsweise des jugoslawischen sezessionskrieges in mitteleuropa jedoch selbst auf die seite eines aggressiven nationalismus geschlagen, der wesentlich für den krieg und extreme verbrechen verantwortlich ist. diese eindeutige und bis heute von ihm nicht revidierte sicht ist eine implizite befürwortung der kriegsverbrechen und mit nichts zu rechtfertigen.

  • tonio schachinger – nicht wie ihr

    tonio schachinger – nicht wie ihr

    shortlist #3 – der exot, der unerwartete, die überraschung, beinah. tonio schachinger ist mit seinem debüt nicht wie ihr das buch gelungen, von dem man wohl nicht angenommen hätte, dass es eine so breite öffentlichkeit wie den deutschen buchpreis finden könnte, zumal auf der shortlist : publiziert in einem im deutschen sprachraum eher unbekannten independent-verlag aus wien, eine explizit das hochdeutsch schmähende sprache voller austriazismen, ein fußball-roman und dann noch aus österreich – und das insgesamt sehr souverän. es könnte also ein wirklich grandioses buch sein, wenn jedoch – tja – verkackt – denn die story ist einfach fad.

    nicht wie ihr ist ein, hmpf, jungsbuch im mehr so gewöhnlichen sinn. es geht ziemlich viel um fußball und um geld und um autos und um sex. der erfolgreiche fußballspieler ivo trifunovic ( eine nette parodie auf marko arnautovic ) hat so seine sportlichen problemchen, denkt quasi rund um die uhr an sex, ist verheiratet mit einer frau jenny, mit der er ein kind hat und die er nicht mehr so recht mag, ist aber schwer verliebt in eine frau mirna, die er von früher kennt und mit der er jetzt eine affäre hat und die sich hin und wieder nachrichten schreiben. so. gelegentlich gibt es äußerst komische passagen, etwa wenn der hsv amtlich gedisst wird ( und welcher deutsche verein verdient es nicht mehr als der hsv, in einem österreichischen fußballbuch verspottet zu werden ) oder ivo mit den identitäten als wiener, bosnier, jugoslawe spielt – doch zum allergrößten teil geht es um die liebesherzsexleidensgeschichte eines stinkreichen fußballschnösels – nach 28 von 48 kapiteln hatte ich so dermaßen keinen bock mehr drauf das interesse daran verloren, dass ich mir einen stillen litauischen film ansah.

    es gibt eine fast völlig übersehene initiative, die dem europäischen film außerhalb seiner jeweiligen landesgrenzen mehr aufmerksamkeit verschaffen will, indem die filme auf den relevanten streamingportalen anschaubar sind. walk this way heißt diese seit 2015 existierende initiative und gestern sah ich den großartigen intensiven berührenden film mellow mud bzw sanfter schlamm.

    er zeigt in kühlen berührenden bildern die 17jährige raya in ihrer kargen schlammigen tristen umgebung, von ihrer mutter verlassen ( der vater ist vermutlich tot ) und die nun mit ihrem jüngeren bruder und der griesgrämigen großmutter in einem abgelegenen verschuldeten hof auf dem litauischen land lebt. ein coming-of-age-film in konsequenter perspektive seiner hauptfigur, die nach dem unerwarteten tod der oma in die mutterrolle gedrängt wird, auch um nicht im jugendheim zu landen. der film entwirft ein sich stetig entwickelndes panorama der hoffnungen erwartungen enttäuschungen rückschläge von raya, die als alleinerziehende schülerin damit beschäftigt ist, nicht an überforderung zu verzweifeln, zur geliebten ihres englischlehrers wird und schließlich in london ihre in ein besseres leben geflohene mutter zurückzuholen versucht.

    der stille, effektlose, herausragende film aus dem so gut wie nie in den blickwinkel geratenen filmland litauen ist das debüt des regisseurs renārs vimba und der hauptdarstellerin elīna vaska – und ist so ziemlich in allem das gegenteil von schachingers roman. kein übersättigter fußball sondern europäische kargheit, keine männlich selbstgefällige geschwätzigkeit, sondern äußerst sparsame dialoge, deren worte umso mehr gewicht haben. zwar erhielt der film auf der berlinale 2016 den silbernen bären – aber lief nie im kino hierzulande, nicht einmal in den auf besondere filme spezialisierten programmkinos. und in den online-angeboten der portale muss man ein bisschen sehr lange suchen, um eine perle wie sanfter schlamm ( OmU ) zu finden.

    wer sich für unabhängiges exquisites außergewöhnliches europäisches kino auch und insbesondere aus weniger präsenten ländern interessieren möchte, ist bei walk this way schon mal nicht falsch. und es ist äußerst schade, dass es für das europäische kino zwar einen europäischen filmpreis gibt, der aber sowieso noch einmal prämiert, was schon vorher erfolgreich war und damit nicht unbedingt zu entdeckungen einlädt. das marktliberale narrativ vom sich eh irgendwann durchsetzenden qualitativ guten ist im künstlerischen bereich mit zynischem beigeschmack.

    auch beim deutschen buchpreis halten sich die entdeckungen nunmal in engen grenzen. nicht wie ihr, trotz eigentlich guter außenseiterchancen, passt sich da halt gefällig ins maue gesamtbild.

    tonio schachinger: nicht wie ihr. kremayr & scheriau, wien 2019. 304 s. 22,90€

  • raphaela edelbauer – das flüssige land

    raphaela edelbauer – das flüssige land

    #2 der shortlist. skeptisch misstrauisch angepisst präsentiert sich raphalea edelbauer auf dem foto im einband – ganz im gegensatz zum auftritt in klagenfurt 2018, wo sie ausschnitte des romans vorstellte. hier nun ist es nicht mehr heiter, hier geht es düster zu, scheint sie nun zu sagen. der gesamte roman will vieles und kann einiges – vor allem sprachlich ist es ein herausragender text, der allerdings viel zu lang geraten ist. es liest sich, als hätte ein lektor verlangt, ausschweifender = erklärender behutsamer andiehandnehmender zu erzählen, um den leser*innen nicht zu viel zuzumuten, denn so ein roman soll doch in erster linie gute unterhaltung sein.

    im flüssigen land gerät die wiener physikerin ruth in eine raum-zeit-parallel-unwirklichkeit: groß-einland, die (n)irgendwo in den österreichischen bergen abgelegene ortschaft, ist der geburtsort ihrer eltern und weil sie diese dort auch beerdigen möchte, begibt sie sich unfreiwillig dorthin – und landet in der pittoresk-grotesken gemeinde, die auf einem riesigen unterirdischen loch steht. klar, dass es um geheimnisse in der dorfgemeinschaft und so ziemlich alles geht, was den spezifischen österreichischen eigensinnigen anti-heimat-roman ausmacht.

    da ist die wissenschaftlerin und ihre studie bzw habilitationsschrift zu theorien der zeit, eine variation auf den bernhardschen geistesmenschen. da ist der raubbau an der geliebten heimatnatur aus gründen der eigenen bereicherung. da ist die bestens konservierte k-u-k-mentalität, denn selbst wenn der gräfinnentitel nur erlogen ist, gilt er vorbehaltlos. da ist das dorf in seiner eigenbrötlerischen weltferne, so fern, dass das dorf nirgends verzeichnet ist. da ist das spiel mit kulissen und imitationen, was ist echt, was ist theater, wem kann man trauen und wer ist wie bösartig zu wem. und da ist die alles durchziehende psychologie, das riesige düstere bedrohliche loch und das verdrängen von erinnerungen – als wäre dies nicht die offensichtlichste aller symbolbedeutungen, wird es im roman dennoch mehrfach ausgesprochen.

    Der Hohlraum unter dem Parkett, dachte ich in unaufmerksamen Momenten. Ob diese Formulierung vielleicht auf das Verdrängte in ihrem Kopf hindeutete? (Kap. 12)

    Was man ins Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte. (Kap. 19)

    und konkret historisch gewendet, denn das loch ist schauplatz aller art von verbrechen, insbesondere zur ns-zeit, worauf sich auch der zentrale teil der handlung bzw ruths recherchen gründet:

    Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.

    dies ist der nucleus des romans, die frage nach schuld und verdrängung bis zum kitsch, und zur belebung wird er angereichert mit allerlei skurrilitäten und ruths familiengeschichte, was aber so recht nicht zünden mag, da die figur der ruth trotz aller beschreibungen nicht plastisch wird. einerseits steht sie dem dorf ausschließlich distanziert als fremde gegenüber, andererseits behauptet sie, ihre heimat gefunden und sich integriert zu haben, was aber zu keiner änderung ihrer distanziertheit führt. und schließlich berichtet sie das alles mit hoher akribik und wissenschaftlichkeit (und unnötigen theorie-einschüben zur zeit) und alles stets reflektierend, sich und alle anderen befragend, skeptisch, mürrisch, und beauftragt, ein füllmittel fürs loch zu finden. irrtümer, unwahrheiten, unzuverlässigkeiten kennzeichnen sie nicht – während die dorfbewohner von unwägbarkeiten übertrieben dargestellt sind.

    den roman wiederum kennzeichnet eine allzu detailreiche schilderung der ereignisse in einer vom endgültigen einsturz bedrohten gemeinde. doch die bedrohung von unten führt zu eigentlich nicht viel. die übermäßige wiederholung, dass es in groß-einland absonderlich und skurril zugehe, verschleppt das tempo nach starkem beginn immer weiter, selbst dann, als es auf einen showdown zusteuert, wird dieser im letzten moment aufgegeben – und ruth fährt einfach wieder nach hause. man wünscht sich, diese sprachliche begabung für sensationelle formulierungen wie bemannte kruzifixe und sätze wie Die Couch sickerte trüb in die Wohnzimmerwand und hinein in die gräuliche Wolkenstimmung des Frühnachmittags. wäre auf die struktur übertragbar, der roman auf die hälfte komprimiert worden, um die albtraumhafte unwirklichkeit keineswegs so deutlich und nachvollziehbar erklärt zu bekommen –

    doch so radikal können debüts heutzutage wohl einfach nicht sein für den deutschen buchmarkt, um in preisverdacht zu geraten. so bleibt ein roman mit hohem politischem anspruch und recht glatter widerstandsfreier viel zu breiter ausführung. bzw: Nichts, was im Unklaren verblieben wäre. schade eigentlich.

    raphaela edelbauer: das flüssige land. klett-cotta, stuttgart 2019. 350 s, 22€.

  • miku sophie kühmel – kintsugi

    miku sophie kühmel – kintsugi

    buch #2 der longlist zum deutschen buchpreis ist buch #1 der shortlist. um es vorweg zu sagen: kintsugi von miku sophie kühmel ist kein schlechtes buch. als debüt ist es von beachtlicher intensität und mit ungewöhnlichem personal bestückt für eine familiengeschichte. als möglicher „roman des jahres“ und bereits jürgen-ponto-preisträgerin 2019 erhält ein buch überproportionale aufmerksamkeit, das zwar gut, aber keineswegs herausragend ist. nur zum verständnis: dies ist keine anmerkung aus neid oder missgunst, dies ist viel mehr eine anmerkung zum literaturbegriff des deutschen literaturbetriebs. wie es beim buchpreis heißt:

    Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.

    es geht um aufmerksamkeit – also publikum – also verkaufszahlen, weshalb der preis von repräsentant*innen des betriebs vergeben wird, autor*innen, kritiker*innen, händler, möglichst breit angelegt, möglichst konsensfähig. literatur als sprachliches künstlerisches kritisches kontroverses medium – davon liest man auf der selbstbeschreibung des buchpreises nichts. die kritik ist nicht neu doch immer wieder notwendig: dem buchpreis geht es nicht um literatur sondern ausschließlich um das medium buch als träger belletristischer unterhaltung, es ist kein literaturpreis sondern ein verkäuflichkeitspreis, auch wenn er sich literarisch gebärdet.

    betrachtet man die begründung der shortlist, wird der publikumswirksame gegenwartsroman zum soziologischen projekt:

    Diese Altersstruktur rückt zwangsläufig Themen in den Vordergrund, die in der deutschen Literatur relativ neu sind: In allen nominierten Romanen gehe es „um den Ort der globalen Welt, von dem aus das eigene Dasein zu begreifen ist“, schreibt der Jury-Sprecher Jörg Magenau. Vor allem die Identität des Mannes sei problematisch geworden. Vielleicht habe der Generationswechsel damit zu tun, „dass die Jüngeren bei diesen Themen schärfer hinschauen“, so Magenau. In der Zusammensetzung der Liste wird außerdem die Ambition erkennbar, die literarische Landschaft in Deutschland in ihrer Gesamtheit abzubilden.

    es sind ausschließlich inhaltliche kriterien, identität, globale herkunft, ein querschnitt durch die land-/gesellschaft. nur in diesem kontext erhält „kintsugi“ kontur, kann „kintsugi“ von größerem interesse sein : als baustein einer nach soziologischen gesichtspunkten, rein inhaltlich ausgerichteten literaturwahrnehmung – eine extreme beschneidung der chancen und risiken und möglichkeiten von literatur.

    denn so funktionieren jurys derzeit. anstelle etwas auszusuchen, das manche lieben und andere verachten, ignorieren, nicht einverstanden sind, werden eher langweilige, konsensfähige sachen prämiert, denn damit macht man nichts falsch bzw eigentlich alles. zugespitzt: literatur (hier: metynomie für genreferne belletristische prosa in romangestalt) prämiert seine markttauglichkeit. ausnahmen wie frank witzel bestätigen wie immer etc.

    lässt man die buchpreis-begründung einmal beiseite, bleibt mit „kintsugi“ eine familien-/liebesgeschichte mit ungewöhnlichem personal (das schwule pärchen max und reik, die coming-out-liebe tonio und dessen 20jährige tochter pega), angesiedelt in der eher exklusiven akademischen welt, max architektur-professor mit tee-/japan-fimmel, reik erfolgreicher künstler, tonio freiwilliger barpianist, pega psychologie-studentin. und eigentlich geht es doch „nur“ um die liebe und beziehungen, trennungen, vertrauen, misstrauen, sex und was der gekitteten beziehungsbrüche (daher der romantitel) mehr sind. das haus am uckermärkischen see, in dem der roman ausschließlich spielt, wird nur in übermäßig ausführlichen rückblicken und zu kleinen spaziergängen verlassen – es ist ein kammerspiel im stil edward albees „wer hat angst vor virginia wolf?“, und vermutlich wäre es als theatertext auch interessanter da deutlich stringenter.

    so wird die geschichte in ihrer lückenlosen, raumgreifenden, raumverdeckenden und adjektivüberladenen sprache eher erstickt als freigesetzt: er ist schlicht ziemlich langweilig. der japanische überbau, von max in die geschichte getragen, mit titel, kapitelüberschriften, immer mal wieder zerbrechenden und geklebten teeservices ist ein überdeutliches breittreten einer vllt charmanten wenn auch auch nicht exklusiven metapher. es wäre um einiges interessanter, wenn max seinen japanfimmel nicht durch tatsächliche reisen sondern eher im stile eines karl may erfindend sich angeeignet hätte, so als wäre ihm zerbrochenes ikea-geschirr für seinen midlife-crisis-breakup nicht aussagekräftig elegant genug, als bräuchte er unbedingt exklusives original japan-prozellan zur einsicht. doch so verwegen ist „kintsugi“ nicht, die figuren meinen es leider ziemlich ernst mit sich. und weisen dabei kein bisschen über sich hinaus, es gibt keinen relevanten politischen, sozialen, gesellschaftlichen kontext im buch, es ist eine viel zu ausführliche kleine liebesgeschichte.

    das kann man lieben oder nicht – als möglicher roman des jahres ist es eine enorme überladung eines guten, doch keineswegs herausragenden romans. für die autorin ist es selbstredend fantastisch, wer wünschte seinen arbeiten nicht ebensolchen (besonders finanziellen) erfolg?

    doch sind deutlich bessere, engagiertere, literarischere, kontoversere texte auf der longlist verblieben. man sollte den preis definitiv in erster linie als prämierung einer konsensfähigkeit des lesepublikums verstehen, nicht aber als qualitätskriterium. was äußerst schade ist.

    miku sophie kühmel: kintsugi. roman. s.fischer, frankfurt a.m. 2019. 298s, 21€.