Kategorie: archives

  • na hong-jin – the chaser

    na hong-jin – the chaser

    beschrieb memories of murder 2003 die historische signatur der südkoreanischen gesellschaft, die ihre traumata verdrängt hatte, erleben wir in the chaser fünf jahre später das auseinanderbrechen eben dieser gesellschaft. hier sind nur noch einzel- und partikularinteressen am destruktiven werk, einen überblick oder gar verständnis für ein gesamtbild entwickelt keine einzige figur, was katastrophale folgen hat. und spoileralarm: es wird im danach folgenden film noch schlimmer.

    es geht um den rücksichtslosen zuhälter joong-ho, ehemaliger polizist in seoul, der das verschwinden seiner prostituierten mit einem kunden in zusammenhang bringt. joong-ho verdächtigt den kunden, den sympathisch wirkenden yeong-min, die frauen nach china zu schleusen. tatsächlich hat yeong-min die frauen alle grausam getötet, selbst als er dies der polizei gegenüber offenbart, glauben ihm weder die polizisten noch joong-ho und vermuten einen verwirrten wichtigtuer ähnlich dem mann, der den bürgermeister bei einer veranstaltung mit kot bewarf. die von yeong-min verschleppte und schwer verletzte mi-jin, die ebenfalls für joong-ho arbeitet, schafft es, sich aus ihrer lage zu befreien, doch yeong-min trifft sie zufällig wieder und tötet sie. mi-jins tochter, die joong-ho während seiner suche nach dem schleuser begleitet, bleibt mit joong-ho zurück.

    an dieser inhaltsskizze ist erkennbar: dieser film ist auf vielen ebenen abgründig. schon die hauptfigur joong-ho bietet nur bedingt identifikationsfläche, wer vom polizisten zum zuhälter umsattelt, hat einen beachtlichen moralischen niedergang absolviert. er erniedrigt seinen mitarbeiter rund um die uhr, schickt mi-jin vom krankenbett zur arbeit und spricht mit allen personen ausnahmslos arrogant und aggressiv. die nachverfolgung von yeong-mins verschwinden ist ausschließlich von seinem drohenden ruin motiviert, selbst ihre sechsjährige tochter eun-ji behandelt er nicht besser. erst als er yeong-mins schwester aufsucht und erfährt, dass yeong-min deren sohn grausam verstümmelt hat und dafür im gefängnis war, ahnt er, dass yeong-min die wahrheit gesagt haben könnte. yeong-min wiederum ist als ein dämon gezeichnet, unauffällig, hübsch, verletzlich wirkend, dass die polizei seinen worten nur deshalb versucht, glauben zu schenken, da sie selbst unter erfolgsdruck steht und positive resultate vorweisen muss. doch yeong-min tötet sadistisch im keller eines hauses, dessen eigentlichen besitzer er ebenfalls ermordet hat, um ungestört an frauen „rache“ zu nehmen für seinen makel der impotenz. der einzige funken hoffnung in diesem durch und durch beklemmenden film ist die wandlung joong-hos zum fürsorger für die waisin eun-ji.

    dass der film den patriarchalen begriff von frauen als objekt, ware, dienstleistung, schlachtvieh, und das maskuline selbstbild von stärke, dominanz, (sexueller) gewalt und ausbeutung grundsätzlich ablehnt, ist überdeutlich.die nachforschungen joong-hos mit eun-ji als ihn nervende begleiterin führen ihn zu verschiedenen privaten zuhälterfirmen, die über die gesamte stadt verteilt sind, die frau als geschäftsgrundlage erscheint als völlig selbstverständlich so wie bäckereien nichts skandalöses haben. auffällig ist, wie orientierungs- und hilflos sämtliche figuren agieren, mit ausnahme von yeong-min, dem es völlig egal zu sein scheint, was mit ihm selbst geschieht, als wäre ihm von anfang an klar, dass sein geständnis für die überarbeiteten polizisten viel zu übertrieben klingt, um ihm glaubhaft gefährlich zu werden. beklemmend ist die gesamte stimmung des films, die räume im film sind chaotisch, eng und schlecht beleuchtet, die wohn- und büroräume sind von erschreckender armut geprägt (ausnahme ist yeong-mins besetzte villa), auch die straßen und wege eng, düster und verwinkelt, die darstellung der stadt seoul ist labyrinthisch angelegt, lediglich der eingang – ein laden an einer ecke – lässt sich identifizieren. anhand seiner orte zeichnet the chaser das bild einer gesellschaft, die offenkundig jede illusion verloren hat, in der die ordnungskräfte bemüht aber hilfslos da überlastet und kaum gewertschätzt sind – offensichtlich einer der gründe, warum joong-ho seinen dienst quittierte. selbst das brutalo- und machogehabe der (ex-)polizisten ist hauptsächlich leere pose und gewöhnlicher umgangston, als dass es irgendeinen rest tougher coolness der maskulinen selbstermächtigung amerikanischer polizeigewaltsfantasien bezeugen würde.

    the chaser wurde 2008 als debütfilm von na hong-jin der dritterfolgreichste kinofilm. der kontrast zu den beiden noch erfolgreicheren filmen (die komödie scandal makers und der effektreich-alberne western the good, the bad, the weird, zu letzterem an anderer stelle mehr) könnte größer kaum sein. dass ein derart destruktiver, zutiefst skeptischer, hochspannender und kluger film mit so überzeugender figurenzeichnung und darstellung je in deutschland produziert und dann auch noch zu den drei erflogreichsten filmen des jahres zählen könnte, lässt sich angesichts eines dominierenden schweiger-schweighöfer-kinos in diesem land nicht vorstellen.

    na hong-jin: the chaser. südkorea 2008. 123min. fsk 18.

  • park chan-wook – durst

    park chan-wook – durst

    park chan-wook erzählt komplexe dramen, die an klassische bühnenstücke erinnern, mit allerlei fallstricken und doppelten böden, und stets politisch. zentrale motive bei park sind rache, moralität und radikale befreiung des individuums, körperlich, intellektuell, sozial. sein in der westlichen kultursphäre vermutlich bekanntester film ist old boy von 2003, der auch als einer der prägenden filme des modernen südkoreanischen kinos gilt, doch zu diesem film später ausführlicher. in durst von 2009 wird auf unerwartete weise der vampirmythos aufgegriffen und grandios variiert.

    vampire sind auch in der koreanischen populärkultur vertraut. während im hollywood-kino vorrangig die blutig-mörderische seite für den mythos von den menschlichen blutsaugern interessant scheinen, stellt park chan-wook in durst das erotische, sexuelle und die körperlichkeit ins zentrum seines film – und die frage nach moral.

    der pater sang-hyeon (song kang-ho), der sich für experimente zur verfügung gestellt hat, um ein gegenmittel gegen ein tödliches virus zu finden, infiziert sich jedoch dabei mit einer art vampirvirus und ernährt sich fortan von blut. diese grundbedingung der figur wird im film immer weiter entwickelt: er handelt falsch aus ihm richtig scheinenden motiven. so glaubt er tae-joo, die frau seines jugendfreundes kang-woo, mit der er ein verhältnis beginnt, vor ihrem brutalen mann beschützen zu müssen und sie ertränken ihn gemeinsam. die mutter von kang-woo erleidet darauf einen schweren schlaganfall. die schuld belastet sang-hyeon so schwer, dass er letztlich auch tae-joo tötet, nachdem sie ihm offenbart hat, dass sie sich selbst verletzt hat und nicht kang-woo. aus erneuter schuld macht er tae-joo zum vampir. während er aber als priester sein eigenes vampir-dasein ablehnt, genießt sie es vollkommen.

    durst thematisiert in der beziehung von sang-hyeon und tae-joo neben dem widersprüchlichen verhältnis von moralischem handeln und schuld bzw entschuldung auch körper und lust. so sehr er tae-joo auch begehrt, so stößt ihn ihr blutdurst und mordlust als vampir schließlich ab. für ihn ist das vampirsein eine bürde, die sein moralisches selbstbild als christ stört. sie versteht das vampirsein als lustvolle erlösung von einer starren, engen bürgerlichkeit. der vampir ist damit eine körpermetapher für das, was im nicht-vampir-körper vorher falsch gelaufen ist und nun nicht mehr eingehegt werden kann: sang-hyeon hat als priester enthaltsam gelebt und ist als vampir gezwungen, sein begehren und das töten anzuerkennen. für tae-joo stellt es sich umgekehrt dar, sie musste vorher nüchtern und angeödet leben und kann sich nun über die stränge schlagend nach sang-hyeons ansicht frei entfalten.

    dadurch „fehlen“ dieser vampir-erzählung eine reihe typischer motive wie etwa burggruften, särge und sonstige schauer-elemente. überhaupt ist durst weitab vom horrorgenre, durch sein überschaubares personal hat der film beinah kammerspiel-charakter und konzentriert sich im wesentlichen auf amour-fou und schuldaspekte der ungleichen hauptfiguren. dies ist auch der zusammenhang zu emile zolas roman thérèse raquin, den park als bezugsquelle für durst angab: der niedergang eines paares aufgrund eines verbrechens, bei park jedoch ins koreanische normalbürgertum der gegenwart versetzt und in surrealen genremitteln überformt. daher entfallen auch sämtliche vampirjagd-themen, die in hollywood-filmen gern und bildreich auserzählt werden. im gegenteil ist parks film fast schon zärtlich und stellt sich als film selbst lustvoll aus: in seiner ästhetik, seiner farblichen gestaltung und seinen amüsierten genreüberscheitungen, in denen sich der eigentlich selbst bemitleidende priester herumtreiben muss.

    park chan-wook: durst. südkorea 2009. 133min.

  • statt deutsche prosa : korean cinema

    statt deutsche prosa : korean cinema

    seit einigen wochen denke ich darüber nach, diesen eintrag zu verfassen. in den vergangenen monaten habe ich kein buch gelesen, das mich gereizt hätte zu einer rezension. und vor den kommenden corona-prosa-werken graut mir vom ersten tagebucheintrag an. tatsächlich hatte ich auch keinen besonderen bedarf an der sich stapelnden literatur, die debatten über kulturelle soziale politische themen [den gesamten identitätenpodcast durchhören bitte] waren interessanter und anregender als die zwischen homeschooling und homeoffice doch quälend langsame langatmige ermüdende lektüre eines großteils der gegenwartsprosa. stattdessen entschied ich mich, lange ungesehene filme des asiatischen kinos abends per kleinbeamer zu schauen – und entdeckte das, was mir in den meisten literarischen texten fehlt: ein wirkliches formenbewusstsein und erzählerische kraft, ohne zu erklären, ohne zu dozieren.

    vor zwei monaten ungefähr notierte ich:

    die streaming dienste sind bestens ausgelastet und das perfekt in die katatstrophe gelaunchte disney+ portal erfreut sich sensationeller beliebtheit. wirklich, disney? ein konzern, der als image nostalgie behauptet und im hauptgeschäft eiskalt ideologische und reaktionäre filmwelten verkauft, deren antisoziales vormodernes gesellschaftsbild offenbar überall anschlussfähig scheint, es kommt eben stets unterhaltsam im märchengewand dahergetänzelt. disney ist der illusionist einer gesellschaft, die nach anschlussfähigen (kapitalistischen großbürgerlichen reaktionären) wunschwelten ausschau hält, denn kino ist immer auch eskapismus und suspendierung einer überhand nehmenden wirklichkeit.

    doch hier ist ein traumloses plädoyer für das kino als kulturform und kunst. wenn also streaming in diesem tagen, dann folgt vor einem beliebigen disneystreifen unbedingt das gegenmodell: modernes koreanisches kino. es gibt seit mindestens 17 jahren nichts aufregenderes zu sehen als filme von kim ki-duk, park chan-wook und natürlich bong joon-ho. was in der zeit nach dem 2. weltkrieg im hollywood von alfred hitchcock oder orson welles und noch viel stärker im new hollywood cinema erzählt wurde, eine gesellschaft aus subjektiver sicht mit stets gesamtheitlicher perspektive, an den brüchen zur entsubjektivierenden moderne, das wird seit einigen jahren im kroeanischen kino konsequent weiter geführt und zu neuen radikalen ausdrucksformen gebracht.

    insgesamt habe ich in den letzten wochen über 50 filme aus asien gesehen, von denen ich ab sofort in der kategorie kino die filme vorstellen möchte, mir am interessantesten erschienen. und auch eine top-ten der besten südkoreanischen filme wird es geben.

    als einstieg eignen sich folgende links für einen überblick:

    korean new wave: https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdkoreanischer_Film

    aus dem wunderbaren filmmagazin ray https://ray-magazin.at/koreanisches-kino-zwischen-kommerz-und-provokation/

    aus der zeitschrift epd film https://www.epd-film.de/themen/koreanisches-kino

    unbedingt sehenswert ist auch kino aus thailand: https://en.wikipedia.org/wiki/Cinema_of_Thailand

    NACHTRAG: jüngere filme aus südkorea, die in den vergangenen 5 jahren entweder direkt als hollywood-kooperationen entstanden und/oder im bereich actionfilm anzusiedeln sind, werde ich nur eingeschränkt behandeln. der grund ist ihre auf meist bekannte schauwerte reudzierte ästhetik mit geringer inhaltlicher tiefe und schablonenartiger figurenzeichnung, zudem trivialer bis propagandistischer ausrichtung. als symptomatisch mag dafür kim jee-woons the age of shadows gelten, den ich später hier besprechen werde.

  • pedro mairal – auf der anderen seite des flusses

    pedro mairal – auf der anderen seite des flusses

    die literaturproduktion in den jahren vor corona ( falls die pandemie sich jenseits von tagebüchern relevant literarisch niederschlägt ) befand sich offenkundig bereits in einer krise, die man nur am rande wahrgenommen hat, da sie marktinhärent war : eine außerordentliche überproduktion von romanen oder romanartigen prosatexten, ein auf verkäuflichkeit basierender literaturbegriff, der als idealfall den bestseller annimmt, damit einhergehend eine stetige entwertung der ware buch und seinen literarischen inhalten. als einer der vielen belege dieser vielfachen überlastung des buchmarktes kann pedro mairals auf der anderen seite des flusses gelesen werden. er ist inhaltlich belanglos, eitel bis zur lächerlichkeit und war ein internationaler so großer bestseller, dass er auch im übersättigten deutschen markt erscheinen musste.

    der 2016 in argentinien unter dem titel la uruguaya erschienene text ist ein dokument dafür, was autoren erzählen, wenn sie eigentlich überhaupt nichts zu erzählen haben : sie reden weitschweifig von sich selbst und ihrer eigenen privaten krise, natürlich im gewand eines anderen. der schriftsteller lucas, ein uninteressanter mensch in den 40ern, fährt von buenos aires ins auf der anderen seite des flusses gelegene montevideo, um dort sehr viel geld als buchvorschuss in empfang zu nehmen und eine unvollendete geliebte wiederzutreffen, die ihn aber ausrauben lässt, so dass er arm und geprügelt zurückkehren muss und seine eh schon angeknackste ehe zerbricht. eine solche geschichte könnte reichlich möglichkeiten zu reflexionen über soziale politische wirtschaftliche gesellschaftliche themen argentiniens bieten vor dem kontrastierenden hintergrund uruguays, tatsächlich dient sich der roman eher als rieseführer durch montevideo an und beschäftigt sich ausschließlich mit der selbstbespiegelung von lucas. dem deutschen cover nach könnte man vllt eine schwule liebesgeschichte im stile von vargas llosa erhoffen, doch der roman ist so vollkommen hetero, dass es peinlich schmerzt. die uruguayerin guerra, die dem originaltext den titel gibt, ist der feuchte traum eines jeden midlife-befindlichen manns mit ehe- & sinnkrise : mistkerl. ich will, dass du mich vögelst haucht die mitte-20-jährige sexbombe ihm ins ohr und an ausführlichen beschreibungen ihres intimpiercings wird nicht gespart. ebensowenig an beschreibungen des ach so beschwerlichen elternalltags, die banalitäten eines sich selbst toll findenden aber nicht zu potte kommenden autors, die lächerlichen treue- & liebesschwüre des verlassenen mannes an seine exfrau, und zu schlechter letzt auch noch das kernproblem dieser ganzen story : nicht nur hat ihn die uruguayerin nicht gevögelt und auch noch ausrauben lassen und seine frau sich ein neues leben gesucht – sie ist auch noch mit einer frau zusammen, was für lucas kaum zu ertragen ist und ihr ungefiltert ungebrochen mansplainend ihr leben erklärt :

    Meine Liebelei aus der Ferne war reichlich kindisch. Du brauchtest meine Story, um deine erzählen zu können. […] Was du mir dann sagtest, hätte ich nie für möglich gehalten: Ich habe mich in jemanden verliebt, es ist eine Freundin. Eine Frau? Aber du bist nicht lesbisch. […] Mein Kopf dröhnte. Ich vermute, dass ich das weiterhin verarbeiten muss, und ich bin immer noch gekränkt. […] Und ich blieb verletzt, in sexueller Hinsicht, meine ich, der Macho, fertig, erledigt. […] In letzter Zeit treffe ich mich mit meiner Yogalehrerin. […] Wir machen es auf die tantrische Art. […] Eine echte Milf. […] Was mich am meisten fasziniert, ist, dass ich sie heftig bumse, fest an den Hüften packe […] Ich erzähle das, weil ich in letzter Zeit viel über Familie und Ehe nachdenke. Das klingt jetzt, als ob ich den Überlegenen spiele, aber ich meine das hier ganz ernst: Wir müssen eine neue Denkweise entwickeln. […] Vielleicht könnten wir etwas gemeinsam unternehmen und sogar zusammen in den Urlaub fahren. […] Ich nehme an, dass sich die Idee von Familie gewandelt hat. Sie hat etwas von einem Bausteinprinzip.

    etc etc etc so dümmlich selbstgefällig dozierend schmierig bettelnd geht es am ende des romans seitenlang zu, und da lucas seinen sohn allein und ohne auto von der schule abholt, entblödet er sich sogar, von sich selbst als wir fortschrittlichen väter zu fabulieren und in keinem einzigen satz schimmert durch, dass dieser männlich-larmoyante unsinn – wohlwollende männliche rezensenten finden diesen ton spielerisch plaudernd und wunderbar komisch – irgendwie anders gemeint sein könnte, als wie er da steht ich meine das hier ganz ernst : einem selbstverliebten gockel dabei zuzusehen, wie er einen 170seitigen brief an seine exfrau verfasst um sie zurückzugewinnen ( ich kann sie mir nicht anders als in lachen ausbrechend vorstellen, evtl peinlich berührt, dass sie mit diesem deppen ein kind gezeugt hat ) und damit seine größte niederlage zu verarbeiten, nämlich die ehefrau verloren und von der geliebten (als geliebte imaginierte) vorgeführt worden zu sein, diese story ins gewand eines künstlerromans zu kleiden, denn den künstlern wird der größte mist noch als heilig abgenommen – es steht nicht gut um die literatur der gegenwart.

    das eigentlich erstaunliche an den bestsellern ist ja, dass sie zwar eine erhöhte papierproduktion zur folge haben, aber ihr literarisch-kultureller einfluss verschwindend gering ist. die bestseller-produktion ist lediglich eine kategorie zur geldgewinnung und materialverbrennung, von dem letztlich gesellschaftlich nichts übrig bleiben wird. die argentinische tageszeitung la nacíon beschrieb mairals text so: Mit großer Dynamik erforscht dieser Roman, auf welch unterschiedliche Weise sich sexuelles Begehren auf Liebe, Geld und Literatur auswirken kann. abgesehen davon, dass der roman gar nichts erforscht außer die untiefen maskuliner selbstverklärung – ist das behauptete forschungsinteresse überhaupt von irgendeinem interesse? man könnte profan antworten : wer fickt, schreibt nicht. egal auf welcher seite des flusses.

    pedro mairal: auf der anderen seite des flusses. übersetzt von carola s fischer. mare, hamburg 2020. 176s. 20€.

  • drago jančar – die nacht, als ich sie sah

    drago jančar – die nacht, als ich sie sah

    von der gier zu leben verkündet der rücktitel dieses buches, in dem es nur vordergründig um eine faszinierende junge frau in zeiten des krieges geht, tatsächlich um eine darstellung bürgerlicher rückwärtsgewandtheit und das verhältnis von kultur zu tier: in drago jančars reaktionärem roman kommt u.a. ein wehrmachtsoffizier kritikfrei zu ehren und partisanen werden als unzivilisierte waldwilde geschildert. karl-markus gauß findet das meisterlich gut.

    die nacht, als ich sie sah ist ein buch, das sich auf eine wahre begebenheit zu beginn des jahres 1944 im heutigen slowenien bezieht und daraus das kapital der rehabilitation der kriegsparteien schlägt, sofern sie der alten k.u.k-bürgerlichkeit nahestehen. die junge frau veronika ist noch zur zeit des jugoslawischen königreiches mit dem slowenischen industriellen leo verheiratet, beginnt eine liebschaft beim reitunterricht – oh so schlüpfrig – mit einem feschen serbischen offizier der königsgarde, die beiden werden in den hintersten serbischen winkel strafversetzt, veronika ist irgendwann so angeödet vom rückständigen hinterdörflerdasein, dass sie via zagreb zurück in die vergebenden arme leos flieht, ihn erneut heiratet und auf seinem bei lubljana befindlichen herrschaftshaus lebt, bis das paar von partisanen als kolloborateure und kriegsgewinnler verhaftet und wohl noch am selben tag im wald hingerichtet und verscharrt wird. jančar erzählt diese geschichte in fünf kapiteln aus fünf blickwinkeln überlebender beteiligter kurze zeit nach kriegsende. das könnte soweit als modern durchgehen, wenn – ja wenn der ganze roman nicht wäre, denn den anfang der fünf zeugen macht der serbische offizier, der für sich genommen eine karikatur einer joseph-roth-figur abgibt, nur ist er gar nicht komisch angelegt: der kerl meint es in seiner hoffnungslos veralteten steifheit loyalität liebesberauschtheit ehrbewusstheit patriotismus absolut ernst. und nach ihm veronikas greise mutter, die ausschließlich in der vergangenheit lebt und diese betrauert. nach dieser der wehrmachtsoffizier, der den bösen verdacht der kolloboration zerstreuen möchte, da er ja als arzt nicht so wirklich zur wehrmacht gehört, ein bisschen reue über den krieg empfindet und bei leo und veronika auch nur zu klavierabenden als gast weilte. nach diesem dann das dienstpersonal, das noch einmal die großzügige und gebildete herrschaft preist und das verbrechen gesühnt sehen möchte. und ganz am schluss ein verräter, ein partisan aus dem wald, der zuvor auch als gärtner dem paar diente – jančar versucht gar nicht erst, seine sympathien irgendwie zu kaschieren, lässt die ersten vier erzähler*innen die eleganz und gebildetheit veronikas preisen und sie übertreten jederzeit mühelos die schwelle zum kitsch:

    Der Mond schien auf ihr glattes blondes Haar. Die Gnädige sang: „Tutti mi chiamano bionda, ma bionda io non sono…“ und tanzte durchs Zimmer, sie war ganz versunken in ihre Erinnerungen.

    während die partisanen ihre antipoden sind und bleiben werden:

    Sie kamen mitten im Winter, wie nächtliche Wölfe. […] Plötzlich liefen sie durch die Burg, gingen in die Zimmer, durchwühlten Schubladen und trugen verschiedene Sachen auf den Burghof. Sie fragten nichts, sagten nicht, weshalb sie gekommen waren und was sie suchten, sie schrien oder drohten nicht, schweigend taten sie ihre Arbeit, nur hier und da fiel ein abgerissener Befehl.

    eine stärkere, plakativere, dämlichere schwarz-weiß-zeichnung lässt sich kaum denken. und jančar revidiert diese konstellation im gesamten roman nicht. wenn man den furchtbar altbacken und gekünstelt klingenden text auch nur im ansatz ernst nehmen oder mit interesse lesen wollte, so fehlt jegliche entwicklung, jegliche veränderung in den behaupteten perspektivwechseln. es ist stets ein einziges lamento über das untergegangene, geraubte, kulturlos ermordete schöne: veronika lässt sich als sexuell überladene allegorie des serbischen könig-/habsburgischen kaiserreichs lesen, die blond-blöd-eitel mit alligator und wallender mähne umherspazierenden großbürgerliche herrlichkeit – die gestaltgewordene vormoderne, dessen verschwinden der roman betrauert. klebrig wird das ganze durch die vollständige zurückweisung politischen kontextes – veronika trägt die selbstverständlichen züge der unschuld, quasiheilig und fin-de-siècle-femme fatale in eins gequetscht, böswillig kulturlos von wilden aus dem wald zerstört.

    damit ist er eine variation des schon damals eklig reaktionären romans die glut des damals als wiederentdeckung gefeierten sándor márai. das besondere detail: der anfangs erwähnte karl-markus gauß, der selbst sehr lesenswerte bücher über minderheiten europas schrieb, nannte in der süddeutschen zeitung maráis roman kulissenschieberei, aus dem der staub altösterreichs riesele und wunderte sich über die lächerliche ernsthaftigkeit des textes. gleicher gauß stellt zwanzig jahre später im gleichen blatt einen im grunde identischen roman als ein meisterwerk der europäischen erzählkunst vor. wie doch die zeit vergeht.

    womöglich gibt es eine spezifisch slowenische perspektive auf diese zeit und ihre ereignisse, die den öden bis lächerlichen bis relativierenden und reaktionären text selbst in anderes licht stellen könnten. denn die jahre nach dem ersten weltkrieg und bis zum beginn der jugoslawischen volksrepublik sind für ungeschulte leser*innen im grunde nicht zu erfassen. dass etwa zur slowenischen spezifik ihr status als banschaft drau im königreich jugoslawien gehört, zugleich die territorialen varianzen und herrschaftswechsel des gebietes des heutigen sloweniens, teile zu italien gehörend, teile zum jugoslawischen königreich, dann deutsche herrschaft und/oder deutsche militärverwaltung der operationszone adria, flankiert vom kroatischen, faschistischen ustascha-staat – es gäbe vieles, das ein guter verlag zur historischen einordnung, als lektürestütze, als weiterführende informationen beigefügt hätten haben können, für das leseverständnis sehr wahrscheinlich notwendige anmerkungen, um auszugweise den historischen kontext der ganzen sache zu erfassen. und so vielleicht auch den schock nachvollziehbar zu machen, den die proletarischen partisanen beim vom krieg und von jeher in allen politischen konstellationen profitierenden großbürgertum auslösten: den schock zu wissen, dass man nun nicht mehr einfach davonkommt, denn die königlich-vormoderne ordnung stützte sich auf die wahrheit, dass soldaten die kleinen leute sind, die in den kriegen für das überleben des kapitals ihre rübe hinhalten – nun, in diesem zweiten weltkrieg, aber eben nicht mehr. dass er mit dem kriegsende 1945 bzw in der nacht… bereits mit dem tod veronikas die tradierte ordnung für ewig an „wölfe“ verloren hat, beklagt jančar also wortreich und schreibt sich so ein in einen von männern dominierten konservativen bis reaktionären, intellektuell zutiefst antimodernen, in konsequenz antieuropäischen literaturzirkel (tellkamp, handke, lewitscharoff etc), um den man getrost einen großen historischen bogen machen darf.

    drago jančar. die nacht, als ich sie sah. folio 2015. 200s. 19,90€.

  • colson whitehead – die nickel boys

    colson whitehead – die nickel boys

    wir müssen über übersetzungen reden. war das vorige buch eine herausragende arbeit der großartigen terézia mora, so ist die vorliegende übersetzung des etwas weniger bekannten henning ahrens mindestens diskutabel, stellt vor allem in sachen lektoratsarbeit für den verlag hanser kein gutes zeugnis aus. der eigentliche roman von colson whitehead verblasst dahinter weitgehend.

    die geschichte des dreiteiligen romans die nickel boys ist rasch erzählt. 1) der intelligente aber naive elwood curtis lebt anfang der 1960er jahre mit seiner großmutter in einer kleinen amerikanischen südstaatengemeinde und hilft im örtlichen lebensmittelladen. als er unerwartet für ein college vorgeschlagen wird und die zusage erhält, könnte ihm eine glänzende zukunft eröffnet werden, so wie es rev. dr. king in seinen reden andeutet, doch aufgrund eines fatalen zufalls landet er 2) im nickel, einer verwahranstalt für kriminelle und sozial auffällige jugendliche. dort wird er misshandelt und gedemütigt in einem system, das vollständig jenseits aller gesellschaftlicher aufmerksamkeit steht. bei einem fluchtversuch mit seinem besten freund turner wird elwood erschossen, doch 3) turner nimmt ihn zu ehren seine identität an und lebt viele jahre später in new york ein recht solides leben. eines tages offenbart er sich seiner lebensgefährtin und nachforschungen zu den verbrechen im nickel beginnen.

    der roman steht gänzlich im schatten des viel beachteten und ausgezeichneten, von nikolaus stingl übersetzten railroad underground, eine rasante fahrt durch die untiefen amerikanischer unterdrückung von black americans. die nickel boys zeichnen ein anderes bild, das wesentlich von den hoffnungen zur teilhabe an der amerikanischen gesellschaft und den brutalen enttäuschungen bestimmt wird. die geschichte von elwood beginnt damit, dass er eine schallplatte mit reden martin luther kings immer wieder hört und diese als ermutigung begreift. elwoods tod und das weitertragen seines andenkens durch turner spiegelt auf eigene weise den mord an dr. king und seiner enormen nachwirkung: turner/elwood hat 20 jahre nach der flucht in new york fuß gefasst und ein eigenes business eröffnet, das symbol schlechthin für die verwirklichung des american dream. es ist colson whitehead hoch anzurechnen, dass er diese geschichte, insbesondere auch die kapitel in der anstalt, ohne moral larmoyanz und pathos schildert, sondern sehr nah an seiner hauptfigur elwood bleibt und damit dessen erleben schildert, ohne es wertend auszustellen. es geht weniger um den aspekt der unterdrückung der schwarzen bevölkerung, sondern um den von schweren rückschlägen geprägten, schmerzvollen aber letztlich in teilen erfolgreichen weg zur selbstbestimmung in freiheit. in teilen, da new york und dessen einzigartige atmosphäre keineswegs die nach wie vor rassistisch geprägte usa repräsentiert.

    was nun die übersetzung ahrens‘ problematisch macht, ist dass es ihm nicht gelingt, diesen konflikt und bezug zu rev. dr. kings reden sprachlich sichtbar zu machen, ja vielmehr verstellen falsche begriffe und fragwürdige übersetzungen den roman. die spezielle sprachlichkeit des black american english im text whiteheads schafft ahrens zu keinem zeitpunkt zu transportieren. die deutsche fassung klingt meist beamtet und in vielen formulierungen ungelenk im vergleich zum oft lakonischen original: That was Elwood – as good as anyone. spreizt sich zu Das war Elwood – genauso viel wert wie jeder andere. mag das unbedeutend erscheinen und eine für übersetzungen typische oder kaum zu vermeidende unschärfe, so wird es durchaus ärgerlich im gebrauch von begriffen, die im deutschen einen sehr konkreten kontext haben, der im roman absolut nichts zu suchen hat. so heißt es in der deutschen ausgabe auf s.78:

    Er hatte in einer Kleinstadt zum Tanken gehalten. In einer Stadt der Weißen, einer Stadt der Wutbürger.

    das ist offenkundiger unsinn. der wutbürger existiert als begriff erst seit ca. 2010 und hat keinerlei bezug zur passage des romans, der in den amerikanischen 1960er jahren spielt. die originalpassage hält daher auch vollkommen andere begriffe parat, die einen gänzlich anderen fokus haben:

    He’d stopped for gas in one of those little towns. Cracker town, crack-your-head-town.

    cracker ist insbesondere im black american english ein abwertender begriff für weiße, für selbstverständlich ihre weißen rassistischen privilegien auslebenden und verteidigenden weißen, vergleichbar mit dem heutigen von migrantischen communities geprägten, pejorativ-amüsierten almans für deutsche, die ihr eigenes verhalten normativ setzen und abweichungen davon im sinne einer „leitkultur“ lautstark disqualifizieren. auch wenn dieser kontext sich nicht ohne weiteres in einem wort überträgt, so könnte man die mit cracker town formulierte haltung zb mit wichser-stadt deutlich besser als im rein formalen stadt der weißen transportieren. und eine crack-your-head-town ist auch nicht nur eine stadt mit „wutbürgern“, was immer man sich darunter vorstellen mag, sondern gemeint ist die klare bedrohung, als schwarzer dort totgeprügelt zu werden: die übersetzung ist hier verharmlosend und verfälschend.

    ähnlich schwere irrtümer im sprachgebrauch unterlaufen ahrens / hanser im bezug auf die amerikanische rassistische unterdrückung, die im roman als selbstverständliche nicht änderbare bedingung für die schwarzen beschrieben wird: wenn im original von racial matters gesprochen wird und im deutschen die rassenfrage gestellt wird, befinden wir uns klar auf dem völlig falschen gebiet der rassentheorie – allerdings ist im american english der begriff race nicht in diesem biologistisch-diskriminierenden konzept zu sehen. race ist in allererster bedeutung eine offene beschreibungskategorie für volkszählungen, vergleichbar mit ethnie oder volksgruppe, also etwas sehr unkonkretem, das der selbstbeschreibung dient und das nicht auf scheinwissenschaftlichen begründungen beruht. ein satz wie The boy was intelligent and hardworking and a credit to his race. ist also komplett unzutreffend mit Der Junge war intelligent und fleißig und eine Zierde für seine Rasse. übertragen. es ist nicht begreiflich, warum der bereits 1950 deutlich zurückgewiesene historisch veraltete rasse-begriff in ahrens‘ übertragung kommentarlos neben heutigen ausdrücken steht, was die sprachliche einordnung des textes und des erzählers – der in der rückschau die ereignisse schildert – ziemlich durcheinanderbringt.

    vollends problematisch wird die übersetzung im selbstverständlichen gebrauch des n-wortes – wobei im original-text stets der begriff Negro verwendet wird: Elwood asked his grandmother when Negroes were going to start staying at the Richmond […] was bei ahrens so klingt: Elwood wollte von seiner Großmutter wissen, wann die ersten N* im Richmond wohnen würden [anm: unkenntlichmachung von a&v] wobei mit staying eher übernachten als wohnen gemeint ist und vor allem: das wort Negro muss aus figurensicht elwoods gelesen werden und bekommt im zusammenhang mit der erwähnten schallplatte von dr. king einen klaren kontext: king hat immer wieder in seinen reden den begriff Negro verwendet als selbstermächtigung und selbstvergewisserung der black americans, auch als sozialen begriff – damit ist es vom deutschen n-wort, das nie als „schwarze“ selbstbezeichnung verwendet wurde, insbesondere im kontext des romans deutlich unterschieden und es wäre dem originaltext whiteheads angemessen gewesen, den englischen begriff zu übernehmen, zumal im roman selbst längere passagen aus reden von dr. king eingefügt und gelegentlich englische formulierungen kursiv wiedergegeben sind, allerdings völlig unklar nach welchen kriterien. ahrens und hanser haben sich aus welchen gründen auch immer entschieden, dem text damit nicht nur unschärfen hinzuzufügen, etwa a brown face mit eine farbige Person etc zu übersetzen, sondern insgesamt rücksichtslos vorzugehen, verwirrend bis verfälschend in den text einzugreifen, die komplexität und bedeutung des themas rassismus nicht erfasst zu haben.

    daher plädiere ich dringend dafür, den roman in neuer übersetzung zu veröffentlichen, die sich der rassistischen gewalt in der sprache ebenso bewusst ist wie der autor.

    es mag zur entlastung ahrens‘ gelten, dass übersetzungen insbesondere aus dem englischen heutzutage unter großem zeitdruck entstehen müssen, das arbeitspensum sollte bei mindestens 4 seiten pro tag liegen, was für literarisch anspruchsvolle texte eine große herausforderung für übersetzer*innen bedeutet – und eine quelle für fehler. dass derart offensichtliche fehler jedoch im buch verblieben sind, deutet auf ein unzureichendes lektorat seitens des verlages hin. zudem ist die wahl ahrens‘ als übersetzer für the nickel boys nur nachzuvollziehen, wenn man den bekanntheitsgrad des übersetzers vor qualität setzt. ahrens besitzt viel expertise mit übersetzungen aus dem englischen, allerdings mehrheitlich von irischen, englischen und weißen amerikanischen autor*innen wie hugo hamilton, richard powers oder gar arthur conan doyle. von colson whitehead hatte er 2000 lediglich dessen erstling the intuitionist / die fahrstuhlinspektorin übertragen, zusätzliche erfahrungen mit schwarzen englischsprachigen autor*innen hat er hingegen nicht. insofern verwundert der wenig sensible umgang mit sprachlichen besonderheiten der nickel boys nur insofern, als dass der verlag offenbar selbst wenig sorgfalt an die durchsicht der übertragung gelegt hat, um das buch möglichst rasch auf den markt zu bringen. tatsächlich ist die deutsche ausgabe des guten, mit dem pulitzer-preis ausgezeichneten romans nach wahren motiven eine irritierende, enttäuschende leseerfahrung.

    colson whitehead: die nickel boys. aus dem englischen von henning ahrens. hanser 2019. 224s, 23€.

  • zoltán danyi – der kadaverräumer

    zoltán danyi – der kadaverräumer

    ja ja ja ich hätt ja auch liebend gern die coronaverhangenen tage für etwas vorzeigbar nützliches verwendet und ohne ende gelesen und übers lesen geschrieben und dann übers schreiben vom lesen geschrieben und mich so richtig häuslich eingerichtet in meiner aus allen nähten ins unendliche platzende heimbibliothek – doch so katalogweich ists eben nicht und auch zu vermehrtem buchkonsum neigt sich bei mir nichts denn die tage sind nicht fürs lesen gemacht jedenfalls nicht bei mir

    fürs lesen sind auch die tage des helden in zoltán danyis kadaverräumer nicht gemacht doch nicht homeschooling quarantäne anti-virus-krieg setzen ihm zu sondern der echte krieg, der jugoslawische sezessionskrieg, dessen teil und täter er war auf serbischer seite wenn auch keineswegs freiwillig oder gar ahnend worauf er sich einlassen würde oder gar dass er aus dem krieg nie wieder würde herausfinden selbst wenn das normale zivile leben schon längst weitergegangen ist doch des erzählers körperseele ist vollkommen traumatisiert und von diesem trauma spricht der kadaverräumer

    es ist kein sprechen über das trauma es ist das trauma selbst die katastrophe selbst die angerichtet wurde in einem menschen mit einem menschen von einem menschen an vielen anderen

    zoltán danyi erzählt nicht linear und in teils kaum zusammenhängenden blöcken und in einer kaum gleich bleibenden sprache oder perspektive die orte der handlung wechseln zwischen den kapiteln und den absatzlosen atemlosen schutzlosen fast unförmigen kapitelteilen wir befinden uns in einer anstalt in berlin auf einer stauverklebten kreuzungin budapest in der nordserbischen voijvodina wo der erzähler zur ungarischen minderheit gehört und aufwuchs und nach dem krieg als eben kadaverräumer mit seinen ehemaligen kameraden tierleichen von den straßen bringt oder an der kroatischen küste oder in belgrad bei einem wunderheiler (bzw dem kriegverbrecher radovan karadzić, der bis zu seiner verhaftung 2005 als alternativmediziner dragan david dabić unbehelligt in belgrad praktizierte) und zwischen teils extrem komischen abschnitten liegen schwer erträgliche grausamkeiten des krieges und seine kadaver die in der sprache und ihrer enormen körperlichkeit verräumt werden müssen was nicht gelingt

    die sprache der körper die tabus sind die kaum zu überlesenden motive dieses teilweise exzessiven und äußerst direkten romans der herausragend von terézia mora aus dem ungarischen übertragen wurde denn so wie es aus dem körper herausfließt und herausfurzt und der körper sich in blähungen und ergüssen und verhaltungen windet und wälzt so fließt die sprache scheinbar ungefiltert heraus ein halbwegs geordneter stream of conciousness ein entgrenzter flüssiger textkörper der hauptsächlich davon erzählt geplagt zu sein keine ruhe und keine orientierung zu finden der sich nicht zurecht findet in der nachkriegsordnung dem eine eindeutigkeit abverlangt wird eine identifikation ein bekenntnis und männliche noch-immer-soldatische kraft die er nicht erfüllen kann oder nicht mehr erfüllen möchte

    […] und wer weiß, vielleicht war es gar nicht so sehr eine Niederlage oder eine Schande, sondern etwas Gutes, etwas sehr Positives, dass er sich auf der Massendemo zur großen Erneuerung der serbischen Nation „auf spontane Weise“ einschiss […]

    und

    […] man hätte gleich am ersten Tag Schwänze auf den Panzerwagen malen sollen, dann hätte man vielleicht noch all das vermeiden können, was danach kam und was seitdem noch alles in den Schlamm zieht, in den Dreck, dachte er, mittlerweile sitzt ein jeder bis zum Hals in der Scheiße, und es ist noch nicht zu Ende, der Niedergang ist immer noch nicht zu Ende, denn hier wird immer noch das Nationalwappen an die Wände der Häuser geschmiert, dasselbe Wappen, das im Krieg mit Scheiße und Wichse vollgeschmiert worden ist […]

    das fäkale vulgäre obszöne wird aus körperlicher sicht des namenlosen kadaverräumers mit dem nationalen und den identitäten des ehemaligen jugoslawien und habsburgisch ungarn und europa insgesamt verschränkt und lässt sich nicht auflösen aufklären der schlamm und das vollgepisste wasser in der flasche und das nationalwappen und die fleischeslust und die maskuline arroganz das soldatische und die widerwärtigkeit lässt sich leugnen oder verdrängen doch es ist traumatisch und stets anwesend und es wäre gut gewesen, das Ganze mit einem Schnaps aus der Batschka zu beenden.

    zoltán danyi hat einen radikalen roman über die wirkungen und beschädigungen des krieges geschrieben über den beschädigten körper und verstand des einzelnen soldaten wie über den verwundeten kontinent europa insgesamt der trotz aller wünsche von der krankheit nationalismus bis heute nicht genesen ist und der die hosen voll hat und bis zum hals im schlamm steckt ganz besonders im neudiktatorischen ungarn und in der als krise verharmlosten virus-katastrophe die ein vulgär-nationalistischer zusammenbruch europäischer humanität und solidarität ist

    zoltán danyi: der kadaverräumer. aus dem ungarischen von terézia mora. suhrkamp 2018. 252 s, 24 €.

  • stellungnahme grundeinkommen

    stellungnahme grundeinkommen

    da aktuell die situation für selbständige und freiberufler sehr schwierig bis existenzbedrohend ist, gibt es eine recht wilde mischung von vorschlägen zur absicherung, aus der einer immer wieder herausragt: das (bedingungslose) grundeinkommen. ich habe vor längerer zeit an anderer stelle einige gedanken dazu notiert, was manche für zu polemisch hielten. daher versuche ich hier ohne ironie und nüchtern zu benennen, warum ich von einem grundeinkommen absolut nichts halte – und zwar aus dezidiert linkem und sozialem verständnis. und ebenso, was mir insgesamt wesentlich sinnvoller da nachhaltiger und wirkungsvoller erscheint.

    zunächst: dem begriff „bedingungslos“ ist auf jeden fall zu misstrauen, denn natürlich gibt es zu definierende bedingungen, unter denen ein grundeinkommen gezahlt werden würde, ob es das alter ist, die staatszugehörigkeit, die aufenthaltsdauer im land, die wahlberechtigung etc etc – der möglichkeiten sind viele, und bisher wurden keine vorschläge gemacht, um nicht größere gruppen vom geldbezug auszuschließen. sinnvollerweise müsste man das grundeinkommen so benennen, was es tatsächlich fordert: ein einkommen ohne arbeitsbezogene gegenleistung. denn dem erhalt des grundeinkommens soll ja in erster linie kein arbeitswert vorausgehen. womit theoretisch eine bedingung für die möglichen bezieher des einkommens genannt wäre: die bevölkerung im arbeitsfähigen alter. und spätestens jetzt wird es schwierig, um nicht zu sagen unfair (denn jede definition für den bezug eines grundeinkommens exkludiert, hier etwa von armut betroffene kinder und rentner und kinderreiche familien erhielten das gleiche grundeinkommen wie kinderlose singles), und zeigt, wie beschränkt die fähigkeiten eines grundeinkommens sind, das zu tun, was man sich von ihm verspricht: menschen von arbeitsbezogenen zwängen befreien, menschen finanziell abzusichern und zu „entstressen“, menschen eine perspektive jenseits des reinen broterwerbs zu geben. diese ideen sind auf jeden fall gut und richtig und auch sozial gedacht, nur halte ich ein grundeinkommen für das völlig falsche instrument dafür. ich halte es tatsächlich für eine polemische, populistische idee, auf soziale schieflagen und fehlentwicklungen zu reagieren.

    warum: erstens und für mich absolut entscheidend wird mit einem grundeinkommen keine einzige ursache für die entstandenen fehlentwicklungen verändert. die gründe dafür, dass man im bezug auf arbeit und familie zunehmend stress erfährt, es eine ungerechte einkommensverteilung zwischen geschlechtern gibt, der zugang zu bildung und damit auch zum wohnungs- und arbeitsmarkt extrem von herkunft, name, hautfarbe abhängt – all dies wird von einem grundeinkommen nicht berührt, analysiert, infrage gestellt oder gar verändert. denn nicht die bezahlung selbst ist das vorrangige problem, sondern die zutiefst ungerechte verteilung des vermögens und dem zugang dazu.

    zweitens: ein grundeinkommen schafft selbst neue ungerechtigkeit, da es notwendigerweise bedingungen voraussetzt – oben sind einige mögliche genannt – und damit wie gesagt auch menschen vom erhalt ausschließt oder benachteiligt. es ist also bedarfsunabhängig. was für viele nach einer guten lösung klingt, ist aber ungerecht, denn warum sollten menschen, die etwa kein bafög erhalten, da die eltern zu vermögend sind, trotzdem bafög bekommen? warum sollten personen oder familien, die aufgrund ihres hohen einkommens und privatbesitzes als reich gelten, eine monatliche finanzhilfe bekommen? wohingegen menschen, die nicht unter die bedingungen eines grundeinkommens fallen, aber bedürftig wären (je nach bedingung wären das zb arme rentner, menschen ohne deutschen pass, menschen mit schwerbehinderung oder die als nicht vermittelbar in den ersten arbeitsmarkt gelten), ausgeschlossen sein könnten. es macht in meinen augen sozialpolitisch und finanzpolitisch keinen sinn, einfach allgemein geld zur verfügung zu stellen. auch und gerade jetzt, wo viele menschen sich in existenzieller bedrohung sehen und vor privatinsolvenzen aufgrund fehlendem einkommen geschützt werden müssen, ist ein grundeinkommen kein sinnvolles hilfsmittel, eben weil es bedarfsunabhängig ist und damit unpolitisch. sinnvoll aber, gerade jetzt in dieser situation, sind ausschließlich politische hilfen und veränderungen, die bedingungen und strukturen der ungerechtigkeit verändern. dass eben in den sog. systemrelevanten berufen (kassiererin, pflegerin etc) vorrangig frauen arbeiten und dort deutlich zu niedrig bezahlt werden – ein grundeinkommen gibt nur geld und ändert nichts. warum dann nicht gleich eine bessere bezahlung verlangen?

    befürworter und ideologen des grundeinkommens wie sascha liebermann setzen das recht des einzelnen und die maximale entscheidungsfreiheit des einzelnen als erstrebenswertes ziel des grundeinkommens. erst durch die sogenannte befreiung des einzelnen aus den zwängen der arbeit und staatlicher bevormundung – allein diese denkfigur ist ideologisch und setzt moralisch-wertende implikatoren – sei eine soziale gesellschaft möglich: „Wir aber halten den Freiheitsgewinn für entscheidend, den ein BGE eröffnet.“ dieser gedanke, die menschen könnten sich mittels geld von dem arbeitszwang befreien, ist libertärer unsinn, denn der zwang ist ja nicht arbeiten zu wollen oder zu können, sondern im ungünstigsten fall zu schlecht dafür bezahlt zu werden: die arbeit selbst nimmt ja nicht ab in den fraglichen branchen. wenn nun also die grundschullehrerinnen erzieherinnen pflegerinnen busfahrerinnen stadtreiningerinnen etc von der arbeit befreien, bleibt diese arbeit, die wir inzwischen als systemrelevant bezeichnen, einfach nur liegen. befreiuung ist damit wohl eher als abhauen zu verstehen.

    zudem könnte, wenn man das grundeinkommen jetzt einführte, die kaufkraft gestützt werden, insbesondere in der jetzigen situation. dass insbesondere letzteres argument absurd ist, denn die kaufkraft kann in zeiten sozialer distanzierung, geschlossener geschäfte und home-office-leben überhaupt nicht eingebracht werden, etwa durch reisen, kino, restaurants, hotels etc., wird selbstredend übergangen.

    drittens: unabhängig von corona und seinen noch nicht absehbaren folgen sind die entwicklungen, die zur immer weiter auseinandergehenden arm-reich-teilung der gesellschaften geführt haben, stets politisch herbeigeführt worden, durch steuergesetze, die vermögen begünstigen und niedrige einkommen und familien benachteiligen, durch neoliberale wirtschaftsreformen zugunsten unsicherer arbeitsverhältnisse, durch all die maßnahmen, die umverteilung zugunsten der vermögenden begünstigen und fördern. ein aktiver schutz vor armut, sozialem stress, vor unvereinbarkeit arbeit-familie gelingt nicht mit einem grundeinkommen, sondern ausschließlich mit politischen entscheidungen. denn das deutsche sozialsystem ist ungerecht und muss politisch verändert werden, was tatsächlich die entlasten würde, die von ungleichheit und druck betroffen sind. ein grundeinkommen als hilfe gegen drohenden existenzverlust zb für freiberufler ist nur dann sinnvoll, wenn es tatsächlich denen hilft, die es brauchen (ein mario barth, til schweiger oder sebastian fitzek gehören ebenso zu den freiberuflern, sind aber keineswegs in ihrer existenz bedroht, im ggs etwa zu honorardozent*innen für sprachkurse, musicaltänzer oder freie theater und viele mehr). also sollten wir uns gerade jetzt und ganz besonders aus gründen der solidarität dafür entscheiden, eben kein grundeinkommen (und schon gar kein kaufkraft stützendes helikoptergeld) zu fordern, sondern tatsächlich denen helfen, die hilfe benötigen. instrumente dazu existieren oder könnten, wie hier beschrieben, kurzfristig eingerichtet und umgesetzt werden und gleichzeitig gerecht sein.

    zusammengefasst lässt sich formulieren: die vom grundeinkommen gewünschte und als ziel benannte stärkung des individuums gegenüber der gemeinschaft bedeutet tatsächlich einen rückzug des staates aus der verantwortung gegenüber seinen bürgern, der staat gibt lediglich geld – es ist, was im ökonomischen bereich seit 1980 als „neoliberalismus“ bekannt ist und der überhaupt die aktuellen probleme im arbeits- und sozialbereich geschaffen hat. das neoliberale denkmodell minimiert staatliche steuerungsmöglichkeiten („deregulierung“) und fokussiert sich auf monetäre belange. das grundeinkommen ist die neoliberalisierung des sozialen: durch geld wird alles besser.

    oder anders gesagt: wenn man denjenigen in der nachbarschaft, die zur risikogruppe zählen, hilfe etwa beim einkaufen anbietet, bringt man doch auch nicht allen anderen in der straße, die sich problemlos selbst versorgen können oder gerade erst den supermarkt von nudeln und klopapier leergekauft haben, auch noch brot eier und käse mit.

  • binooki endet – ein enormer verlust

    binooki endet – ein enormer verlust

    als wären die tage nicht ausreichend gefüllt mit schlechten nachrichten für die kunst- und kreativwirtschaft, hilferufen und petitionen zu unterstützungen für freischaffende bis hin zu forderungen nach zeitlich begrenztem grundeinkommen für diese – da hinein platzte die nachricht, dass der berliner binooki-verlag völlig unerwartet aufhört, binooki ist sehr plötzlich out of the game.

    wenn schon diese überraschende nachricht traurig macht, so ist der grund für die eilige insolvenz geradezu unfassbar: die beiden verlegerinnen selma wels und inci bürhaniye wurden von einem polizeibekannten mann vorsätzlich um ihren verlag und ihre gesamte arbeit betrogen, der verdacht einer rassistischen tat ist nicht von der hand zu weisen, da es offenbar ausschließlich um die zerstörung des verlages ging.

    Die Kurzfassung: Seit dem 21. Februar 2020 ist klar, dass das Ende des binooki-Verlags durch einen aktenkundigen und vorbestraften Betrüger herbeigeführt wurde. Seit dem Tag kann Selma nicht mehr als Verlegerin des binooki-Verlags tätig sein, den sie im Juni 2011 in Berlin gemeinsam mit ihrer Schwester Inci gründete und der sich in den vergangenen rund acht Jahren zu einer der bedeutendsten publizistischen Stimmen entwickelt hat. An diesem Datum hat Selma Strafanzeige wegen Betrugs nach §263 StGB stellen müssen – und zur Spurensicherung alle relevanten Unterlagen an die ermittelnden Behörden übergeben.

    aus dem letzten blogpost der verlegerinnen

    der verlag war 2011/12 mit Oğuz Atay gestartet, mit einer reihe von intelligenten und prämierten medialen kampagnen über facebook instagram twitter rasch bekannt geworden und publizierte bislang kaum oder gar nicht in deutscher sprache erschienenen autor*innen in außerordentlich ästhetisch gestalteten büchern, die von anfang an auch als ebook erschienen. für mich, der ich damals noch im entfernten sibirien saß, ein segen, da ich einerseits moderne türkische literatur im deutschen buchhandel bislang vermisst hatte – außer orhan pamuk gab es nichts und die türkische bibliothek des unionsverlages war nicht als ebook erhältlich (ich habe sie mir später band für band zugelegt), andererseits hatte ich via tablet und smartphone zugang zum deutschen buchmarkt, aber eben nur den elektronischen teil. binooki war von anfang an hochmodern eingestellt, der kontakt zum verlag ausgesprochen freundlich – und dann auch noch so tolle bücher wie die beiden behzat Çkrimis von emrah serbes oder die herrlich skurrilen romane von alper canıgüz.

    doch jetzt, nach acht jahren, das bösartig erzwungene ende, nach einer reihe von hoch angesehenen und ebenso hoch dotierten auszeichnungen für ihre außergewöhnliche verlegerische arbeit, darunter 2017 den KAIROS-Preis und 2019 ein Gütesiegel des Deutschen Verlagspreises. diese arbeit ist nun mutwillig zerstört worden.

    wie es weiter gehen wird, ist noch nicht bekannt. selma wels wird als verlegerin weiterarbeiten, sehr wahrscheinlich mit einem projekt unter dem namen be.diffrnt. und sonst wird es um insolvenz- und gerichtsverfahren gehen, die zeit- und kostenaufwändig sein werden.

    wer die schwestern unterstützen möchte, kann und sollte dies sowohl mit einer paypal-spende tun und vor allem mit dem kauf der binooki-bücher, die fast alle noch über die verlagsseite erhältlich sind. und natürlich nicht nur kaufen, sondern lesen und den enormen verlust erkennen, den das ende von binooki für die literatur bedeutet.

  • yishai sarid – limassol

    yishai sarid – limassol

    im vergangenen frühjahr war monster von yishai sarid eines der herausragenden bücher, die erzählung eines orientierungslosen israeli, der in yad vashem zum holocaustforscher, nachfolgend begehrter reiseleiter durch konzentrationslager und davon immer mehr überfordert wird. das monster erinnerung und das monster mensch in einem soghaften monolog. mit seinem zweiten roman limassol wurde der autor 2009 international bekannt. in der rückschau wirkt dieser text aber, ganz anders als zu seinem erscheinen, wie ein durchschnittlicher beitrag zum geheimdienstthriller-genre.

    es geht um genau das, was als klappentext auf dem rücktitel des buches steht:

    Ein israelischer Geheimdienstler soll mithilfe der attraktiven Schriftstellerin Daphna einen Terrorverdächtigen aufspüren. Doch je tiefer er ins Geschehen eintaucht, desto mehr gerät sein Weltbild ins Wanken. In Limassol auf Zypern muss er schließlich entscheiden: Kann er an seinem Auftrag festhalten, oder wechselt er die Seiten?

    selbstverständlich ist der suspense, bezogen auf die frage, sehr gering. und was noch wichtiger ist: diese handlungsebene ist für den roman selbst vergleichsweise bedeutungslos. es ist der teil des buches, der zum genre gehört und an dem man die genreregeln sehr gut studieren kann: spannung im text entsteht vor allem deshalb, da der geheimdienstler gegenüber der daphna und damit auch dem leser nicht mit offenen karten spielen kann. wüssten wir von anfang an seinen auftrag, wäre das genre hinfällig. daphna, um den plot dennoch zu erzählen, dient als kontaktmöglichkeit zu einem todkranken palästinenser, einem befreundeten autor, der nach israel gebracht werden soll zur behandlung, um so an dessen sohn zu kommen, der als einer der hauptakteure im antiisraelischen terrornetzwerk gilt. interessanterweise ist der abfall vom glauben des aus der perspektive des geheimdienstmitarbeiters erzählten romans nicht grundsätzlichen erkenntnissen geschuldet, sondern vorrangig der tatsache, dass die operation auf limassol wesentlich von den amerikanern bestimmt und vorbereitet wurde, was ihn in seiner selbstbestimmung kränkt.

    wesentlich interessanter als diese etwas vorhersehbare secret-service-story ist die figur des namenlosen erzählers: dieser ist so sehr mit seiner arbeit und berufsmäßigen paranoia verwachsen, dass er ein normal bürgerliches familienleben nicht mehr realisieren kann, überall mögliche bedrohungen vermutet und aus wut über einen nicht gefassten selbstmordattentäter dessen bruder brutal tötet. der erzähler ist ein sehr genretypischer, desillusionierter, überambitionierter, intelligent-naiver verlierer, ihm entgleitet sein leben ebenso wie seine arbeit. seine frau verlässt ihn recht früh im roman und nimmt den kleinen sohn, den er eigentlich liebt, aber sich viel zu selten zeit für ihn nimmt, mit nach amerika. für den totschlag im folterkeller der zentrale wird er vorübergehend suspendiert. der erzähler ist das signum einer unter ständiger bedrohung und angriffen lebender und westliche standards aufrecht erhaltender gesellschaft, eine erholungspause ist unter diesen bedingungen selbst im abgelegendsten wellness-hotel nicht möglich.

    konterkariert wird dieser abgehetzte und letztlich gescheiterte erzähler von der schriftstellerin daphna und ihrem ehemaligen liebhaber und autor hani. sie haben eine ihm unbegreifliche eleganz und würde bewahrt, was auf ihn äußerst attraktiv wirkt. dass sich daraus sogar eine liebesbeziehung mit daphna entwickelt, gehört zu den unglaubwürdigen film-noir-elementen des romans, denn daphna mag den erzähler zwar auch ein bisschen, aber hauptsächlich blickt sie spöttisch auf ihn herab. hani wiederum hat krebs im endstadium und verblüfft den erzähler vor allem damit, nicht seinem bild des zornigen, gewaltbereiten und antiisraelischen palästinensers zu entsprechen.

    „Kaum zu glauben, dass Sie uns nicht hassen“, sagte ich. […] „Warum sollte ich Sie hassen?“ Hani lachte und drehte mir von unten sein Gesicht zu. „Ich kann nicht hassen. Vielleicht bin ich kein richtiger Mann. Rachegelüste sind mir fremd. Unter euch gibt es etliche Missetäter, doch für einen Menschen wie Daphna würde ich mein Leben lassen.“

    dies ist im grunde alles, was in limassol über den sog. nahost-konflikt zu erfahren ist, und das ist auch absolut in ordnung, denn beileibe nicht jedes buch von israelischen autor*innen muss nach seinem beitrag zu israel-palästina abgeklopft werden. zumal sarid seinen thriller nur strukturell angelegt hat, tatsächlich sich viel mehr für das moralische dilemma seiner hauptfigur interessiert, einen jungen araber so zu misshandeln, dass dieser stirbt, gleichzeitig eine persönliche nähe zu hani und daphna nur vorzuspielen bzw aufgrund eben dieser nähe den sohn hanis zu retten. dieses motiv dominiert letztlich den roman, der dadurch auch das genre thriller verlässt: den sohn retten.

    bzw genauer: den fremden sohn retten. den eigenen sohn konnte der erzähler schließlich nicht bei sich halten. also rettet er letztlich hanis sohn vor der erschießung, und – wesentlich breiter erzählt – den drogenabhängigen gemeinsamen sohn von daphna und hani, der fern von der mutter in einer heruntergekommenen hütte am strand wohnt und den daphna wieder bei sich haben möchte. diese eigentümliche rettungsaktionen sind allerdings im roman sehr schwach motiviert und daher wenig plausibel, gen ende gleitet der roman in ein entzugsszenario in daphnas wohnung ab, das einem nur noch behaupteten familienidyll gefährlich nahe kommt. das motiv der geretteten fremden söhne soll vermutlich im privaten das kompensieren, was ihm beruflich für ganz israel nicht gelungen ist und scheint schuldhaft zum verlust der eigenen familie zu stehen – allerdings sind die motive zu wenig ausgearbeitet und die pathetische familienmetapher drängt sich etwas schief in den text. der roman verliert an spannung und tempo in dem moment, in dem daphnas sohn in die handlung aufgenommen wird und der erzähler versucht, seine verloren gegangene vaterrolle auszufüllen.

    so entstehen zwei gegensätzliche romane, die des geheimdienstlers im klassischen genre-outfit, und die des gescheiterten vaters, der eine neue familie findet, ein bürgerlicher stoff, der sich seltsamerweise mit dem agentenkrimi nicht besonders gut versteht und der sich besonders in der zweiten hälfte als ein eher farbloser thriller liest, von dem heute, 10 jahre nach seinem erscheinen, nicht mehr allzu viele spuren im gedächtnis bleiben.

    yishai sarid: limassol. aus dem hebräischen von helene seidler. kein und aber, 206 s, 16,90€.