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  • tanja schwarz – weltroman

    tanja schwarz – weltroman

    ein etwas größenwahnsinniges projekt sei es, sagte tanja schwarz über ihren weltroman, der inzwischen als gedrucktes buch vorliegt, ein roman über und für weltbürger oder solche, die sich dafür halten, dass sie überall auf der welt leben könnten, früher als skurrile geschäftsleute, heute als digitale nomaden, influenzer oder sonstige eroberer – dabei ist dies eine der kolonialen illusionen, die schwarz aufbricht, dass nämlich der strukturierte europäische mensch einen kohärenten, universal anwendbaren weltbegriff besäße.

    tatsächlich beschreibt der roman das immer wiederkehrende scheitern von kohärenz, von kommunikation, von begrifflichkeit und sprache, also auch von dem, was man gemeinhin globalisierung nennt, eine irgendwie geartete einheitlichkeit von regeln, strukturen, bedingungen, begreifbaren handlungsweisen, geordnet nach eurozentristischem blick. doch im weltroman wird eine weltumspannende geschichte erzählt, die in der leeren brandenburgischen provinz bei frank beginnt, eigentümlichste wege über china und portugal und schiffspassagen nach afrika und verschiedene erzähler/figuren ruben, adile ngolongo, meimei, nimmt und schließlich mit gordon und agnes in einer religiös aufgeheizten menschenmasse in lagos zu ihrem ende findet, fern jeder reflektierten distanz

    Der Heilige Geist (letztlich sind die Bezeichnungen gleichgültig) fährt wie eine Windbö, begleitet von tiefem Brausen, in oder durch das Kraftfeld, das die vielen Menschen mit vereinter Glaubensspannung aufgebaut haben. […] GOTT, lass mich BITTE dabei sein!

    dies könnte die durchaus sarkastisch-verzweifelte pointe des treibens in und über die welt sein: ich begreife es nicht, doch ich will, ganz olympischer gedanke, anwesend sein, wenigstens ich bin formuliert haben. in einer vom global outgesourceten (und aktuell viral schockgebremsten) handel, von zunehmenden und sich gegenseitig verstärkenden kriegen und konflikten, von flucht, vertreibungen und vom klimawandel bedingten naturkatastrophen und sich immer redigider, menschenfeindlicher gebärdender wohlstandsfestungen geprägten gegenwart hatte schwarz‘ bereits 2012 erschienener weltroman das gespür zur globalen überforderung formuliert. wo weltumspannende und weltformulierende stories regelmäßig durch die kinosäle resp. streamingdienste gepeitscht werden – jeder james-bond-artige actionfilm bedient sich selbstverständlich der weltkulissen so wie es jeder comicfilm mit einer neuen weltbedrohung im universum zu tun hat und jede fantasyserie seine je eigene uralte welt begründet und ausdekliniert – so nimmt man doch von der real existierenden welt in seinen unbegreiflichen ausprägungen kaum notiz.

    tanja schwarz allerdings hat alle im roman beschriebenen orte bereist. auch, um möglichst weit von sich selbst wegzukommen. um sich so weit wie es geht von der bauchnabelschau des umsichselbstkreisens ohne weltwahrnehmung zu entfernen. entstanden ist ein atemloser hochmoderner komplexer abenteuerroman, in dem weder an der welt touristisch vorbeigesegelt noch eine eigene welt entworfen wird, im weltroman steht die wahrnehmung der globalen gegenwart im zentrum, figuren, die sich in gefahr begeben um mehr über sich und ihre weltweite gegenwart herauszufinden, ein roman über die wahrnehmung einer übervollen, kaum mehr zu fassenden, kaum mehr zu begreifenden welt, die nicht auf das urteil und die reglements der europäer wartet. ganz besonders nicht heute, 8 jahre nach erstpublikation, in der sich die aggressive hilflosigkeit europas immer sichtbarer zeigt, sich selbst delegitimierend, indem es auf flüchtende, auf schutzsuchende schießt.

    ein womöglich größenwahnsinniges buch, doch mit einem sehr genauen, emphatischen blick und in einer beeindruckend klaren wie poetischen sprache, der sehr gelungene selbstversuch, wie es frank nennt, sein eigenes bewusstsein (und auch das des romans selbst) auszumessen

    Einer Testreihe unterzogen werden am Beispiel seiner Person, unter (zwangsläufiger) Berücksichtigung seiner Herkunft und Geschichte, biografischen Situation und so weiter: 1. die Konsistenz bzw. Fragilität des Ich, 2. die Wahrnehmung oder das Auffassungsvermögen bzw. deren Grenzen, immer gedacht im Kontrast zu seiner gewöhnlichen Umgebung, Berlin. Möglichkeit, all das Gleichzeitige zu erfassen, wenn sein Werkzeug doch nur begrenzt tauglich und störanfällig ist.

    der weltroman versucht etwas gänzlich ungewöhnliches in der deutschen gegenwartliteratur: nicht darstellend die gegenwart zu erklären und mit deutungen zu überformen, sondern vielmehr anhand der figuren und ihrer weltsichten einen oder mehrere begriffe von welt zu suchen und sich so in ihr zu verorten: dieses buch ist zur welt offen.

    tanja schwarz: weltroman. textem hamburg 2019 (forumsbuch 2). 418 s., 18€. hier erhältlich.

  • óscar martínez & juan josé martínez – man nannte ihn el niño de hollywood

    óscar martínez & juan josé martínez – man nannte ihn el niño de hollywood

    in der fiktion im roman im film im traum ist alles auszuhalten, jede noch so hässliche verwerfliche entsetzliche handlung zu der menschen unter bestimmten umständen fähig sind, das fiktionale schafft distanz, trotz aller emotionaler nähe: das fiktive ist erträglich. die umfangreiche reportage von óscar und juan josé martínez bildet das leben und sterben eines killers der mara salvatrucha wie es im untertitel heißt und damit die kaum zu ertragende realität in einem der tödlichsten staaten der welt ab. eine beinah hoffnungslose gegenwart. ein fassungsloser bericht. ein beeindruckendes buch.

    es ist vordergründig das portrait des jungen miguel ángel tobar, der schon als kind zu einem äußerst brutalen killer einer der gewalttätigsten gangs der welt gehörte, über 50 menschen tötete, aus der gang ausstieg und als kronzeuge gegen sie aussagte und half, einige bandenchefs zu verurteilen – und schließlich selbst als verräter ermordet wurde. es ist das tatsächliche portrait eines seit weit über einem jahrhundert von ausbeutung, extremer armut, äußerster gewalt, menschenverachtung, korruption, massakern, bürgerkriegen, zerstörungen, traumata und der seuche ms-13 gezeichneten landes. el niño, wie sich miguel ángel in seiner späten bandenmitgliedschaft nannte, ist ein mörderisches produkt all dieser ihm selbst nicht bewussten zusammenhänge, wie die autoren bereits im vorwort anführen:

    Letzten Endes handelt dieses Buch nicht nur vom Leben eines Killers der größten Verbrecherbande der Welt, der einzigen El Salvadors, die auf der schwarzen Liste des Finanzministeriums der Vereinigten Staaten steht und ständig in den Hetzreden von Donald Trump erwähnt wird, der Bande, die unter dem Namen Mara Salvatrucha 13 unzählige Gangs vereint und die in jedem Departement von El Salvador präsent ist. Im Grunde ist dieses Buch unsere Art, den Hinterhof der Vereinigten Staaten zu verstehen und zu erklären. „Shithole“, nannte es Trump, als handele es sich um etwas, das mit dem, was Regierende wie er aufzubauen und zu zerstören geholfen haben, nichts zu tun hat.

    Dies ist die Geschichte von etwas Großem. Dies ist der Bericht über etwas Monströses, Länderübergreifendes. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Gewalt, eine Geschichte, die andauert, die weiter lebendig ist, die pulsiert und sich ausbreitet, die rekrutiert und aus- und einwandert. Eine unerhörte, wenig verstandene Geschichte, erzählt aus der Perspektive eines Niemands, eines Vergessenen, eines Mannes, der war, wie viele andere sind. Das mikroskopisch Kleine, um das Globale zu verstehen.

    welche dimension miguel ángels leben tatsächlich besitzt, wird bereits bei seinem allerersten mordversuch 1994 deutlich, im alter von 11 jahren. er hält sich zwischen kaffeesträuchern versteckt und versucht, einen der vorarbeiter der kaffeeplantage mit steinen zu erschlagen. der mann hatte sich wie häufig mit miguel ángels vater, einem der tagelöhnenden plantagenarbeiter, einem ehemaligen miquero, betrunken. miqueros sind äffchen, die in bäumen, die den kaffesträuchern schatten spenden, herumklettern müssen, um diese zu beschneiden, ungesichert und jederzeit in gefahr abzustürzen – miguel ángels vater stürzte ab und blieb gelähmt, mit seiner frau und drei kindern zogen sie von einer zur anderen plantage, bis sie sich auf einer niederlassen konnten, im bezirk el paraíso: der vorarbeiter erlaubte es und erpresste sich das recht, die 15jährige tochter des miquero nach belieben zu vergewaltigen. monatelang, allabendlich, betranken sie sich, nachher. miguel ángel ertrug das nicht mehr und wollte den mann töten.

    die widerwärtige ungerechtigkeit und rücksichtslose ausbeutung auf den kaffeeplantagen ist ein zentrales element in el salvador. in der zweiten hälfte des 19. jahrhunderts bricht nach der entdeckung einer billigen chemischen produktion von indigo der handel mit indigo-pflanzen komplett zusammen, von dem das land bis dahin abhängig ist. also wechseln die plantagenbesitzer zur sehr empfindlichen kaffeepflanze und nutzen dafür vorrangig das land der indios – und diese werden Ende des 19. jahrhunderts per gesetz zu billigen arbeitskräften. so blüht der kaffeehandel im neuen jahrhundert für die grundbesitzer und die rechtelosen indios und plantagenarbeiter schuften – bis sie sich anfang der 1930er jahre organisiert wehren. was 1932 zu einem gezielten genozid an den indios führte – el matanza gilt als die blutigste epoche des landes und als ende der existenz der indigenen bevölkerung. es folgte eine lange militärdiktatur, immer wieder gefälschte wahlen, der fußballkrieg mit honduras, zunehmende instabilität durch kommunistische guerillagruppen, bis es 1980 in einen offenen bürgerkrieg mündete, der bis 1992 andauerte, als „testfeld des kalten krieges“ militärisch massiv von den usa unterstützt wurde, über 75.000 tote zur folge hatte – und mehr als eine million geflüchtete, vorrangig in die usa, vorrangig nach los angeles. wo die ankommenden ein klima der bandenkriminalität vorfinden und früh eigene banden gründen, unter grotesk lächerlichen umständen. doch die banden wachsen und schließen sich gegen andere zusammen, die mara salvatrucha entsteht. nach dem ende des bürgerkriegs versuchten die usa unter dem namen null-toleranz-strategie die banden loszuwerden und schoben hunderttausende salvadorianer ab – die banden gründeten sich in el salvador neu und erweiterten sich mit den kindern der plantagenarbeiter, mit den ärmsten der armen. das sinngebende versprechen der gangs: wertschätzung. ansehen. respekt. gemeinschaft. familie. und radikale rivalität zu anderen gangs. so stößt auch miguel ángel dazu, mit 12 jahren, nachdem er bereits gemordet hat, als mitglied einer kleinstbande tötete er mit einer machete einen anderen jungen, der ihn ausgelacht hatte.

    der mehrfach ausgezeichnete investigativ-journalist óscar martínez vom online-magazin elfaro.net und der soziologe juan josé martínez haben el niño mehrfach getroffen bei ihrer recherche zur mara salvatrucha 13, als er sich unter dem erbärmlich ausgestatteten zeugenschutzprogramms im hinterhof einer polizeistation im letzten winkel des landes aufhielt, monatlich versorgt mit einem dürftigen verpflegungskorb, mit einer selbstgebauten handgranate als versicherung, seinen tod bei angriff selbst wählen zu können, und mit seiner „frau“, einem minderjährigen mädchen seiner erweiterten familie, die zum zeitpunkt seines todes 18 jahre alt sein wird, mit der er zwei kinder hat, das jüngere wenige monate alt. die beiden autoren protokollieren diese treffen, die politisch-historischen hintergründe im land und der ms-13, der bestie, wie die bande auch genannt wird, und schildern eindringlich die umstände der aufgrund el niños aussagen erfolgter verhaftungen, die zustände in reihen der justiz und den haftanstalten selbst. und immer wieder auch die gewalt in ihrem ganzen fassungslosen entsetzen. el salvador war 2015 das gewalttätigste land der welt, mit einer mordrate von 105 pro 100.000 einwohner – diese katastrophalen dimensionen bedeuteten für eine stadt wie hamburg im jahr rund 1.800 morde, für ganz deutschland über 80.000 tötungen. im jahr 2018 war die mordrate in el savador auf die hälfte gesunken. die usa sprechen bei einer rate von 10 / 100.000 von einer epidemie.

    die autoren haben ein buch verfasst, das einen kaum mehr loslässt. es ist herausragend geschrieben, sehr breit und detailliert in der darstellung, immer wieder reflektieren die autoren ihre rolle, ihre arbeitsweise, ihren stil, um die distanz zu wahren, denn bei aller trostlosigkeit und erbärmlichkeit – sie sprechen mit einem der meistgejagten und brutalsten killer des landes, für den sie natürlich auch verständnis haben, in der situation, in der er sich befindet: de facto todgeweiht und dennoch trotzig sich an die karge dürftige gegenwart im bretterverhau klammernd, die im buch gezeigten fotos belegen auch das.

    die reportage man nannte ihn el niño de hollywood beinhaltet darüberhinaus die wohl grausamsten momente die ich bisher gelesen habe. es sind beschreibungen fern jeder effekthascherei, dabei doch schonungslose und beinah ungefilterte beschreibungen von einigen äußerst verstörenden morden, die schlachtungen gleichkommen – von solcherart entsetzlicher grausamkeit, die weit jenseits uns bekannter darstellungen von bandenkriminalität liegen wie etwa in city of god dargestellt, sind die an sich schon unbegreiflichen statistiken gefüllt.

    man nannte ihn el niño de hollywood ist ein buch, für das man starke nerven braucht. es hat einen lakonischen klang, wenn die autoren im vorwort schreiben Wir wollen Fenster aufstoßen. Allerdings ist das, was auf der anderen Seite zu sehen ist, nicht angenehm. man kann das auch als triggerwarnung lesen. es ist das enorme verdienst der beiden autoren, diese nicht angenehme gegenwart, mit der wir nicht allein über kaffeekonsum, auch politisch tagtäglich verbunden sind, ohne sie zu erkennen, derart nah heranzurücken an oder in unsere gegenwart. denn das, was dort steht, geschieht jetzt, in diesem moment.

    es ist eben keine fiktion, das geschilderte lässt sehr wenig möglichkeiten für distanz, auch wenn miguel ángel tobar nicht mehr lebt, so lebt die mara salvatrucha 13 und das land el salvador wird auf absehbare zeit zu keiner ruhe finden, überfordert in einem von ähnlicher kriminalität geplagten mittelamerika, hilflos, degradiert, vergessen, allein gelassen und ohne chance, langfristige lösungen für die viel zu vielen probleme zu entwickeln.

    óscar martínez / juan josé martínez: man nannte ihn el niño de hollywood. leben und sterben eines killers der mara salvatrucha. übersetzt von hans-joachim hartstein. antje kunstmann, münchen 2019. 320 s. 25€.

    aktuell ist das buch in der bundeszentrale für politische bildung als band 10534 der schriftenreihe für 4,50€ erhältlich.

  • der erfolg

    der erfolg

    es lagen gerade einmal 9 tage zwischen dem auch im thüringer landtag begangenen gedenktag der opfer des nationalsozialismus und der wahl eines bis dahin bedeutungslosen fdp-karrieristen mithilfe von faschisten zum ministerpräsidenten thüringens. die reaktionen auf diesen politischen zivilisationsbruch bezeugen die fassungslosigkeit in weiten teilen der gesellschaft über diesen unverzeihlichen vorgang – und ebenso die erzreaktionäre freude dass alles besser sei als eine linke regierung. bodo ramelow brachte den zusammenhang mit einem inzwischen gelöschten tweet auf den punkt: mit zwei fotos und einem zitat adolf hitlers, dessen nsdap durch eine ganz ähnliche wahl zur entscheidenden politischen kraft aufstieg, vor 90 jahren, in thüringen. ( die erwartbare empörung über diesen hindenburg-vergleich mit kemmerich hielt sich bei einem ähnlichen tweet des europäischen liberalen guy verhofstadt, der seine abscheu der kemmerichwahl gegenüber ausdrückte, naturgemäß in grenzen. )

    der tabubruch dieser wahl – der liberal-konservative pakt mit völkisch-nationalen faschisten – ist offenkundig lange vorbereitet worden, sowohl in thüringen selbst, als auch deutlich früher. karl-eckhard hahn, u.a. leiter des wissenschaftlichen dienstes der cdu-fraktion im thüringer landtag, fantasierte im the european wenige tage vor der wahl über genau jenes szenario

    Doch was ist, wenn eine Regierung mit Stimmen von AfD-Abgeordneten ins Amt kommt? Die Frage ist durch die Ankündigung der FDP Thüringen, über einen eigenen Kandidaten für die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten im Thüringer Landtag nachzudenken, wieder virulent geworden. […] Ein solcher Ministerpräsident hätte keine geringere demokratische Legitimation als ein Ministerpräsident Bodo Ramelow auch.

    hahn steht weit im rechten lager der cdu, die benannte position ist konsens im rechtsnationalen verein werteunion für dessen vorstandsvorsitzenden alexander mitsch alles besser ist als ein linker ministerpräsident – also auch eine regierung, die von einem nazi gewählt wurde, wie der thüringer cdu-vorsitzende mohring noch vor der landtagswahl bernd (!) höcke betitelte. noch einmal: für teile der konservativen partei ist die strategische zusammenarbeit mit nazis besser als eine linksbürgerliche regierung : dies ist der eigentliche zivilisationsbruch – die wahl kemmerichs war kein ergebnis politischer naivität, wie es manche fdp-politiker darstellen möchten, sondern ganz offenkundig vorbereitet und bewusst durchgeführt. und nicht nur in thüringen : die gedankenspiele einer zusammenarbeit mit der afd sind im vergangenen sommer vom cdu-vorsitzenden in sachsen-anhalt ulrich thomas ganz offen geäußert worden – mit folgenden worten:

    Es muss wieder gelingen, das Nationale mit dem Sozialen zu versöhnen.

    da kann die cdu noch so oft beschlüsse fassen – das gift des erfolges ist schon längst injiziert

    erfolg : versöhnung von nationalem und sozialem, nation und bürgertum, staat und kapital. alles ist besser als linke politik. auch die vogelschiss-relativierung der deutschen verbrechen 1933-45 (gauland) und denkmal-der-schande-verunglimpfung des gedenkens an die opfer der systematischen ermordung der europäischen juden (höcke). das alles ist besser als linke bzw als links imaginierte politik. dies ist politische linie der werteunion, mag sich die cdu noch so sehr von ihr abgrenzen wollen, es ist auch politische linie darüberhinaus, hahn und thomas gehören der werteunion nicht an.

    die wahl kemmerichs zum ministerpräsident wird also nicht die letzte wahl einer regierung mit afd-beteiligung gewesen sein, sofern cdu und fdp und konservative medien ihr verhältnis zur linkspartei nicht versachlichen. was nicht geschehen wird – die angst vor dem gespenst des kommunismus ist nach wie vor derart übermächtig, dass man lieber den erfolg mit faschisten und nazis sucht als sich zu therapieren.

    wie erfolgreich eine konservativ-nationalistische symbiose gegen das gespenst des kommunismus sein kann, hat 1930 lion feuchtwanger in seinem vermutlich besten zeitgeschichtlichen roman erfolg beschrieben. dieser spielt in münchen und beschreibt in seinem sittengemälde des landes bayern u.a. den aufhaltsamen aufstieg der wahrhaft deutschen von rupert kutzner : der roman […]

    […] betont besonders, wie die breite Bevölkerung Kutzner unterstützt, wie aber auch die konservativen Kräfte in Bayern die Kutzner-Bewegung benutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, womit sie aber erst Kutzners Aufstieg ermöglichen.

    genau dies ist die aktuelle situation in thüringen – das willfährige paktieren mit den höcke-faschisten aus egoistischem machtinteresse, woraus der aufstieg der afd zur entscheidenden politischen kraft wesentlich befördert wird, eine partei, die sich seit ihrer gründung und fortschreitenden radikalisierung nie glaubhaft von militanten nazis distanzierte, völkisches und rassistisches und antisemitisches denken förderte, ebenso aggression gegen kritiker*innen der eigenen positionen, und verachtung gegenüber der liberalen demokratie. diese förderung des aufstiegs einer rassistischen völkisch-nationalistischen antidemokratischen partei durch die kemmerich-wahl ist offenkundig noch lange in der cdu nicht verstanden worden.

    das kommunistische gespenst treibt seit seiner ersten sichtung wirtschaftsliberale und konservative politiker zu höchstleistungen auf dem antidemokratischen sektor. die wesentlichen grundzüge amerikanischer politik sind von der abwehr des kommunistischen gespenstes geprägt : die militärischen hilfen nationalistischer und faschistischer regierungen in mittel- und südamerika gegen die kommunistischen guerilleros sind dafür wohl der grausamste beleg.

    gespenster gehören zu paranormalen phänomenen und damit zu denen der einbildung und imaginierung ergo sinnestäuschung. dennoch führen imaginierungen, insbesondere solche aus angst, zu sehr realen handlungen. ein geradezu perfektes imago eines kommunistischen gespenstes hat – sehr zu vermuten wohl unfreiwillig – christopher nolan in the dark knight rises mit der figur bane erschaffen. er tritt als im tatsächlichen untergrund organisierender in der masse unsichtbarer guerilla-kämpfer maoistischer prägung in erscheinung, okkupiert mit der börse das heiligtum des kapitals, bringt mit einer atombombe ( natürlich von einem russischen wissenschaftler gebaut ! ) die gotham-welt in seine gewalt, organisiert schauprozesse stalinscher art und ist dabei selbst nur wegbereiter einer besseren zukünftigen gesellschaft. bane ist das imago einer westlichen kapitalistischen bürgergesellschaft, das fleischgewordene gespenst der kommunistischen partei, wie es seit 150 jahren durch die westlichen kapitalistischen hirne spukt und diese – angstgetrieben – zu grotesken skrupellosen antisozialen handlungen treibt.

    wie wirkmächtig irreale angstbilder sind, ist anhand der kemmerich-wahl erneut zu beobachten gewesen. armselige, dummdreiste, skrupellose politiker lassen sich lieber von rassisten menschenverächtern antidemokraten wählen als anzuerkennen, dass eine linke regierung tatsächlich überhaupt kein problem darstellt.

  • holocaust gedenken literatur

    holocaust gedenken literatur

    zum 75. jahrestag der befreiung des kz auschwitz, dem tag des gedenkens an die opfer des nationalsozialismus, auch hier einige wenige, zu wenige der lesenswerten literarischen auseinandersetzungen mit dem nicht abschließbaren. es ist mehr eine aufzählung und dringende leseempfehlung für alle, die glauben, dass die beschäftigung mit dem nationalsozialistischen deutschland und seinen verbrechen irgendwie zu wichtig genommen würde.

    die deutschsprachige nachkriegsliteratur ist geprägt von den erfahrungen des krieges und vom wiederaufbau, nimmt die systematische verfolgung und ermordung aller von der rassenideologie der nazis ausgeschlossenen und die systematische vernichtung der europäischen juden nicht in den blick. erzählungen, berichte, gedichte über oder gar von überlebenden aus den lagern sind selten. primo levis berühmter autobiografischer bericht ist das ein mensch? aus dem kz auschwitz wurde beim erscheinen 1947 kaum beachtet. in deutschland mühte man sich, nicht an zurückliegendes zu denken ( ein großartiger film zu diesem bemühen ist christian petzolds phoenix ) und startete je nach blickwinkel aus der kapitulation bei stunde null ( nach roberto rossellinis film ) bzw nach der befreiung der zukunft zugewandt – die offiziellen bezeichnungen des 8. mai in den beiden neugegründeten deutschen staaten könnten sich kaum stärker voneinander unterscheiden .

    die konzentrations- und vernichtungslager rücken erst 15 jahre nach kriegsende ins bewusstsein, der berühmte prozess gegen adolf eichmann und hannah arendts bericht und die auschwitzprozesse in frankfurt am main, wesentlich vorbereitet vom hessischen staatsanwalt fritz bauer, nehmen den holocaust erstmals in den blick. 1962 erscheint mit dem buch lebensläufe das debüt von alexander kluge darin die sehr kurze und wahrscheinlich bekannteste geschichte von ihm ein liebesversuch ( die er später auch als 13minütiges video bearbeitete ) über stattgefundenen medizinische experimente an kz-häftlingen . 2014 veröffentlichte kluge in gedenken an fritz bauer eine sammlung von 48 geschichten für ihn : wer ein wort des trostes spricht ist ein verräter .

    die literarischen publikationen zum holocaust ( als weit gefasster terminus für alle opfergruppen der nationalsozialistischen rassen-, verfolgungs- und vernichtungspolitik, um die einmaligkeit der planmäßigen vernichtung der europäischen juden einzeln zu erfassen steht der begriff shoah ) sind kaum aufzuzählen, vom roman eines schicksalslosen bis zu den wohlgesinnten, hinzukommend literatur aus den ghettos wie etwa jakob der lügner oder gedichte des beim aufstand im warschauer ghetto getöteten polnischen autors władisław szlengel – eine mögliche anlaufstelle zu publikationen der sogenannten holocaustliteratur ist die arbeitsstelle holocaust der justus-liebig-universität gießen .

    doch nicht nur das ( literarische ) gedenken an die opfer ist insbesondere in diesem jahr in die debatte geraten, auch das gedenken selbst rückt mehr und mehr in den blickpunkt angesichts rassistischen und offen antisemitischen gedanken worten taten terror . und nicht zuletzt aufgrund der politischen vereinnahmung und damit verkehrung verharmlosung nationalisierung des gedenkens . eines der stärksten bücher zu eben diesem thema war 2019 yishai sarids erzählung monster – ein junger israeli ohne allzu viele ambitionen fürs leben wird widerwillig zum historiker in der israelischen gedenkstätte yad vashem und später tourguide in deutschen vernichtungslagern insbesondere auschwitz maidanek treblinka und darin sehr erfolgreich – so erfolgreich dass ihn ein deutscher filmregisseur schließlich manipuliert : das oder die monster der erinnerung – des verbrechens – der schülergruppen – der absurden gedenkspektakel – – – in der als bericht der hauptfigur gefassten erzählung gerät vieles für den namenlosen erzähler monströs und auswegslos überhandnehmend und welche der deutungen des unfassbaren verbrechens sind zulässig unter all den möglichen ? monster ist eines der stärksten bücher sowohl über die shoah als auch das ringen der nachfolgenden und heutigen generationen sich mit ihr zu beschäftigen und dieser beschäftigung nicht entkommen zu können, denn der holocaust geht nicht weg .

  • karen köhler (hrsg.) – briefe an die täter

    karen köhler (hrsg.) – briefe an die täter

    für die erste besprechung im neuen jahr etwas besonderes: das aktuelle heft der literaturzeitschrift akzente, die im vergangenen jahr neu konzeptioniert wurde und nur noch dreimal im jahr bei hanser erscheint. die hefte stehen nun ausgewählten autor*innen zur freien verfügung: karen köhler, die mit ihrem intensiven roman miroloi ebenfalls im vergangenen jahr äußerst kontroverse rezensionen erhielt, versammelt in ihrem heft 16 autorinnen, 16 briefe, 16 anklagen befreiungen ermutigungen aus dezidiert femininer perspektive auf schuld und schuldige – ein außerordentliches vehementes statement.

    karen köhlers literatur ist immer auch performance, sie selbst ist ausgebildete schauspielerin und hat vorrangig fürs theater geschrieben, ihre prosa ist zuallererst über das direkte sprechen und (an)reden und dann unbedingt über die form zu lesen. ihr debüt-band wir haben raketen geangelt waren formal höchst unterschiedliche erzählungen doch stets aus der perspektive einer figur. so ist auch miroloi eine lange ich-erzählung mit einer den text strukturierenden, diesem sinn und halt gebenden form, dem klagelied. und nun eine zeitschrift voller direkter anreden: an die täter. und formal: briefe. diese scheinbar geringe formale vorgabe hebt jede distanz auf – die texte sprechen direkt zum leser: du bist gemeint, du ganz konkret, mit dir rede ich. und zudem: der lesende kann nicht wiedersprechen, er kann nicht unterbrechen und mansplainend den mund verbieten, er kann nur das heft schließen, sich entziehen, schuldig flüchten. die verhandlung von schuld, das zornige zweifelnde anklagen in briefform ist eine sprachliche körperliche soziale ermächtigung gegen bis dato übermächtig erscheinende täter, die frauen zu objekten opfern gemacht haben, entwürdigt, erniedrigt, verstummend, ihnen, sich selbst die stimme und würde als frau subjekt individuum zurückgeben. die briefe als form und die sich gegenseitig verstärkenden individuellen stimmen der autorinnen / absenderinnen geben dieser akzente-ausgabe ihre außerordentliche vehemenz.

    in den briefen werden verschiedene formen von übergriffigkeit belästigung entwürdigung thematisiert, denen frauen in unserer sich so aufgeklärt gebärdenden westlichen patriarchalen wirklichkeit ausgesetzt sind, im zug, im urlaub, in der klasse, in der partnerschaft – beinah überall laufen frauen gefahr, zu objekten degradiert, entwürdigt, angegriffen zu werden.

    die qualität der einzelnen texte mag wie in jeder anthologie schwanken, herausragend jedoch: hengameh yaghoobifarah mit ihrem wütenden und selbstgewissen brief an den schulfreund, der aus trophäensucht zum vergewaltiger wird – karosh taha mit der wiedererlangung der sprache nach einer toxischen beziehung – nefeli kavouras‚ leiser nicht minder intensiver kontrapunkt einer jungen frau, die ihren großvater pflegte – lena goreliks brief einer mutter an den vater, dessen sohn ihrem kind ein auge ausstach – nora gomringers von der unbegreiflichkeit der tat getragene briefe an den massenmörder aus überzeugung anders breivik – und karen köhlers abschließender brief an den wegschauenden tourist, der durch aktives bewusstes nichteingreifen dem übergriff gesellschaftliche struktur, soziale legitimation gibt: als metatäter.

    die texte als briefe geben denen ihre stimme zurück, die hinter den auf die vermeintlich faszinierenden täter gerichteten lautstarken medien (epstein, afd, trump, handke, naziterroristen etc) ungehört verschwinden. so sind diese briefe auch als zeitzeugnisse zu lesen für die noch lange nicht beendete #metoo-debatte, und als anklage den entwürdigten den entmündigten den ermordeten ein stimme für ihre geschichte zu geben. in welche die täter nicht eingreifen können.

    und nicht zuletzt sind diese briefe eine ermutigung für alle von gewalt und erniedrigung betroffenen, sich eben nicht in die rolle des opfers drängen zu lassen und mit den folgen der entwürdigung allein fertig werden zu müssen ja vielleicht gar für sie verantwortlich gemacht zu werden; und noch viel mehr eine ermutigung und aufforderung an alle metatäter, strukturelle ungleichheit und patriarchale gewalt nicht zu legitimieren, ihr zu widersprechen, aktiv zu werden wo es möglich und nötig ist, denn feminismus ist beileibe keine frauenarbeit, gleichberechtigung zu schaffen ist nicht aufgabe der von gesellschaftlicher diskriminierung betroffenen – den tätern und tatenlosen zusehern darf eine von sich selbst als demokratisch überzeugte gesellschaft nicht die selbstverständlichkeit gewähren die sie sich herausnehmen.

  • lest divers! – 2020 vorausschau

    lest divers! – 2020 vorausschau

    2019 geht zu ende und ich habe keine top 5 meiner gelesenen bücher als rückblickende empfehlungen. in einem jahr geprägt vom vehement eingeforderten klimaschutz vom aggressiv mörderischen rechtsextremismus vom zunehmenden nationalismus und dem herbstlichen streit um die nobelpreisung eines seiner literarischen apologeten vom hässlichen streit um die frage ob man menschen vor dem ertrinken retten sollte von der fortschreitenden ungleichheit der menschen und dem zwar prophezeiten doch noch lange nicht kommenden untergang des patriarchats – es war ein intensives jahr und das nächste wird dem in nichts nachstehen.

    was also lässt sich tun auch wenn es nur darum gehen sollte bücher zu lesen :

    orientiert euch nicht an preisen und bestsellerlisten ! geht auf die suche nach den büchern abseits von spiegel denis scheck thalia-magazin ! sucht die publikationen der kleinen verlage !

    lest literatur nicht allein aus europa ! lest iranische vietnamesiche indonesische autorinnen ! lest kenianische nigerianische maghrebinische autorinnen ! lest die geschichten der rohingya uiguren und kurden, lest die märchen boliviens venezuelas algeriens kirgistans taiwans ! lasst euch herausfordern verlasst die wohlfühlzone verlasst altbekanntes terrain literatur ist so viel mehr als wollsockige unterhaltung ! literatur ist haltung ist protest ist widerstand da die bruchstellen der gegenwart aufzeigend ist verteidigung der menschlichkeit ist behauptung des individuums.

    lasst euch nicht einseifen von der roman-überproduktion ! macht es euch schwer ! lest alte texte lest Christoph Martin Wieland und Thomas Morus und Laurence Sterne und Marina Zwetajewa, lest Heinrich Böll in der straßenbahn nach idlib, lest Ivan Turgenjew Nikolaj Gogol und Ovid auf dem weg zum ökonomieseminar. lest lyrik ohne gefühlig zu werden !

    geht ins theater und seid beeindruckt weil es überhaupt nicht euren erwartungen entspricht ! lest die theaterstücke von Jelinek und Sarah Kane ! lest die essays von Enis Maci und Laurie Penny ! lest russische literatur der 1920er jahre lest nicht-weiße autorinnen der USA lest Pablo Neruda Warlam Shalamow Rabindranath Tagore Assia Djebar Fattaneh Haj Seyed Javadi Sahar Khalifa Amos Oz und Sappho ! lest über die shoah über den völkermord an den armeniern an den herero ! lest reportagen und erfahrungsberichte der überlebenden der zeugen der nachfahren !

    lest divers ! lest literatur von minderheiten lest marginalisierte lest LSBD-literatur ! lest autorinnen mit mehr als nur einer muttersprache ! lest von denen deren erfahrungen ihr nicht teilt ! lest bücher die publiziert wurden in den 5 jahren vor eurer geburt ! lest bücher die orthografie grammatik syntax missachten !

    habt lust am text als semiologisches abenteuer !

    und dann erzählen wir uns davon.

  • slavenka drakulić – they would never hurt a fly

    slavenka drakulić – they would never hurt a fly

    an den genauen zeitpunkt erinnere ich mich nicht, vermutlich 1993 kam ich in der erfurter innenstadt, vermutlich auf dem wenigemarkt an einem info- und hilfsstand vorbei zum krieg in jugoslawien, über den in tv radio zeitung nur entsetzliches zu erfahren war. ich nahm ein plakat mit: eine junge frau kniet vor einem kleinen dürftigen holzsarg in dem ihr totes baby liegt ob verhungert erfroren ermordet ist nicht ersichtlich nur die trauer der schmerz das grauenvolle: In Bosnien stirbt Europa stand über dem foto, und bis zum abkommen von dayton hängte ich es vor mein fenster, dass es von der straße aus deutlich sichtbar war. was in jugoslawien in bosnien in und um sarajevo geschehen war, der stadt von der meine eltern einen fotoband über die olympischen winterspiele im regal stehen hatten und an deren eröffnungsfeier ich mich noch gut erinnerte – was dort unten jahrelang geschehen war, davon hatte ich keine tatsächliche vorstellung, doch das plakat im fenster bezeugte mir und meiner nachwende-depressiven stadt dass es mich sehr wohl etwas anging, dass im ersten europäischen krieg seit 1945 sich die beteiligten genauso lustvoll bestialisch beamtet grausam hässlich brutal zutiefst kolonial-national-rassistisch verhielten wie in den vorherigen kriegen des 20. jahrhunderts –

    im herbst 2005 begann ich meine stelle an der universität im ostkroatischen osijek, im slawonischen vierländereck kroatien ungarn serbien bosnien, ich kam gerade frisch aus zentralasien und landete mitten in einer nachkriegsgesellschaft, die sich neu ordnete, nicht auszusprechendes erlebt hatte und etwas stur nach vorn schauen wollte. meine seminare waren voller junger menschen aus deutschland-österreich-schweiz, die perfekt deutsch aber holprig kroatisch sprachen, zwar in jugoslawien nicht aber in osijek aufgewachsen waren und nun als rückkehrer galten. was genau geschehen war – nur sehr selten hörte ich freunde, die nicht geflüchtet waren, von ihren erlebnissen erzählen. öfter geschah es, dass man als ausländer, zumal deutscher, im gespräch über politische entwicklungen im land in eine moralisch überlegene urteilende position geriet und die gesprächspartner ungewollt in eine der rechtfertigung schob, insbesondere wenn das gespräch auf entwicklungen in den haag kam – manche hatten die auffassung, das tribunal und seine unterstützer stellten die existenz des staates kroatien in frage, manche fanden das ebenso und befürworteten es deswegen, andere wiederum waren schlicht genervt immer wieder an den krieg erinnert zu werden –

    in den zwei osijeker jahren, die mich zwischenzeitlich mit erlebnissen und erfahrungen überforderten, versuchte ich mich in der kroatischen und jugoslawischen literatur zu orientieren, von der ich kaum kenntnisse hatte. neben den sensationellen romanen „Die Brücke über die Drina“ von ivo andrić und „Die Rückkehr des Filip Latinowicz“ von miroslav krleža entdeckte ich die autorin slavenka drakulić, die in den zeitungen zu kriegsbeginn u.a. als hexe beschimpft worden war und das land verlassen musste, weil sie sich gegen tuđmans patriarchal-koloniale nationalistische antisemitische kriegslust wandte. ihre berichte als beobachterin von prozessen in den haag veröffentlichte sie 2004 auf englisch unter dem titel they would never hurt a fly (deutsch: keiner war dabei) und gehören zum eindrücklichsten intensivsten verstörendsten, das ich je gelesen habe.

    es sind geschichten nicht-fiktionale erzählungen berichte die mit einem hannah-arendt-zitat beginnen und arendts erschrecken darüber teilen, wie banal das böse in erscheinung tritt:

    So I sit and watch them, the five defendants [all of them accused of murder and torture in the Omarska and Keraterm camps in Bosnia]. They look so ordinary. But what did I expect to see? Horns? Pointed ears? After all, they were all ordinary policemen […]

    es sind eindringliche erzählungen darüber, wie und warum der krieg seine katastrophale inhumane grausamkeit entwickelt als wäre es eine selbstverständlichkeit, massaker genozide vergewaltigungen folterungen durchzuführen und nach dem rausch wieder nur allzu gewöhnlich einem alltag nachzugehen:

    […] Žigić, who took part in the massacre. The killings, he says, happened because prisoners tried to escape and were shot while running away. But why the blood in the room? asks the judge. Why the blood on the walls?
    Blood on the walls?
    Suddenly I see that picture in front of my eyes, and I realise what the judge is talking about. The death of 120 prisoners is no longer abstract, no longer words. […] When at the end of the day in the court I take a long look at the defendants, they suddenly seem different to me. I see what I did not see before – not their dull faces, but a room with its walls splashed with blood.

    es sind die normalen typen, die den krieg und seine brutalsten verbrechen aus den zumeist banalsten motiven durchführten: dražen erdemović etwa braucht für seine familie geld und arbeit und die armee gibt ihm beides – und am ende des tages hat er 70 menschen in einem massaker bei srebrenica erschossen, jeder weigerung zum trotz

    No, he would not do it! He couldn’t kill men just like that, pinot-blank. As he went up to his commander, his hands were trembling. I don’t want to do this, he said. […] Gojković looked at Dražen without flinching. His expression was serious. Erdemović, he said, if you don’t want to do it, walk over there and stand together with the prisoners so that we can shoot you, too.

    die wirksamkeit einer langjährig vorbereiteten ideologisierung zum nationalismus lässt sich an dražens erstem mord ablesen: die vorbereitung zum genozid ist die reduktion des individuums auf einzelne eigenschaften, ihre deutung als stigma, als teil einer gruppe von anderen, die darauf folgenden ausgrenzungen im handeln denken fühlen, eine kultur der lüge wie ein bekanntes unbedingt lesenswertes buch einer anderen kroatischen autorin, dubravka ugrešić, betitelt ist – die tödliche konsequenz aus all dem ist absurd doch in der realität alternativlos:

    Dražen understood that he and the man in front of him had something in common: they had nothing aganinst people of other nationalisties. But how could you do this? the man asked as he inhaled the smoke from the cigarette, sensing it would be his last. What could Dražen tell him but that he did not have a choice? It sounded like a stupid thing to say to a man about to lose his life, it sounded damned stupid. But it was the truth. Dražen was aware that the man was guilty only of being the wrong nationality, and in this he didn’t have a choice either.

    es sind diese grotesk grausamen geschichten wie aus einfachen menschen ganz gewöhnliche kriegsverbrecher und (un)willige vollstrecker geworden sind – und wie drakulić den mördern ein unmythisches nichtmönströses gesicht gibt, so gibt sie den opfern des krieges ein andenken. denn nichts schützt die mörder besser als das vergessen. und das verschweigen.

    slavenka drakulić hat immer wieder gegen das vergessen geschrieben, um den opfern eine stimme zu geben, so auch in ihrem 1999 entstandenen roman als gäbe es mich nicht in dem vergewaltigungen als mittel des krieges schmerzhaft angeklagt werden, ein roman, der im kontext sowohl von they would never hurt a fly als auch den seither verübten kriegsgräueln in ruanda bis zu den jesidinnen im IS gelesen werden muss – und beide bücher nicht zuletzt in der debatte um die vergabe des literatur nobelpreises 2019 an peter handke drakulićs position, die sie der norwegischen zeitung dagsavisen mitteilte, verdeutlichen: nichts könnte falscher sein als dieser preisträger

    Es ist traurig, dass mit norwegischen Steuergeldern Peter Handke gewürdigt wird.

    und bereits 2005 in literaturen handkes elfenbeinerne, poetisch-ignorante position ich bin doch nur beobachtender schriftsteller kritisierte und als durchaus ideologisch erkannte

    denn ein Krieg ist auch deshalb ein Krieg, weil es keine Neutralität mehr gibt, im Krieg hört der Schriftsteller auf, nur Schriftsteller zu sein […] Wenn im Krieg sogar die Schriftsteller zu den Feinden gezählt werden, wie kann Handke dann nicht begreifen, dass auch er selbst davon keine Ausnahme sein kann?

    die starke kritik von saša stanišić über die nobelpreisvergabe an handke gründet sich zudem auf handkes (und die seiner unterstützer) weigerung dessen proserbische haltung als politisch und im kontext seiner eigenen literatur eindeutig ideologisch zu sehen und damit dem vergessen verdrängen rechtfertigen umdeuten intellektuell vorschub zu leisten. einem vergessen und verschweigen, dem slavenka drakulić immer entgegengearbeitet hat. ihre berichte aus den haager gerichtssälen entsprichen in vielen punkten auch persönlichen berichten meiner damaligen osijeker studierenden und kolleg*innen, die nicht fliehen konnten und den krieg zt hautnah und ohne pause miterlebten, deren väter vom nachbar mit vorgehaltenem gewehr zum dienst fürs vaterland gezwungen wurden, die selbst vertrieben wurden oder als soldat irgendwo kämpften – er kenne keinen seiner generation, erzählte mir ein befreundeter kellner eines abends vom belagerten osijek 1992, als er noch keine 20 jahre alt war, keinen der ohne schlaftabletten zu bett gehe. slavenka drakulićs they would never hurt a fly gab mir eine ahnung von den traumata der regionen nationen gesellschaften in denen ich mich damals eigentlich nur zur arbeit aufhielt und mit wesentlich mehr als mir vorstellbar war konfrontiert wurde – umso wichtiger, dieses buch heute wieder zu lesen, um sich gegen die peter handkes kolloborateure nationalisten dieser welt zur wehr zu setzen.

    slavenka drakulić: they would never hurt a fly. war criminals on trial in the hague. abacus, great britain 2004. 182p, 12,49€.

    deutsche übersetzung von barbara antkowiak: keiner war dabei. kriegsverbrechen auf dem balkan vor gericht. paul zsolnay, wien 2004. 200s, 17,90€.

  • simone lappert – der sprung

    simone lappert – der sprung

    vor knapp zwei wochen wurde in basel der schweizer buchpreis vergeben, u.a. war simone lappert mit der sprung nominiert, was aus sicht der literaturkonsument-/ romanverbrauch-/ prosakäufer*innen eine gute vorauswahl ergab: der sprung ist unterhaltsam flüssig witzig zum nachdenken anregend wohlkomponiert und stellt keine störenden forderungen an die leser*innen. es ist literaturbetriebskunstprosa der mattglänzenden sorte – und die bürgerliche antithese zu bergs widerspenstig sarkastischem GRM brainfuck, der glücklicherweise prämiert wurde.

    was macht also der sprung richtig, um literarisch erfolgreich zu sein und gleichzeitig bedeutungs- weil völlig harmlos? nun, so ziemlich alles: es geht wieder einmal, wie in lapperts debüt wurfschatten, um den tod und das mädchen bzw das angedrohte sterben einer jungen frau, denn manu steht plötzlich auf dem dach eines hauses und droht sich runterzustürzen. im gegensatz zu wurfschatten stehen aber nicht die ängste und die motivation der protagonistin im zentrum, manu ist lediglich katalysator für die ängste alltagssorgen unerfüllten hoffnungen der sich als beobachter der wütend auf dem dach stehenden und stampfenden frau wiederfindenden personen: derangedrohte sprung versammelt episodisch eine willkürliche zahl weiterer figuren umeinander, die alle irgendwie verbunden sind – alles gehört zusammen und wir alle sind eine gesellschaft, scheint der roman sozialdemokratisch zu formulieren, und es ist unerheblich ob es der obdachlose henry der polizist felix die unglückliche maren die gedemütigte schülerin winnie oder der superreiche modedesigner ernesto ist – alle begegnen sich in sichtweite der unschlüssigen selbstmörderin und erfahren eine grundsätzliche entwicklung mit happy end. es ist nicht allein diese tröstung, angesichts des schlamassels einer anderen seine eigenen kleinen eingerichteten lebenslügen zu überwinden, der ganze roman schwimmt in bürgerlicher selbstvergewisserung angesichts einer tödlichen katastrophe: es ist die klassische form des bildungsromans mit auktorialer erzählweise, in der geschehen kann was will, am ende haben die figuren etwas existenzielles erfahren erlebt gelernt und man legt das buch im angenehmen gefühl beiseite, so schlimm ist es ja eigentlich alles doch nicht da draußen, man muss nur ganz fest an sich selbst glauben und seine träume nicht aufgeben etc etc – der sprung biete etwas hübscher formulierte lebensweisheiten, die sich aber auf ähnlichem niveau befinden:

    „Zu welcher Idylle hast du keinen Zugang? Und willst du das ändern?“

    der obdachlose philosoph henry – nein, das soll kein klischee sein – verkauft an die voyeuristische menge unten in der straße – auch kein klischee, gewiss nicht – existenzialistische fragen und diese ist sein opus magnum und die zusammenfassung des romans: wo und wie gehts bitte zum harmonisch verklärten kleinbürgerlichen leben? die junge manu auf dem dach lässt die tabuisierten ängste von felix – sein an asthma gestorbener kinderfreund iggy – oder der grantigen alten edna – die als lokführerin zwei selbstmorde erlebte – wiedererstehen und überwinden, winnie verbündet sich mit ihrer feindin salome zu superhelden und besiegen zusammen den oberfiesling und megaarsch timo, theres verliert zwar ihren lebenspartner und lebensmittelladen, verfügt aber in form von hunderten ü-ei-figuren – DAS symbol westdeutscher kleinbürgerlichkeit – über unerwarteten reichtum für ein neues leben etc.: am ende lauert irgendwas gutes spießiges piefiges bildungsbürgerliches idyllisches. und selbst aus manus selbstmordversuch kann simone lappert einen kalenderspruch zaubern, denn die wollte ja nicht in den tod, sondern ins leben springen. es ist dieser hang zur sinnspruchverliebten klebrigkeit, die ein weiteres mal des romans biederkeit verrät.

    und ganz nebenbei ist der sprung auch eine große bastelarbeit, denn die details – ein filzhut, zigaretten, finns fahrrad, die sache mit der balkontür etc – alles ist sorgfältig und genauestens arrangiert und über die einzelnen episoden verstreut, man kann sich das am besten als fünfteilige tv-serie vorstellen, auf zdf neo oder 3sat, in der die requisiten wichtiger als die charaktere sind, denn anhand der wiederholten und durch die episoden gereichten requisiten lässt sich dem roten faden der geschichte folgen, und pro folge wird ein tabu gebrochen bzw psychologisches geheimnis gelüftet. nichts bleibt unerklärt und unbeschriftet, keine zweifel und keine irritationen, die sprache glatt und metaphernlos, schnurrt sie widerstandfrei durch die figuren – das ist handwerklich alles ganz prima gemacht, kein fehler drin, kein anschluss verpasst, kein cliffhanger vergessen, die dramaturgie der episoden perfekt aufgebaut, der spannungsbogen trägt: all das schöne schreibhandwerk, das man heutzutage an den literaturinstituten so lernen kann, simone lappert hat ihres in biel einstudiert. doch der akademischen belletristik ist außer der handwerklichen perfektion auch in diesem fall nicht zu trauen, da es zu nichts weiter reicht als zum bürgerlichen bildungsroman, der nach lockerleichter unterhaltsamer tv-serie schreit und nebenbei alles verkitscht, was ihm vor die linse kommt: die obdachlosen und außenseiter sind die eigentlichen philosophen, ein suizidversuch ist eigentlich ein sprung ins leben zudem war sie gärtnerin, die blühende fruchtbarkeit quasi, und von irgendeiner toskana kommt gewiss der prinz bzw modezar geritten und verlangt nach deinem altbackenen filzhut, warts nur ab.

    Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? stellt henry seinem jugendlichen begleiter lukas im prolog die erste existenzfrage des buches, und angesichts dieses glatten harmlosen hochgelobten romans fällt die antwort nicht schwer.

    simone lappert: der sprung. roman. diogenes, zürich 2019. 336s, 22€.

  • katharina mevissen – ich kann dich hören

    katharina mevissen – ich kann dich hören

    über das hören zu schreiben und zu lesen mag paradox erscheinen, tatsächlich ist katharina mevissens romandebüt völlig zu unrecht von allen buchpreisen des jahres übersehen und -gangen worden, denn so unaufgeregt einfühlsam vielschichtig klug intensiv berührend und komisch erzählt sie die überraschende geschichte, man wünscht ihr eine ebenso feinfühlige hörspiel-bearbeitung.

    da ist osman, der in hamburg cello studiert und mit einer sonate nicht so recht vorankommt, der zu seiner türkischen familie kaum noch kontakt hat, außer zu seiner tante elide, bei der er aufwuchs, da sein erfolgreicher geiger-vater sich nur um seine karriere gekümmert hat und seine mutter nach italien abgehauen ist. und da ist ein in der ubahnstation gefundenes aufnahmegerät, das einigermaßen gewöhnliche wie rätselhafte aufnahmen enthält, die osman nicht mehr loslassen. und da sind plötzlich sehr viele dinge gleichzeitig, mit denen osman nicht mehr zurecht kommt, etwa seine mitbewohnerin, in die er vielleicht verliebt ist oder sie in ihn, wer weiß das schon so genau. da ist sein vater, der sich sein handgelenk gebrochen hat und seine karriere bedroht sieht. und elide will nach paris umziehen –

    der roman handelt von einem jungen mann – einem wunderbar verkorksten erzähler – und seiner von aller art klang und geräusch erfüllten welt, die sich so disparat wie aufregend einem jungen menschen während größerer entwicklungen und veränderungen darbietet, in der er einen weg finden muss mit all dem und sich selbst klar zu kommen und in der er erfährt, dass er eigentlich einmal eine schwester hatte und dass die aufnahmen des geräts vom urlaub zweier schwestern stammen, ella und jo, deren eine gehörlos ist –

    katharina mevissen hat gänzlich unaufgeregt und in herrlich klaren, gefühlvollen wörtern sätzen pinselstrichen die materialität des akustischen erzählt, wie fragil dieser zugang zur welt ist, seien es gebrochene hände, falsche worte, fehlende oder gedämpfte klänge wie nieselregen, in einer scheinbar leichten niemals oberflächlichen geschichte, deren sprachliche sicherheit beeindruckt.

    Die Musik ist eine weiche, feuchte Luft, die Tröpfchen bildet. Sie setzt sich auf mein Gesicht, meinen Hals, auf jede freie Stelle. Wird schwerer, stickiger und dehnt sich im ganzen Raum aus.

    zudem ist der roman eine wunderbare sensibilisierung für das thema handicap in der kunst, in der musik, in der literatur. mevissen hat mit franziska winkler den verein handverlesen e.v. gegründet, um literatur mehrsprachig in gebärdensprache zu übertragen und damit eine neue klanglich-visuelle dynamik zu geben, denn bei lesungen sind taube menschen meist ebensowenig inkludiert wie menschen, die in ihren rollstühlen nicht die treppen hinauf kommen.

    dennoch ist ich kann dich hören weit entfernt von belehrungen oder mahnungen, es ist im gegenteil ein ganz wunderbar erzählter klingender elegant komponierter roman, der völlig von buchpreis-messe-betrieb verdrängt wurde – und der tatsächlich eine der entdeckungen des jahres 2019 ist.

    katharina mevissen: ich kann dich hören. roman. wagenbach 2019, 168 s. 19€.

  • senthuran varatharajah – vor der zunahme der zeichen

    senthuran varatharajah – vor der zunahme der zeichen

    wie komplex und tiefgründig und zutiefst berührend und mit eindrücklich radikaler sprache und konsequent die deutsche gegenwartsliteratur sein kann, hat 2016 senthuran varatharajah mit seinem debüt vor der zunahme der zeichen gezeigt. ein buch als facebook-chat, ein briefroman also zwischen zwei personen – ein großartiger roman über fluchterfahrung identitäten sprache biografien deutschland und seine gegenwart.

    der roman ist auf engstem raum gefügt: zufällig via facebook-algorithmus wird senthil vasuthevan, dem in berlin lebenden doktorand der philosophie, zur freundschaft valmira surroi vorgeschlagen, die in marburg kunstgeschichte studiert. die beiden kennen sich über einen bekannten, sind sich aber nie begegnet und werden es auch in den wenigen tagen und nächten des intensiven chats nicht, denn valmira wird über den sommer nach prishtina zu ihrer familie fahren. ob sich senthil und valmira einst treffen werden oder weiter im kontakt bleiben – der roman bricht unvermittelt ab und lässt alles weitere offen. in diesen sechs tagen von samstag 3:24uhr bis freitag früh 7:16uhr werden sich die beiden ihre lebensgeschichten in so vielen details und farbgebungen wie kaum für möglich gehalten – valmira sagt des öfteren, sie weiß nicht, warum sie ihm das alles erzählt – geschildert haben.

    es ist ein intensives eindrückliches faszinierendes beschämendes lebendiges gespräch über die eigenen flucht- und vertreibungserfahrungen, denn senthil ist tamile aus jaffna in sri lanka und seine familie ist im bürgerkrieg 1983-2009 vertrieben und über den globus verstreut worden. valmira wiederum ist kosovo-albanerin und ihre familie floh ebenfalls vor den zerstörungen des krieges. nicht allein die fluchterfahrungen, auch die meist demütigenden erlebnisse als kinder im asyllandheim die immer wieder als normalität ausgrenzung und abwertung erfahren, gegen die sich beide dennoch behaupten können, verbindet sie – nicht allein also die detailreich geschilderten migrationserfahrungen werden plastisch und nachvollziehbar und konsequent offengelegt und fügt dem gespräch auch die leser*innen hinzu.

    es ist zudem die motivdichte und die verbindungen und verwebungen der motive in das gespräch der beiden, die den roman auszeichnen. es geht um schatten und licht/sonne ( schatten über die man springen kann, schatten des krieges, schatten die nicht hinter einem liegen – die sonne als stern, als licht der fotografie, als konsumgut sie haben uns mit papierkugeln und leeren capri-sonnen beworfen ) um schweigen und sprechen ( können ) um sichtbarkeit und verstecken/enttarnen ( sie sehen sich nur via fotos ihrer facebook-seiten, Sie zeigten mit ihren Fingern auf mich. Sie haben mich erkannt. ) um identitäten herkunft hautfarbe und immer wieder um sprache und varianz, auch formal. während valmira die deutsche großschreibung sowie ziffern verwendet, schreibt senthil konsequent klein und alle zahlen als wort, ausdruck ihrer zugewandtheit und überschreitung, zudem ist beider verhältnis zu ihren muttersprachen divers und in dieser diversitären brechung teil ihrer persönlichkeiten.

    und vor allem geht es natürlich um anerkennung, die lebensgeschichten erzählen zu können ohne rechtfertigung, dafür mit belebender resonanz, sieh ich verstehe dich, ich kann zu dir sprechen ohne scham und ohne begründung. beide haben sie wichtige freunde verloren ( cahil ist verstorben, kübra wurde abgeschoben ) und in ihrem chat als intimer raum entfaltet sich eine beeindruckende sprachlichkeit:

    Jeder Buchstabe hat seinen Preis. […] Wir müssen uns zwischen den Zeilen und Zeichen erraten.

    meine schrift verrutschte. meine sprache verrutschte. und in die zeichen und zeilen ging kein geräusch.

    Gestern fand ich das Deutschheft, in dem das erste Diktat steht, das ich ohne Rechtschreibfehler geschrieben habe.

    sein vater war gerber […] es wurde von ihm nur in anlauten gesprochen. er kam nicht zur sprache. […] er war nicht der rede wert.

    Wenn meine Mutter im Supermarkt Verkäufern eine Frage stellt, wird sie von ihnen geduzt.

    das, was wir, das, was ich […] sage, ist leer und nur ein zeichen einer vernichtung, der wir entkommen sind, so, wie auch wir, unser körper, unsere sprach- und schriftkörper, immer ein zeichen der vernichtung gewesen sein werden.

    es sind diese verbindungen der figuren dieses romans, die in ihrer sprachlichkeit und konsequenz beeindrucken, ihre bildhaftigkeit und ausdrucksstärke, die die beiden figuren zueinander sprechen lassen, dass sie selbst nicht zur sprache bringen können oder wollen, warum sie sich so sehr einander öffnen. auch wenn senthil zugibt, in seiner funktion als prediger durchaus zu wissen, wie man auf menschen zugeht. dennoch ist dieses gespräch auch lesbar wie ein von beiden geführtes gebet – mit jemandem der sowohl anwesend als auch physisch abwesend ist: Ich wollte [Sara] von Dir erzählen, aber ich habe es nicht. das gespräch bleibt geschützt und intim –

    senthuran varatharajah, der für diesen roman mehrfach ausgezeichnet und zurecht vielfach sehr gelobt wurde, hat mit vor der zunahme der zeichen einen eindrücklichen und beeindruckenden roman geschrieben, der eine ganz eigene sehr poetische sehr konkrete stimme und sprache entwickelt und in der unmittelbarkeit des gesprächs, dem man als leser*in folgt, eine ideale form gefunden hat, migrationserfahrungen und lebensleistungen derer die an den rändern leben zur sprache zu bringen, auch wenn insbesondere senthil wenig optimistisch auf seine gegenwart blickt und die flüchtigkeit auch des sprechens betont :

    niemand wird wissen, von welchen rändern wir aus sprechen, und dass wir darüber sprechen können, ändert nichts daran.

    insbesondere der an roland barthes semiologie anknüpfende romantitel wird an der einzigen stelle des chats ausgesprochen, an der senthil über die geschichte der flucht seiner familie berichtet ( die zunahme der zeichen als stärker werdendes anzeichen der drohenden vernichtung durch die armee ) und dieser absatz mittwoch nacht ist der einzige, bei dem die verbindung abstürzt und den valmira nicht lesen wird. so schreibt varathurajah die semiologie als skeptiker fort : ohne übertragung der zeichen ist erkenntnis nicht möglich. oder: wer sich nicht zuhören kann, wird nichts erfahren. auch: ein buch allein ändert nichts –

    doch ohne diesen roman wäre es noch aussichtsloser.

    senthuran varatharajah: vor der zunahme der zeichen. roman. s fischer, frankfurt a m 2016. 256 s, 19,99€ (tb: fischer, f.a.m. 2018, 250s, 12€)