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  • pedro mairal – auf der anderen seite des flusses

    pedro mairal – auf der anderen seite des flusses

    die literaturproduktion in den jahren vor corona ( falls die pandemie sich jenseits von tagebüchern relevant literarisch niederschlägt ) befand sich offenkundig bereits in einer krise, die man nur am rande wahrgenommen hat, da sie marktinhärent war : eine außerordentliche überproduktion von romanen oder romanartigen prosatexten, ein auf verkäuflichkeit basierender literaturbegriff, der als idealfall den bestseller annimmt, damit einhergehend eine stetige entwertung der ware buch und seinen literarischen inhalten. als einer der vielen belege dieser vielfachen überlastung des buchmarktes kann pedro mairals auf der anderen seite des flusses gelesen werden. er ist inhaltlich belanglos, eitel bis zur lächerlichkeit und war ein internationaler so großer bestseller, dass er auch im übersättigten deutschen markt erscheinen musste.

    der 2016 in argentinien unter dem titel la uruguaya erschienene text ist ein dokument dafür, was autoren erzählen, wenn sie eigentlich überhaupt nichts zu erzählen haben : sie reden weitschweifig von sich selbst und ihrer eigenen privaten krise, natürlich im gewand eines anderen. der schriftsteller lucas, ein uninteressanter mensch in den 40ern, fährt von buenos aires ins auf der anderen seite des flusses gelegene montevideo, um dort sehr viel geld als buchvorschuss in empfang zu nehmen und eine unvollendete geliebte wiederzutreffen, die ihn aber ausrauben lässt, so dass er arm und geprügelt zurückkehren muss und seine eh schon angeknackste ehe zerbricht. eine solche geschichte könnte reichlich möglichkeiten zu reflexionen über soziale politische wirtschaftliche gesellschaftliche themen argentiniens bieten vor dem kontrastierenden hintergrund uruguays, tatsächlich dient sich der roman eher als rieseführer durch montevideo an und beschäftigt sich ausschließlich mit der selbstbespiegelung von lucas. dem deutschen cover nach könnte man vllt eine schwule liebesgeschichte im stile von vargas llosa erhoffen, doch der roman ist so vollkommen hetero, dass es peinlich schmerzt. die uruguayerin guerra, die dem originaltext den titel gibt, ist der feuchte traum eines jeden midlife-befindlichen manns mit ehe- & sinnkrise : mistkerl. ich will, dass du mich vögelst haucht die mitte-20-jährige sexbombe ihm ins ohr und an ausführlichen beschreibungen ihres intimpiercings wird nicht gespart. ebensowenig an beschreibungen des ach so beschwerlichen elternalltags, die banalitäten eines sich selbst toll findenden aber nicht zu potte kommenden autors, die lächerlichen treue- & liebesschwüre des verlassenen mannes an seine exfrau, und zu schlechter letzt auch noch das kernproblem dieser ganzen story : nicht nur hat ihn die uruguayerin nicht gevögelt und auch noch ausrauben lassen und seine frau sich ein neues leben gesucht – sie ist auch noch mit einer frau zusammen, was für lucas kaum zu ertragen ist und ihr ungefiltert ungebrochen mansplainend ihr leben erklärt :

    Meine Liebelei aus der Ferne war reichlich kindisch. Du brauchtest meine Story, um deine erzählen zu können. […] Was du mir dann sagtest, hätte ich nie für möglich gehalten: Ich habe mich in jemanden verliebt, es ist eine Freundin. Eine Frau? Aber du bist nicht lesbisch. […] Mein Kopf dröhnte. Ich vermute, dass ich das weiterhin verarbeiten muss, und ich bin immer noch gekränkt. […] Und ich blieb verletzt, in sexueller Hinsicht, meine ich, der Macho, fertig, erledigt. […] In letzter Zeit treffe ich mich mit meiner Yogalehrerin. […] Wir machen es auf die tantrische Art. […] Eine echte Milf. […] Was mich am meisten fasziniert, ist, dass ich sie heftig bumse, fest an den Hüften packe […] Ich erzähle das, weil ich in letzter Zeit viel über Familie und Ehe nachdenke. Das klingt jetzt, als ob ich den Überlegenen spiele, aber ich meine das hier ganz ernst: Wir müssen eine neue Denkweise entwickeln. […] Vielleicht könnten wir etwas gemeinsam unternehmen und sogar zusammen in den Urlaub fahren. […] Ich nehme an, dass sich die Idee von Familie gewandelt hat. Sie hat etwas von einem Bausteinprinzip.

    etc etc etc so dümmlich selbstgefällig dozierend schmierig bettelnd geht es am ende des romans seitenlang zu, und da lucas seinen sohn allein und ohne auto von der schule abholt, entblödet er sich sogar, von sich selbst als wir fortschrittlichen väter zu fabulieren und in keinem einzigen satz schimmert durch, dass dieser männlich-larmoyante unsinn – wohlwollende männliche rezensenten finden diesen ton spielerisch plaudernd und wunderbar komisch – irgendwie anders gemeint sein könnte, als wie er da steht ich meine das hier ganz ernst : einem selbstverliebten gockel dabei zuzusehen, wie er einen 170seitigen brief an seine exfrau verfasst um sie zurückzugewinnen ( ich kann sie mir nicht anders als in lachen ausbrechend vorstellen, evtl peinlich berührt, dass sie mit diesem deppen ein kind gezeugt hat ) und damit seine größte niederlage zu verarbeiten, nämlich die ehefrau verloren und von der geliebten (als geliebte imaginierte) vorgeführt worden zu sein, diese story ins gewand eines künstlerromans zu kleiden, denn den künstlern wird der größte mist noch als heilig abgenommen – es steht nicht gut um die literatur der gegenwart.

    das eigentlich erstaunliche an den bestsellern ist ja, dass sie zwar eine erhöhte papierproduktion zur folge haben, aber ihr literarisch-kultureller einfluss verschwindend gering ist. die bestseller-produktion ist lediglich eine kategorie zur geldgewinnung und materialverbrennung, von dem letztlich gesellschaftlich nichts übrig bleiben wird. die argentinische tageszeitung la nacíon beschrieb mairals text so: Mit großer Dynamik erforscht dieser Roman, auf welch unterschiedliche Weise sich sexuelles Begehren auf Liebe, Geld und Literatur auswirken kann. abgesehen davon, dass der roman gar nichts erforscht außer die untiefen maskuliner selbstverklärung – ist das behauptete forschungsinteresse überhaupt von irgendeinem interesse? man könnte profan antworten : wer fickt, schreibt nicht. egal auf welcher seite des flusses.

    pedro mairal: auf der anderen seite des flusses. übersetzt von carola s fischer. mare, hamburg 2020. 176s. 20€.

  • drago jančar – die nacht, als ich sie sah

    drago jančar – die nacht, als ich sie sah

    von der gier zu leben verkündet der rücktitel dieses buches, in dem es nur vordergründig um eine faszinierende junge frau in zeiten des krieges geht, tatsächlich um eine darstellung bürgerlicher rückwärtsgewandtheit und das verhältnis von kultur zu tier: in drago jančars reaktionärem roman kommt u.a. ein wehrmachtsoffizier kritikfrei zu ehren und partisanen werden als unzivilisierte waldwilde geschildert. karl-markus gauß findet das meisterlich gut.

    die nacht, als ich sie sah ist ein buch, das sich auf eine wahre begebenheit zu beginn des jahres 1944 im heutigen slowenien bezieht und daraus das kapital der rehabilitation der kriegsparteien schlägt, sofern sie der alten k.u.k-bürgerlichkeit nahestehen. die junge frau veronika ist noch zur zeit des jugoslawischen königreiches mit dem slowenischen industriellen leo verheiratet, beginnt eine liebschaft beim reitunterricht – oh so schlüpfrig – mit einem feschen serbischen offizier der königsgarde, die beiden werden in den hintersten serbischen winkel strafversetzt, veronika ist irgendwann so angeödet vom rückständigen hinterdörflerdasein, dass sie via zagreb zurück in die vergebenden arme leos flieht, ihn erneut heiratet und auf seinem bei lubljana befindlichen herrschaftshaus lebt, bis das paar von partisanen als kolloborateure und kriegsgewinnler verhaftet und wohl noch am selben tag im wald hingerichtet und verscharrt wird. jančar erzählt diese geschichte in fünf kapiteln aus fünf blickwinkeln überlebender beteiligter kurze zeit nach kriegsende. das könnte soweit als modern durchgehen, wenn – ja wenn der ganze roman nicht wäre, denn den anfang der fünf zeugen macht der serbische offizier, der für sich genommen eine karikatur einer joseph-roth-figur abgibt, nur ist er gar nicht komisch angelegt: der kerl meint es in seiner hoffnungslos veralteten steifheit loyalität liebesberauschtheit ehrbewusstheit patriotismus absolut ernst. und nach ihm veronikas greise mutter, die ausschließlich in der vergangenheit lebt und diese betrauert. nach dieser der wehrmachtsoffizier, der den bösen verdacht der kolloboration zerstreuen möchte, da er ja als arzt nicht so wirklich zur wehrmacht gehört, ein bisschen reue über den krieg empfindet und bei leo und veronika auch nur zu klavierabenden als gast weilte. nach diesem dann das dienstpersonal, das noch einmal die großzügige und gebildete herrschaft preist und das verbrechen gesühnt sehen möchte. und ganz am schluss ein verräter, ein partisan aus dem wald, der zuvor auch als gärtner dem paar diente – jančar versucht gar nicht erst, seine sympathien irgendwie zu kaschieren, lässt die ersten vier erzähler*innen die eleganz und gebildetheit veronikas preisen und sie übertreten jederzeit mühelos die schwelle zum kitsch:

    Der Mond schien auf ihr glattes blondes Haar. Die Gnädige sang: „Tutti mi chiamano bionda, ma bionda io non sono…“ und tanzte durchs Zimmer, sie war ganz versunken in ihre Erinnerungen.

    während die partisanen ihre antipoden sind und bleiben werden:

    Sie kamen mitten im Winter, wie nächtliche Wölfe. […] Plötzlich liefen sie durch die Burg, gingen in die Zimmer, durchwühlten Schubladen und trugen verschiedene Sachen auf den Burghof. Sie fragten nichts, sagten nicht, weshalb sie gekommen waren und was sie suchten, sie schrien oder drohten nicht, schweigend taten sie ihre Arbeit, nur hier und da fiel ein abgerissener Befehl.

    eine stärkere, plakativere, dämlichere schwarz-weiß-zeichnung lässt sich kaum denken. und jančar revidiert diese konstellation im gesamten roman nicht. wenn man den furchtbar altbacken und gekünstelt klingenden text auch nur im ansatz ernst nehmen oder mit interesse lesen wollte, so fehlt jegliche entwicklung, jegliche veränderung in den behaupteten perspektivwechseln. es ist stets ein einziges lamento über das untergegangene, geraubte, kulturlos ermordete schöne: veronika lässt sich als sexuell überladene allegorie des serbischen könig-/habsburgischen kaiserreichs lesen, die blond-blöd-eitel mit alligator und wallender mähne umherspazierenden großbürgerliche herrlichkeit – die gestaltgewordene vormoderne, dessen verschwinden der roman betrauert. klebrig wird das ganze durch die vollständige zurückweisung politischen kontextes – veronika trägt die selbstverständlichen züge der unschuld, quasiheilig und fin-de-siècle-femme fatale in eins gequetscht, böswillig kulturlos von wilden aus dem wald zerstört.

    damit ist er eine variation des schon damals eklig reaktionären romans die glut des damals als wiederentdeckung gefeierten sándor márai. das besondere detail: der anfangs erwähnte karl-markus gauß, der selbst sehr lesenswerte bücher über minderheiten europas schrieb, nannte in der süddeutschen zeitung maráis roman kulissenschieberei, aus dem der staub altösterreichs riesele und wunderte sich über die lächerliche ernsthaftigkeit des textes. gleicher gauß stellt zwanzig jahre später im gleichen blatt einen im grunde identischen roman als ein meisterwerk der europäischen erzählkunst vor. wie doch die zeit vergeht.

    womöglich gibt es eine spezifisch slowenische perspektive auf diese zeit und ihre ereignisse, die den öden bis lächerlichen bis relativierenden und reaktionären text selbst in anderes licht stellen könnten. denn die jahre nach dem ersten weltkrieg und bis zum beginn der jugoslawischen volksrepublik sind für ungeschulte leser*innen im grunde nicht zu erfassen. dass etwa zur slowenischen spezifik ihr status als banschaft drau im königreich jugoslawien gehört, zugleich die territorialen varianzen und herrschaftswechsel des gebietes des heutigen sloweniens, teile zu italien gehörend, teile zum jugoslawischen königreich, dann deutsche herrschaft und/oder deutsche militärverwaltung der operationszone adria, flankiert vom kroatischen, faschistischen ustascha-staat – es gäbe vieles, das ein guter verlag zur historischen einordnung, als lektürestütze, als weiterführende informationen beigefügt hätten haben können, für das leseverständnis sehr wahrscheinlich notwendige anmerkungen, um auszugweise den historischen kontext der ganzen sache zu erfassen. und so vielleicht auch den schock nachvollziehbar zu machen, den die proletarischen partisanen beim vom krieg und von jeher in allen politischen konstellationen profitierenden großbürgertum auslösten: den schock zu wissen, dass man nun nicht mehr einfach davonkommt, denn die königlich-vormoderne ordnung stützte sich auf die wahrheit, dass soldaten die kleinen leute sind, die in den kriegen für das überleben des kapitals ihre rübe hinhalten – nun, in diesem zweiten weltkrieg, aber eben nicht mehr. dass er mit dem kriegsende 1945 bzw in der nacht… bereits mit dem tod veronikas die tradierte ordnung für ewig an „wölfe“ verloren hat, beklagt jančar also wortreich und schreibt sich so ein in einen von männern dominierten konservativen bis reaktionären, intellektuell zutiefst antimodernen, in konsequenz antieuropäischen literaturzirkel (tellkamp, handke, lewitscharoff etc), um den man getrost einen großen historischen bogen machen darf.

    drago jančar. die nacht, als ich sie sah. folio 2015. 200s. 19,90€.

  • colson whitehead – die nickel boys

    colson whitehead – die nickel boys

    wir müssen über übersetzungen reden. war das vorige buch eine herausragende arbeit der großartigen terézia mora, so ist die vorliegende übersetzung des etwas weniger bekannten henning ahrens mindestens diskutabel, stellt vor allem in sachen lektoratsarbeit für den verlag hanser kein gutes zeugnis aus. der eigentliche roman von colson whitehead verblasst dahinter weitgehend.

    die geschichte des dreiteiligen romans die nickel boys ist rasch erzählt. 1) der intelligente aber naive elwood curtis lebt anfang der 1960er jahre mit seiner großmutter in einer kleinen amerikanischen südstaatengemeinde und hilft im örtlichen lebensmittelladen. als er unerwartet für ein college vorgeschlagen wird und die zusage erhält, könnte ihm eine glänzende zukunft eröffnet werden, so wie es rev. dr. king in seinen reden andeutet, doch aufgrund eines fatalen zufalls landet er 2) im nickel, einer verwahranstalt für kriminelle und sozial auffällige jugendliche. dort wird er misshandelt und gedemütigt in einem system, das vollständig jenseits aller gesellschaftlicher aufmerksamkeit steht. bei einem fluchtversuch mit seinem besten freund turner wird elwood erschossen, doch 3) turner nimmt ihn zu ehren seine identität an und lebt viele jahre später in new york ein recht solides leben. eines tages offenbart er sich seiner lebensgefährtin und nachforschungen zu den verbrechen im nickel beginnen.

    der roman steht gänzlich im schatten des viel beachteten und ausgezeichneten, von nikolaus stingl übersetzten railroad underground, eine rasante fahrt durch die untiefen amerikanischer unterdrückung von black americans. die nickel boys zeichnen ein anderes bild, das wesentlich von den hoffnungen zur teilhabe an der amerikanischen gesellschaft und den brutalen enttäuschungen bestimmt wird. die geschichte von elwood beginnt damit, dass er eine schallplatte mit reden martin luther kings immer wieder hört und diese als ermutigung begreift. elwoods tod und das weitertragen seines andenkens durch turner spiegelt auf eigene weise den mord an dr. king und seiner enormen nachwirkung: turner/elwood hat 20 jahre nach der flucht in new york fuß gefasst und ein eigenes business eröffnet, das symbol schlechthin für die verwirklichung des american dream. es ist colson whitehead hoch anzurechnen, dass er diese geschichte, insbesondere auch die kapitel in der anstalt, ohne moral larmoyanz und pathos schildert, sondern sehr nah an seiner hauptfigur elwood bleibt und damit dessen erleben schildert, ohne es wertend auszustellen. es geht weniger um den aspekt der unterdrückung der schwarzen bevölkerung, sondern um den von schweren rückschlägen geprägten, schmerzvollen aber letztlich in teilen erfolgreichen weg zur selbstbestimmung in freiheit. in teilen, da new york und dessen einzigartige atmosphäre keineswegs die nach wie vor rassistisch geprägte usa repräsentiert.

    was nun die übersetzung ahrens‘ problematisch macht, ist dass es ihm nicht gelingt, diesen konflikt und bezug zu rev. dr. kings reden sprachlich sichtbar zu machen, ja vielmehr verstellen falsche begriffe und fragwürdige übersetzungen den roman. die spezielle sprachlichkeit des black american english im text whiteheads schafft ahrens zu keinem zeitpunkt zu transportieren. die deutsche fassung klingt meist beamtet und in vielen formulierungen ungelenk im vergleich zum oft lakonischen original: That was Elwood – as good as anyone. spreizt sich zu Das war Elwood – genauso viel wert wie jeder andere. mag das unbedeutend erscheinen und eine für übersetzungen typische oder kaum zu vermeidende unschärfe, so wird es durchaus ärgerlich im gebrauch von begriffen, die im deutschen einen sehr konkreten kontext haben, der im roman absolut nichts zu suchen hat. so heißt es in der deutschen ausgabe auf s.78:

    Er hatte in einer Kleinstadt zum Tanken gehalten. In einer Stadt der Weißen, einer Stadt der Wutbürger.

    das ist offenkundiger unsinn. der wutbürger existiert als begriff erst seit ca. 2010 und hat keinerlei bezug zur passage des romans, der in den amerikanischen 1960er jahren spielt. die originalpassage hält daher auch vollkommen andere begriffe parat, die einen gänzlich anderen fokus haben:

    He’d stopped for gas in one of those little towns. Cracker town, crack-your-head-town.

    cracker ist insbesondere im black american english ein abwertender begriff für weiße, für selbstverständlich ihre weißen rassistischen privilegien auslebenden und verteidigenden weißen, vergleichbar mit dem heutigen von migrantischen communities geprägten, pejorativ-amüsierten almans für deutsche, die ihr eigenes verhalten normativ setzen und abweichungen davon im sinne einer „leitkultur“ lautstark disqualifizieren. auch wenn dieser kontext sich nicht ohne weiteres in einem wort überträgt, so könnte man die mit cracker town formulierte haltung zb mit wichser-stadt deutlich besser als im rein formalen stadt der weißen transportieren. und eine crack-your-head-town ist auch nicht nur eine stadt mit „wutbürgern“, was immer man sich darunter vorstellen mag, sondern gemeint ist die klare bedrohung, als schwarzer dort totgeprügelt zu werden: die übersetzung ist hier verharmlosend und verfälschend.

    ähnlich schwere irrtümer im sprachgebrauch unterlaufen ahrens / hanser im bezug auf die amerikanische rassistische unterdrückung, die im roman als selbstverständliche nicht änderbare bedingung für die schwarzen beschrieben wird: wenn im original von racial matters gesprochen wird und im deutschen die rassenfrage gestellt wird, befinden wir uns klar auf dem völlig falschen gebiet der rassentheorie – allerdings ist im american english der begriff race nicht in diesem biologistisch-diskriminierenden konzept zu sehen. race ist in allererster bedeutung eine offene beschreibungskategorie für volkszählungen, vergleichbar mit ethnie oder volksgruppe, also etwas sehr unkonkretem, das der selbstbeschreibung dient und das nicht auf scheinwissenschaftlichen begründungen beruht. ein satz wie The boy was intelligent and hardworking and a credit to his race. ist also komplett unzutreffend mit Der Junge war intelligent und fleißig und eine Zierde für seine Rasse. übertragen. es ist nicht begreiflich, warum der bereits 1950 deutlich zurückgewiesene historisch veraltete rasse-begriff in ahrens‘ übertragung kommentarlos neben heutigen ausdrücken steht, was die sprachliche einordnung des textes und des erzählers – der in der rückschau die ereignisse schildert – ziemlich durcheinanderbringt.

    vollends problematisch wird die übersetzung im selbstverständlichen gebrauch des n-wortes – wobei im original-text stets der begriff Negro verwendet wird: Elwood asked his grandmother when Negroes were going to start staying at the Richmond […] was bei ahrens so klingt: Elwood wollte von seiner Großmutter wissen, wann die ersten N* im Richmond wohnen würden [anm: unkenntlichmachung von a&v] wobei mit staying eher übernachten als wohnen gemeint ist und vor allem: das wort Negro muss aus figurensicht elwoods gelesen werden und bekommt im zusammenhang mit der erwähnten schallplatte von dr. king einen klaren kontext: king hat immer wieder in seinen reden den begriff Negro verwendet als selbstermächtigung und selbstvergewisserung der black americans, auch als sozialen begriff – damit ist es vom deutschen n-wort, das nie als „schwarze“ selbstbezeichnung verwendet wurde, insbesondere im kontext des romans deutlich unterschieden und es wäre dem originaltext whiteheads angemessen gewesen, den englischen begriff zu übernehmen, zumal im roman selbst längere passagen aus reden von dr. king eingefügt und gelegentlich englische formulierungen kursiv wiedergegeben sind, allerdings völlig unklar nach welchen kriterien. ahrens und hanser haben sich aus welchen gründen auch immer entschieden, dem text damit nicht nur unschärfen hinzuzufügen, etwa a brown face mit eine farbige Person etc zu übersetzen, sondern insgesamt rücksichtslos vorzugehen, verwirrend bis verfälschend in den text einzugreifen, die komplexität und bedeutung des themas rassismus nicht erfasst zu haben.

    daher plädiere ich dringend dafür, den roman in neuer übersetzung zu veröffentlichen, die sich der rassistischen gewalt in der sprache ebenso bewusst ist wie der autor.

    es mag zur entlastung ahrens‘ gelten, dass übersetzungen insbesondere aus dem englischen heutzutage unter großem zeitdruck entstehen müssen, das arbeitspensum sollte bei mindestens 4 seiten pro tag liegen, was für literarisch anspruchsvolle texte eine große herausforderung für übersetzer*innen bedeutet – und eine quelle für fehler. dass derart offensichtliche fehler jedoch im buch verblieben sind, deutet auf ein unzureichendes lektorat seitens des verlages hin. zudem ist die wahl ahrens‘ als übersetzer für the nickel boys nur nachzuvollziehen, wenn man den bekanntheitsgrad des übersetzers vor qualität setzt. ahrens besitzt viel expertise mit übersetzungen aus dem englischen, allerdings mehrheitlich von irischen, englischen und weißen amerikanischen autor*innen wie hugo hamilton, richard powers oder gar arthur conan doyle. von colson whitehead hatte er 2000 lediglich dessen erstling the intuitionist / die fahrstuhlinspektorin übertragen, zusätzliche erfahrungen mit schwarzen englischsprachigen autor*innen hat er hingegen nicht. insofern verwundert der wenig sensible umgang mit sprachlichen besonderheiten der nickel boys nur insofern, als dass der verlag offenbar selbst wenig sorgfalt an die durchsicht der übertragung gelegt hat, um das buch möglichst rasch auf den markt zu bringen. tatsächlich ist die deutsche ausgabe des guten, mit dem pulitzer-preis ausgezeichneten romans nach wahren motiven eine irritierende, enttäuschende leseerfahrung.

    colson whitehead: die nickel boys. aus dem englischen von henning ahrens. hanser 2019. 224s, 23€.

  • zoltán danyi – der kadaverräumer

    zoltán danyi – der kadaverräumer

    ja ja ja ich hätt ja auch liebend gern die coronaverhangenen tage für etwas vorzeigbar nützliches verwendet und ohne ende gelesen und übers lesen geschrieben und dann übers schreiben vom lesen geschrieben und mich so richtig häuslich eingerichtet in meiner aus allen nähten ins unendliche platzende heimbibliothek – doch so katalogweich ists eben nicht und auch zu vermehrtem buchkonsum neigt sich bei mir nichts denn die tage sind nicht fürs lesen gemacht jedenfalls nicht bei mir

    fürs lesen sind auch die tage des helden in zoltán danyis kadaverräumer nicht gemacht doch nicht homeschooling quarantäne anti-virus-krieg setzen ihm zu sondern der echte krieg, der jugoslawische sezessionskrieg, dessen teil und täter er war auf serbischer seite wenn auch keineswegs freiwillig oder gar ahnend worauf er sich einlassen würde oder gar dass er aus dem krieg nie wieder würde herausfinden selbst wenn das normale zivile leben schon längst weitergegangen ist doch des erzählers körperseele ist vollkommen traumatisiert und von diesem trauma spricht der kadaverräumer

    es ist kein sprechen über das trauma es ist das trauma selbst die katastrophe selbst die angerichtet wurde in einem menschen mit einem menschen von einem menschen an vielen anderen

    zoltán danyi erzählt nicht linear und in teils kaum zusammenhängenden blöcken und in einer kaum gleich bleibenden sprache oder perspektive die orte der handlung wechseln zwischen den kapiteln und den absatzlosen atemlosen schutzlosen fast unförmigen kapitelteilen wir befinden uns in einer anstalt in berlin auf einer stauverklebten kreuzungin budapest in der nordserbischen voijvodina wo der erzähler zur ungarischen minderheit gehört und aufwuchs und nach dem krieg als eben kadaverräumer mit seinen ehemaligen kameraden tierleichen von den straßen bringt oder an der kroatischen küste oder in belgrad bei einem wunderheiler (bzw dem kriegverbrecher radovan karadzić, der bis zu seiner verhaftung 2005 als alternativmediziner dragan david dabić unbehelligt in belgrad praktizierte) und zwischen teils extrem komischen abschnitten liegen schwer erträgliche grausamkeiten des krieges und seine kadaver die in der sprache und ihrer enormen körperlichkeit verräumt werden müssen was nicht gelingt

    die sprache der körper die tabus sind die kaum zu überlesenden motive dieses teilweise exzessiven und äußerst direkten romans der herausragend von terézia mora aus dem ungarischen übertragen wurde denn so wie es aus dem körper herausfließt und herausfurzt und der körper sich in blähungen und ergüssen und verhaltungen windet und wälzt so fließt die sprache scheinbar ungefiltert heraus ein halbwegs geordneter stream of conciousness ein entgrenzter flüssiger textkörper der hauptsächlich davon erzählt geplagt zu sein keine ruhe und keine orientierung zu finden der sich nicht zurecht findet in der nachkriegsordnung dem eine eindeutigkeit abverlangt wird eine identifikation ein bekenntnis und männliche noch-immer-soldatische kraft die er nicht erfüllen kann oder nicht mehr erfüllen möchte

    […] und wer weiß, vielleicht war es gar nicht so sehr eine Niederlage oder eine Schande, sondern etwas Gutes, etwas sehr Positives, dass er sich auf der Massendemo zur großen Erneuerung der serbischen Nation „auf spontane Weise“ einschiss […]

    und

    […] man hätte gleich am ersten Tag Schwänze auf den Panzerwagen malen sollen, dann hätte man vielleicht noch all das vermeiden können, was danach kam und was seitdem noch alles in den Schlamm zieht, in den Dreck, dachte er, mittlerweile sitzt ein jeder bis zum Hals in der Scheiße, und es ist noch nicht zu Ende, der Niedergang ist immer noch nicht zu Ende, denn hier wird immer noch das Nationalwappen an die Wände der Häuser geschmiert, dasselbe Wappen, das im Krieg mit Scheiße und Wichse vollgeschmiert worden ist […]

    das fäkale vulgäre obszöne wird aus körperlicher sicht des namenlosen kadaverräumers mit dem nationalen und den identitäten des ehemaligen jugoslawien und habsburgisch ungarn und europa insgesamt verschränkt und lässt sich nicht auflösen aufklären der schlamm und das vollgepisste wasser in der flasche und das nationalwappen und die fleischeslust und die maskuline arroganz das soldatische und die widerwärtigkeit lässt sich leugnen oder verdrängen doch es ist traumatisch und stets anwesend und es wäre gut gewesen, das Ganze mit einem Schnaps aus der Batschka zu beenden.

    zoltán danyi hat einen radikalen roman über die wirkungen und beschädigungen des krieges geschrieben über den beschädigten körper und verstand des einzelnen soldaten wie über den verwundeten kontinent europa insgesamt der trotz aller wünsche von der krankheit nationalismus bis heute nicht genesen ist und der die hosen voll hat und bis zum hals im schlamm steckt ganz besonders im neudiktatorischen ungarn und in der als krise verharmlosten virus-katastrophe die ein vulgär-nationalistischer zusammenbruch europäischer humanität und solidarität ist

    zoltán danyi: der kadaverräumer. aus dem ungarischen von terézia mora. suhrkamp 2018. 252 s, 24 €.

  • stellungnahme grundeinkommen

    stellungnahme grundeinkommen

    da aktuell die situation für selbständige und freiberufler sehr schwierig bis existenzbedrohend ist, gibt es eine recht wilde mischung von vorschlägen zur absicherung, aus der einer immer wieder herausragt: das (bedingungslose) grundeinkommen. ich habe vor längerer zeit an anderer stelle einige gedanken dazu notiert, was manche für zu polemisch hielten. daher versuche ich hier ohne ironie und nüchtern zu benennen, warum ich von einem grundeinkommen absolut nichts halte – und zwar aus dezidiert linkem und sozialem verständnis. und ebenso, was mir insgesamt wesentlich sinnvoller da nachhaltiger und wirkungsvoller erscheint.

    zunächst: dem begriff „bedingungslos“ ist auf jeden fall zu misstrauen, denn natürlich gibt es zu definierende bedingungen, unter denen ein grundeinkommen gezahlt werden würde, ob es das alter ist, die staatszugehörigkeit, die aufenthaltsdauer im land, die wahlberechtigung etc etc – der möglichkeiten sind viele, und bisher wurden keine vorschläge gemacht, um nicht größere gruppen vom geldbezug auszuschließen. sinnvollerweise müsste man das grundeinkommen so benennen, was es tatsächlich fordert: ein einkommen ohne arbeitsbezogene gegenleistung. denn dem erhalt des grundeinkommens soll ja in erster linie kein arbeitswert vorausgehen. womit theoretisch eine bedingung für die möglichen bezieher des einkommens genannt wäre: die bevölkerung im arbeitsfähigen alter. und spätestens jetzt wird es schwierig, um nicht zu sagen unfair (denn jede definition für den bezug eines grundeinkommens exkludiert, hier etwa von armut betroffene kinder und rentner und kinderreiche familien erhielten das gleiche grundeinkommen wie kinderlose singles), und zeigt, wie beschränkt die fähigkeiten eines grundeinkommens sind, das zu tun, was man sich von ihm verspricht: menschen von arbeitsbezogenen zwängen befreien, menschen finanziell abzusichern und zu „entstressen“, menschen eine perspektive jenseits des reinen broterwerbs zu geben. diese ideen sind auf jeden fall gut und richtig und auch sozial gedacht, nur halte ich ein grundeinkommen für das völlig falsche instrument dafür. ich halte es tatsächlich für eine polemische, populistische idee, auf soziale schieflagen und fehlentwicklungen zu reagieren.

    warum: erstens und für mich absolut entscheidend wird mit einem grundeinkommen keine einzige ursache für die entstandenen fehlentwicklungen verändert. die gründe dafür, dass man im bezug auf arbeit und familie zunehmend stress erfährt, es eine ungerechte einkommensverteilung zwischen geschlechtern gibt, der zugang zu bildung und damit auch zum wohnungs- und arbeitsmarkt extrem von herkunft, name, hautfarbe abhängt – all dies wird von einem grundeinkommen nicht berührt, analysiert, infrage gestellt oder gar verändert. denn nicht die bezahlung selbst ist das vorrangige problem, sondern die zutiefst ungerechte verteilung des vermögens und dem zugang dazu.

    zweitens: ein grundeinkommen schafft selbst neue ungerechtigkeit, da es notwendigerweise bedingungen voraussetzt – oben sind einige mögliche genannt – und damit wie gesagt auch menschen vom erhalt ausschließt oder benachteiligt. es ist also bedarfsunabhängig. was für viele nach einer guten lösung klingt, ist aber ungerecht, denn warum sollten menschen, die etwa kein bafög erhalten, da die eltern zu vermögend sind, trotzdem bafög bekommen? warum sollten personen oder familien, die aufgrund ihres hohen einkommens und privatbesitzes als reich gelten, eine monatliche finanzhilfe bekommen? wohingegen menschen, die nicht unter die bedingungen eines grundeinkommens fallen, aber bedürftig wären (je nach bedingung wären das zb arme rentner, menschen ohne deutschen pass, menschen mit schwerbehinderung oder die als nicht vermittelbar in den ersten arbeitsmarkt gelten), ausgeschlossen sein könnten. es macht in meinen augen sozialpolitisch und finanzpolitisch keinen sinn, einfach allgemein geld zur verfügung zu stellen. auch und gerade jetzt, wo viele menschen sich in existenzieller bedrohung sehen und vor privatinsolvenzen aufgrund fehlendem einkommen geschützt werden müssen, ist ein grundeinkommen kein sinnvolles hilfsmittel, eben weil es bedarfsunabhängig ist und damit unpolitisch. sinnvoll aber, gerade jetzt in dieser situation, sind ausschließlich politische hilfen und veränderungen, die bedingungen und strukturen der ungerechtigkeit verändern. dass eben in den sog. systemrelevanten berufen (kassiererin, pflegerin etc) vorrangig frauen arbeiten und dort deutlich zu niedrig bezahlt werden – ein grundeinkommen gibt nur geld und ändert nichts. warum dann nicht gleich eine bessere bezahlung verlangen?

    befürworter und ideologen des grundeinkommens wie sascha liebermann setzen das recht des einzelnen und die maximale entscheidungsfreiheit des einzelnen als erstrebenswertes ziel des grundeinkommens. erst durch die sogenannte befreiung des einzelnen aus den zwängen der arbeit und staatlicher bevormundung – allein diese denkfigur ist ideologisch und setzt moralisch-wertende implikatoren – sei eine soziale gesellschaft möglich: „Wir aber halten den Freiheitsgewinn für entscheidend, den ein BGE eröffnet.“ dieser gedanke, die menschen könnten sich mittels geld von dem arbeitszwang befreien, ist libertärer unsinn, denn der zwang ist ja nicht arbeiten zu wollen oder zu können, sondern im ungünstigsten fall zu schlecht dafür bezahlt zu werden: die arbeit selbst nimmt ja nicht ab in den fraglichen branchen. wenn nun also die grundschullehrerinnen erzieherinnen pflegerinnen busfahrerinnen stadtreiningerinnen etc von der arbeit befreien, bleibt diese arbeit, die wir inzwischen als systemrelevant bezeichnen, einfach nur liegen. befreiuung ist damit wohl eher als abhauen zu verstehen.

    zudem könnte, wenn man das grundeinkommen jetzt einführte, die kaufkraft gestützt werden, insbesondere in der jetzigen situation. dass insbesondere letzteres argument absurd ist, denn die kaufkraft kann in zeiten sozialer distanzierung, geschlossener geschäfte und home-office-leben überhaupt nicht eingebracht werden, etwa durch reisen, kino, restaurants, hotels etc., wird selbstredend übergangen.

    drittens: unabhängig von corona und seinen noch nicht absehbaren folgen sind die entwicklungen, die zur immer weiter auseinandergehenden arm-reich-teilung der gesellschaften geführt haben, stets politisch herbeigeführt worden, durch steuergesetze, die vermögen begünstigen und niedrige einkommen und familien benachteiligen, durch neoliberale wirtschaftsreformen zugunsten unsicherer arbeitsverhältnisse, durch all die maßnahmen, die umverteilung zugunsten der vermögenden begünstigen und fördern. ein aktiver schutz vor armut, sozialem stress, vor unvereinbarkeit arbeit-familie gelingt nicht mit einem grundeinkommen, sondern ausschließlich mit politischen entscheidungen. denn das deutsche sozialsystem ist ungerecht und muss politisch verändert werden, was tatsächlich die entlasten würde, die von ungleichheit und druck betroffen sind. ein grundeinkommen als hilfe gegen drohenden existenzverlust zb für freiberufler ist nur dann sinnvoll, wenn es tatsächlich denen hilft, die es brauchen (ein mario barth, til schweiger oder sebastian fitzek gehören ebenso zu den freiberuflern, sind aber keineswegs in ihrer existenz bedroht, im ggs etwa zu honorardozent*innen für sprachkurse, musicaltänzer oder freie theater und viele mehr). also sollten wir uns gerade jetzt und ganz besonders aus gründen der solidarität dafür entscheiden, eben kein grundeinkommen (und schon gar kein kaufkraft stützendes helikoptergeld) zu fordern, sondern tatsächlich denen helfen, die hilfe benötigen. instrumente dazu existieren oder könnten, wie hier beschrieben, kurzfristig eingerichtet und umgesetzt werden und gleichzeitig gerecht sein.

    zusammengefasst lässt sich formulieren: die vom grundeinkommen gewünschte und als ziel benannte stärkung des individuums gegenüber der gemeinschaft bedeutet tatsächlich einen rückzug des staates aus der verantwortung gegenüber seinen bürgern, der staat gibt lediglich geld – es ist, was im ökonomischen bereich seit 1980 als „neoliberalismus“ bekannt ist und der überhaupt die aktuellen probleme im arbeits- und sozialbereich geschaffen hat. das neoliberale denkmodell minimiert staatliche steuerungsmöglichkeiten („deregulierung“) und fokussiert sich auf monetäre belange. das grundeinkommen ist die neoliberalisierung des sozialen: durch geld wird alles besser.

    oder anders gesagt: wenn man denjenigen in der nachbarschaft, die zur risikogruppe zählen, hilfe etwa beim einkaufen anbietet, bringt man doch auch nicht allen anderen in der straße, die sich problemlos selbst versorgen können oder gerade erst den supermarkt von nudeln und klopapier leergekauft haben, auch noch brot eier und käse mit.

  • binooki endet – ein enormer verlust

    binooki endet – ein enormer verlust

    als wären die tage nicht ausreichend gefüllt mit schlechten nachrichten für die kunst- und kreativwirtschaft, hilferufen und petitionen zu unterstützungen für freischaffende bis hin zu forderungen nach zeitlich begrenztem grundeinkommen für diese – da hinein platzte die nachricht, dass der berliner binooki-verlag völlig unerwartet aufhört, binooki ist sehr plötzlich out of the game.

    wenn schon diese überraschende nachricht traurig macht, so ist der grund für die eilige insolvenz geradezu unfassbar: die beiden verlegerinnen selma wels und inci bürhaniye wurden von einem polizeibekannten mann vorsätzlich um ihren verlag und ihre gesamte arbeit betrogen, der verdacht einer rassistischen tat ist nicht von der hand zu weisen, da es offenbar ausschließlich um die zerstörung des verlages ging.

    Die Kurzfassung: Seit dem 21. Februar 2020 ist klar, dass das Ende des binooki-Verlags durch einen aktenkundigen und vorbestraften Betrüger herbeigeführt wurde. Seit dem Tag kann Selma nicht mehr als Verlegerin des binooki-Verlags tätig sein, den sie im Juni 2011 in Berlin gemeinsam mit ihrer Schwester Inci gründete und der sich in den vergangenen rund acht Jahren zu einer der bedeutendsten publizistischen Stimmen entwickelt hat. An diesem Datum hat Selma Strafanzeige wegen Betrugs nach §263 StGB stellen müssen – und zur Spurensicherung alle relevanten Unterlagen an die ermittelnden Behörden übergeben.

    aus dem letzten blogpost der verlegerinnen

    der verlag war 2011/12 mit Oğuz Atay gestartet, mit einer reihe von intelligenten und prämierten medialen kampagnen über facebook instagram twitter rasch bekannt geworden und publizierte bislang kaum oder gar nicht in deutscher sprache erschienenen autor*innen in außerordentlich ästhetisch gestalteten büchern, die von anfang an auch als ebook erschienen. für mich, der ich damals noch im entfernten sibirien saß, ein segen, da ich einerseits moderne türkische literatur im deutschen buchhandel bislang vermisst hatte – außer orhan pamuk gab es nichts und die türkische bibliothek des unionsverlages war nicht als ebook erhältlich (ich habe sie mir später band für band zugelegt), andererseits hatte ich via tablet und smartphone zugang zum deutschen buchmarkt, aber eben nur den elektronischen teil. binooki war von anfang an hochmodern eingestellt, der kontakt zum verlag ausgesprochen freundlich – und dann auch noch so tolle bücher wie die beiden behzat Çkrimis von emrah serbes oder die herrlich skurrilen romane von alper canıgüz.

    doch jetzt, nach acht jahren, das bösartig erzwungene ende, nach einer reihe von hoch angesehenen und ebenso hoch dotierten auszeichnungen für ihre außergewöhnliche verlegerische arbeit, darunter 2017 den KAIROS-Preis und 2019 ein Gütesiegel des Deutschen Verlagspreises. diese arbeit ist nun mutwillig zerstört worden.

    wie es weiter gehen wird, ist noch nicht bekannt. selma wels wird als verlegerin weiterarbeiten, sehr wahrscheinlich mit einem projekt unter dem namen be.diffrnt. und sonst wird es um insolvenz- und gerichtsverfahren gehen, die zeit- und kostenaufwändig sein werden.

    wer die schwestern unterstützen möchte, kann und sollte dies sowohl mit einer paypal-spende tun und vor allem mit dem kauf der binooki-bücher, die fast alle noch über die verlagsseite erhältlich sind. und natürlich nicht nur kaufen, sondern lesen und den enormen verlust erkennen, den das ende von binooki für die literatur bedeutet.

  • yishai sarid – limassol

    yishai sarid – limassol

    im vergangenen frühjahr war monster von yishai sarid eines der herausragenden bücher, die erzählung eines orientierungslosen israeli, der in yad vashem zum holocaustforscher, nachfolgend begehrter reiseleiter durch konzentrationslager und davon immer mehr überfordert wird. das monster erinnerung und das monster mensch in einem soghaften monolog. mit seinem zweiten roman limassol wurde der autor 2009 international bekannt. in der rückschau wirkt dieser text aber, ganz anders als zu seinem erscheinen, wie ein durchschnittlicher beitrag zum geheimdienstthriller-genre.

    es geht um genau das, was als klappentext auf dem rücktitel des buches steht:

    Ein israelischer Geheimdienstler soll mithilfe der attraktiven Schriftstellerin Daphna einen Terrorverdächtigen aufspüren. Doch je tiefer er ins Geschehen eintaucht, desto mehr gerät sein Weltbild ins Wanken. In Limassol auf Zypern muss er schließlich entscheiden: Kann er an seinem Auftrag festhalten, oder wechselt er die Seiten?

    selbstverständlich ist der suspense, bezogen auf die frage, sehr gering. und was noch wichtiger ist: diese handlungsebene ist für den roman selbst vergleichsweise bedeutungslos. es ist der teil des buches, der zum genre gehört und an dem man die genreregeln sehr gut studieren kann: spannung im text entsteht vor allem deshalb, da der geheimdienstler gegenüber der daphna und damit auch dem leser nicht mit offenen karten spielen kann. wüssten wir von anfang an seinen auftrag, wäre das genre hinfällig. daphna, um den plot dennoch zu erzählen, dient als kontaktmöglichkeit zu einem todkranken palästinenser, einem befreundeten autor, der nach israel gebracht werden soll zur behandlung, um so an dessen sohn zu kommen, der als einer der hauptakteure im antiisraelischen terrornetzwerk gilt. interessanterweise ist der abfall vom glauben des aus der perspektive des geheimdienstmitarbeiters erzählten romans nicht grundsätzlichen erkenntnissen geschuldet, sondern vorrangig der tatsache, dass die operation auf limassol wesentlich von den amerikanern bestimmt und vorbereitet wurde, was ihn in seiner selbstbestimmung kränkt.

    wesentlich interessanter als diese etwas vorhersehbare secret-service-story ist die figur des namenlosen erzählers: dieser ist so sehr mit seiner arbeit und berufsmäßigen paranoia verwachsen, dass er ein normal bürgerliches familienleben nicht mehr realisieren kann, überall mögliche bedrohungen vermutet und aus wut über einen nicht gefassten selbstmordattentäter dessen bruder brutal tötet. der erzähler ist ein sehr genretypischer, desillusionierter, überambitionierter, intelligent-naiver verlierer, ihm entgleitet sein leben ebenso wie seine arbeit. seine frau verlässt ihn recht früh im roman und nimmt den kleinen sohn, den er eigentlich liebt, aber sich viel zu selten zeit für ihn nimmt, mit nach amerika. für den totschlag im folterkeller der zentrale wird er vorübergehend suspendiert. der erzähler ist das signum einer unter ständiger bedrohung und angriffen lebender und westliche standards aufrecht erhaltender gesellschaft, eine erholungspause ist unter diesen bedingungen selbst im abgelegendsten wellness-hotel nicht möglich.

    konterkariert wird dieser abgehetzte und letztlich gescheiterte erzähler von der schriftstellerin daphna und ihrem ehemaligen liebhaber und autor hani. sie haben eine ihm unbegreifliche eleganz und würde bewahrt, was auf ihn äußerst attraktiv wirkt. dass sich daraus sogar eine liebesbeziehung mit daphna entwickelt, gehört zu den unglaubwürdigen film-noir-elementen des romans, denn daphna mag den erzähler zwar auch ein bisschen, aber hauptsächlich blickt sie spöttisch auf ihn herab. hani wiederum hat krebs im endstadium und verblüfft den erzähler vor allem damit, nicht seinem bild des zornigen, gewaltbereiten und antiisraelischen palästinensers zu entsprechen.

    „Kaum zu glauben, dass Sie uns nicht hassen“, sagte ich. […] „Warum sollte ich Sie hassen?“ Hani lachte und drehte mir von unten sein Gesicht zu. „Ich kann nicht hassen. Vielleicht bin ich kein richtiger Mann. Rachegelüste sind mir fremd. Unter euch gibt es etliche Missetäter, doch für einen Menschen wie Daphna würde ich mein Leben lassen.“

    dies ist im grunde alles, was in limassol über den sog. nahost-konflikt zu erfahren ist, und das ist auch absolut in ordnung, denn beileibe nicht jedes buch von israelischen autor*innen muss nach seinem beitrag zu israel-palästina abgeklopft werden. zumal sarid seinen thriller nur strukturell angelegt hat, tatsächlich sich viel mehr für das moralische dilemma seiner hauptfigur interessiert, einen jungen araber so zu misshandeln, dass dieser stirbt, gleichzeitig eine persönliche nähe zu hani und daphna nur vorzuspielen bzw aufgrund eben dieser nähe den sohn hanis zu retten. dieses motiv dominiert letztlich den roman, der dadurch auch das genre thriller verlässt: den sohn retten.

    bzw genauer: den fremden sohn retten. den eigenen sohn konnte der erzähler schließlich nicht bei sich halten. also rettet er letztlich hanis sohn vor der erschießung, und – wesentlich breiter erzählt – den drogenabhängigen gemeinsamen sohn von daphna und hani, der fern von der mutter in einer heruntergekommenen hütte am strand wohnt und den daphna wieder bei sich haben möchte. diese eigentümliche rettungsaktionen sind allerdings im roman sehr schwach motiviert und daher wenig plausibel, gen ende gleitet der roman in ein entzugsszenario in daphnas wohnung ab, das einem nur noch behaupteten familienidyll gefährlich nahe kommt. das motiv der geretteten fremden söhne soll vermutlich im privaten das kompensieren, was ihm beruflich für ganz israel nicht gelungen ist und scheint schuldhaft zum verlust der eigenen familie zu stehen – allerdings sind die motive zu wenig ausgearbeitet und die pathetische familienmetapher drängt sich etwas schief in den text. der roman verliert an spannung und tempo in dem moment, in dem daphnas sohn in die handlung aufgenommen wird und der erzähler versucht, seine verloren gegangene vaterrolle auszufüllen.

    so entstehen zwei gegensätzliche romane, die des geheimdienstlers im klassischen genre-outfit, und die des gescheiterten vaters, der eine neue familie findet, ein bürgerlicher stoff, der sich seltsamerweise mit dem agentenkrimi nicht besonders gut versteht und der sich besonders in der zweiten hälfte als ein eher farbloser thriller liest, von dem heute, 10 jahre nach seinem erscheinen, nicht mehr allzu viele spuren im gedächtnis bleiben.

    yishai sarid: limassol. aus dem hebräischen von helene seidler. kein und aber, 206 s, 16,90€.

  • tanja schwarz – weltroman

    tanja schwarz – weltroman

    ein etwas größenwahnsinniges projekt sei es, sagte tanja schwarz über ihren weltroman, der inzwischen als gedrucktes buch vorliegt, ein roman über und für weltbürger oder solche, die sich dafür halten, dass sie überall auf der welt leben könnten, früher als skurrile geschäftsleute, heute als digitale nomaden, influenzer oder sonstige eroberer – dabei ist dies eine der kolonialen illusionen, die schwarz aufbricht, dass nämlich der strukturierte europäische mensch einen kohärenten, universal anwendbaren weltbegriff besäße.

    tatsächlich beschreibt der roman das immer wiederkehrende scheitern von kohärenz, von kommunikation, von begrifflichkeit und sprache, also auch von dem, was man gemeinhin globalisierung nennt, eine irgendwie geartete einheitlichkeit von regeln, strukturen, bedingungen, begreifbaren handlungsweisen, geordnet nach eurozentristischem blick. doch im weltroman wird eine weltumspannende geschichte erzählt, die in der leeren brandenburgischen provinz bei frank beginnt, eigentümlichste wege über china und portugal und schiffspassagen nach afrika und verschiedene erzähler/figuren ruben, adile ngolongo, meimei, nimmt und schließlich mit gordon und agnes in einer religiös aufgeheizten menschenmasse in lagos zu ihrem ende findet, fern jeder reflektierten distanz

    Der Heilige Geist (letztlich sind die Bezeichnungen gleichgültig) fährt wie eine Windbö, begleitet von tiefem Brausen, in oder durch das Kraftfeld, das die vielen Menschen mit vereinter Glaubensspannung aufgebaut haben. […] GOTT, lass mich BITTE dabei sein!

    dies könnte die durchaus sarkastisch-verzweifelte pointe des treibens in und über die welt sein: ich begreife es nicht, doch ich will, ganz olympischer gedanke, anwesend sein, wenigstens ich bin formuliert haben. in einer vom global outgesourceten (und aktuell viral schockgebremsten) handel, von zunehmenden und sich gegenseitig verstärkenden kriegen und konflikten, von flucht, vertreibungen und vom klimawandel bedingten naturkatastrophen und sich immer redigider, menschenfeindlicher gebärdender wohlstandsfestungen geprägten gegenwart hatte schwarz‘ bereits 2012 erschienener weltroman das gespür zur globalen überforderung formuliert. wo weltumspannende und weltformulierende stories regelmäßig durch die kinosäle resp. streamingdienste gepeitscht werden – jeder james-bond-artige actionfilm bedient sich selbstverständlich der weltkulissen so wie es jeder comicfilm mit einer neuen weltbedrohung im universum zu tun hat und jede fantasyserie seine je eigene uralte welt begründet und ausdekliniert – so nimmt man doch von der real existierenden welt in seinen unbegreiflichen ausprägungen kaum notiz.

    tanja schwarz allerdings hat alle im roman beschriebenen orte bereist. auch, um möglichst weit von sich selbst wegzukommen. um sich so weit wie es geht von der bauchnabelschau des umsichselbstkreisens ohne weltwahrnehmung zu entfernen. entstanden ist ein atemloser hochmoderner komplexer abenteuerroman, in dem weder an der welt touristisch vorbeigesegelt noch eine eigene welt entworfen wird, im weltroman steht die wahrnehmung der globalen gegenwart im zentrum, figuren, die sich in gefahr begeben um mehr über sich und ihre weltweite gegenwart herauszufinden, ein roman über die wahrnehmung einer übervollen, kaum mehr zu fassenden, kaum mehr zu begreifenden welt, die nicht auf das urteil und die reglements der europäer wartet. ganz besonders nicht heute, 8 jahre nach erstpublikation, in der sich die aggressive hilflosigkeit europas immer sichtbarer zeigt, sich selbst delegitimierend, indem es auf flüchtende, auf schutzsuchende schießt.

    ein womöglich größenwahnsinniges buch, doch mit einem sehr genauen, emphatischen blick und in einer beeindruckend klaren wie poetischen sprache, der sehr gelungene selbstversuch, wie es frank nennt, sein eigenes bewusstsein (und auch das des romans selbst) auszumessen

    Einer Testreihe unterzogen werden am Beispiel seiner Person, unter (zwangsläufiger) Berücksichtigung seiner Herkunft und Geschichte, biografischen Situation und so weiter: 1. die Konsistenz bzw. Fragilität des Ich, 2. die Wahrnehmung oder das Auffassungsvermögen bzw. deren Grenzen, immer gedacht im Kontrast zu seiner gewöhnlichen Umgebung, Berlin. Möglichkeit, all das Gleichzeitige zu erfassen, wenn sein Werkzeug doch nur begrenzt tauglich und störanfällig ist.

    der weltroman versucht etwas gänzlich ungewöhnliches in der deutschen gegenwartliteratur: nicht darstellend die gegenwart zu erklären und mit deutungen zu überformen, sondern vielmehr anhand der figuren und ihrer weltsichten einen oder mehrere begriffe von welt zu suchen und sich so in ihr zu verorten: dieses buch ist zur welt offen.

    tanja schwarz: weltroman. textem hamburg 2019 (forumsbuch 2). 418 s., 18€. hier erhältlich.

  • óscar martínez & juan josé martínez – man nannte ihn el niño de hollywood

    óscar martínez & juan josé martínez – man nannte ihn el niño de hollywood

    in der fiktion im roman im film im traum ist alles auszuhalten, jede noch so hässliche verwerfliche entsetzliche handlung zu der menschen unter bestimmten umständen fähig sind, das fiktionale schafft distanz, trotz aller emotionaler nähe: das fiktive ist erträglich. die umfangreiche reportage von óscar und juan josé martínez bildet das leben und sterben eines killers der mara salvatrucha wie es im untertitel heißt und damit die kaum zu ertragende realität in einem der tödlichsten staaten der welt ab. eine beinah hoffnungslose gegenwart. ein fassungsloser bericht. ein beeindruckendes buch.

    es ist vordergründig das portrait des jungen miguel ángel tobar, der schon als kind zu einem äußerst brutalen killer einer der gewalttätigsten gangs der welt gehörte, über 50 menschen tötete, aus der gang ausstieg und als kronzeuge gegen sie aussagte und half, einige bandenchefs zu verurteilen – und schließlich selbst als verräter ermordet wurde. es ist das tatsächliche portrait eines seit weit über einem jahrhundert von ausbeutung, extremer armut, äußerster gewalt, menschenverachtung, korruption, massakern, bürgerkriegen, zerstörungen, traumata und der seuche ms-13 gezeichneten landes. el niño, wie sich miguel ángel in seiner späten bandenmitgliedschaft nannte, ist ein mörderisches produkt all dieser ihm selbst nicht bewussten zusammenhänge, wie die autoren bereits im vorwort anführen:

    Letzten Endes handelt dieses Buch nicht nur vom Leben eines Killers der größten Verbrecherbande der Welt, der einzigen El Salvadors, die auf der schwarzen Liste des Finanzministeriums der Vereinigten Staaten steht und ständig in den Hetzreden von Donald Trump erwähnt wird, der Bande, die unter dem Namen Mara Salvatrucha 13 unzählige Gangs vereint und die in jedem Departement von El Salvador präsent ist. Im Grunde ist dieses Buch unsere Art, den Hinterhof der Vereinigten Staaten zu verstehen und zu erklären. „Shithole“, nannte es Trump, als handele es sich um etwas, das mit dem, was Regierende wie er aufzubauen und zu zerstören geholfen haben, nichts zu tun hat.

    Dies ist die Geschichte von etwas Großem. Dies ist der Bericht über etwas Monströses, Länderübergreifendes. Dieses Buch erzählt die Geschichte von Gewalt, eine Geschichte, die andauert, die weiter lebendig ist, die pulsiert und sich ausbreitet, die rekrutiert und aus- und einwandert. Eine unerhörte, wenig verstandene Geschichte, erzählt aus der Perspektive eines Niemands, eines Vergessenen, eines Mannes, der war, wie viele andere sind. Das mikroskopisch Kleine, um das Globale zu verstehen.

    welche dimension miguel ángels leben tatsächlich besitzt, wird bereits bei seinem allerersten mordversuch 1994 deutlich, im alter von 11 jahren. er hält sich zwischen kaffeesträuchern versteckt und versucht, einen der vorarbeiter der kaffeeplantage mit steinen zu erschlagen. der mann hatte sich wie häufig mit miguel ángels vater, einem der tagelöhnenden plantagenarbeiter, einem ehemaligen miquero, betrunken. miqueros sind äffchen, die in bäumen, die den kaffesträuchern schatten spenden, herumklettern müssen, um diese zu beschneiden, ungesichert und jederzeit in gefahr abzustürzen – miguel ángels vater stürzte ab und blieb gelähmt, mit seiner frau und drei kindern zogen sie von einer zur anderen plantage, bis sie sich auf einer niederlassen konnten, im bezirk el paraíso: der vorarbeiter erlaubte es und erpresste sich das recht, die 15jährige tochter des miquero nach belieben zu vergewaltigen. monatelang, allabendlich, betranken sie sich, nachher. miguel ángel ertrug das nicht mehr und wollte den mann töten.

    die widerwärtige ungerechtigkeit und rücksichtslose ausbeutung auf den kaffeeplantagen ist ein zentrales element in el salvador. in der zweiten hälfte des 19. jahrhunderts bricht nach der entdeckung einer billigen chemischen produktion von indigo der handel mit indigo-pflanzen komplett zusammen, von dem das land bis dahin abhängig ist. also wechseln die plantagenbesitzer zur sehr empfindlichen kaffeepflanze und nutzen dafür vorrangig das land der indios – und diese werden Ende des 19. jahrhunderts per gesetz zu billigen arbeitskräften. so blüht der kaffeehandel im neuen jahrhundert für die grundbesitzer und die rechtelosen indios und plantagenarbeiter schuften – bis sie sich anfang der 1930er jahre organisiert wehren. was 1932 zu einem gezielten genozid an den indios führte – el matanza gilt als die blutigste epoche des landes und als ende der existenz der indigenen bevölkerung. es folgte eine lange militärdiktatur, immer wieder gefälschte wahlen, der fußballkrieg mit honduras, zunehmende instabilität durch kommunistische guerillagruppen, bis es 1980 in einen offenen bürgerkrieg mündete, der bis 1992 andauerte, als „testfeld des kalten krieges“ militärisch massiv von den usa unterstützt wurde, über 75.000 tote zur folge hatte – und mehr als eine million geflüchtete, vorrangig in die usa, vorrangig nach los angeles. wo die ankommenden ein klima der bandenkriminalität vorfinden und früh eigene banden gründen, unter grotesk lächerlichen umständen. doch die banden wachsen und schließen sich gegen andere zusammen, die mara salvatrucha entsteht. nach dem ende des bürgerkriegs versuchten die usa unter dem namen null-toleranz-strategie die banden loszuwerden und schoben hunderttausende salvadorianer ab – die banden gründeten sich in el salvador neu und erweiterten sich mit den kindern der plantagenarbeiter, mit den ärmsten der armen. das sinngebende versprechen der gangs: wertschätzung. ansehen. respekt. gemeinschaft. familie. und radikale rivalität zu anderen gangs. so stößt auch miguel ángel dazu, mit 12 jahren, nachdem er bereits gemordet hat, als mitglied einer kleinstbande tötete er mit einer machete einen anderen jungen, der ihn ausgelacht hatte.

    der mehrfach ausgezeichnete investigativ-journalist óscar martínez vom online-magazin elfaro.net und der soziologe juan josé martínez haben el niño mehrfach getroffen bei ihrer recherche zur mara salvatrucha 13, als er sich unter dem erbärmlich ausgestatteten zeugenschutzprogramms im hinterhof einer polizeistation im letzten winkel des landes aufhielt, monatlich versorgt mit einem dürftigen verpflegungskorb, mit einer selbstgebauten handgranate als versicherung, seinen tod bei angriff selbst wählen zu können, und mit seiner „frau“, einem minderjährigen mädchen seiner erweiterten familie, die zum zeitpunkt seines todes 18 jahre alt sein wird, mit der er zwei kinder hat, das jüngere wenige monate alt. die beiden autoren protokollieren diese treffen, die politisch-historischen hintergründe im land und der ms-13, der bestie, wie die bande auch genannt wird, und schildern eindringlich die umstände der aufgrund el niños aussagen erfolgter verhaftungen, die zustände in reihen der justiz und den haftanstalten selbst. und immer wieder auch die gewalt in ihrem ganzen fassungslosen entsetzen. el salvador war 2015 das gewalttätigste land der welt, mit einer mordrate von 105 pro 100.000 einwohner – diese katastrophalen dimensionen bedeuteten für eine stadt wie hamburg im jahr rund 1.800 morde, für ganz deutschland über 80.000 tötungen. im jahr 2018 war die mordrate in el savador auf die hälfte gesunken. die usa sprechen bei einer rate von 10 / 100.000 von einer epidemie.

    die autoren haben ein buch verfasst, das einen kaum mehr loslässt. es ist herausragend geschrieben, sehr breit und detailliert in der darstellung, immer wieder reflektieren die autoren ihre rolle, ihre arbeitsweise, ihren stil, um die distanz zu wahren, denn bei aller trostlosigkeit und erbärmlichkeit – sie sprechen mit einem der meistgejagten und brutalsten killer des landes, für den sie natürlich auch verständnis haben, in der situation, in der er sich befindet: de facto todgeweiht und dennoch trotzig sich an die karge dürftige gegenwart im bretterverhau klammernd, die im buch gezeigten fotos belegen auch das.

    die reportage man nannte ihn el niño de hollywood beinhaltet darüberhinaus die wohl grausamsten momente die ich bisher gelesen habe. es sind beschreibungen fern jeder effekthascherei, dabei doch schonungslose und beinah ungefilterte beschreibungen von einigen äußerst verstörenden morden, die schlachtungen gleichkommen – von solcherart entsetzlicher grausamkeit, die weit jenseits uns bekannter darstellungen von bandenkriminalität liegen wie etwa in city of god dargestellt, sind die an sich schon unbegreiflichen statistiken gefüllt.

    man nannte ihn el niño de hollywood ist ein buch, für das man starke nerven braucht. es hat einen lakonischen klang, wenn die autoren im vorwort schreiben Wir wollen Fenster aufstoßen. Allerdings ist das, was auf der anderen Seite zu sehen ist, nicht angenehm. man kann das auch als triggerwarnung lesen. es ist das enorme verdienst der beiden autoren, diese nicht angenehme gegenwart, mit der wir nicht allein über kaffeekonsum, auch politisch tagtäglich verbunden sind, ohne sie zu erkennen, derart nah heranzurücken an oder in unsere gegenwart. denn das, was dort steht, geschieht jetzt, in diesem moment.

    es ist eben keine fiktion, das geschilderte lässt sehr wenig möglichkeiten für distanz, auch wenn miguel ángel tobar nicht mehr lebt, so lebt die mara salvatrucha 13 und das land el salvador wird auf absehbare zeit zu keiner ruhe finden, überfordert in einem von ähnlicher kriminalität geplagten mittelamerika, hilflos, degradiert, vergessen, allein gelassen und ohne chance, langfristige lösungen für die viel zu vielen probleme zu entwickeln.

    óscar martínez / juan josé martínez: man nannte ihn el niño de hollywood. leben und sterben eines killers der mara salvatrucha. übersetzt von hans-joachim hartstein. antje kunstmann, münchen 2019. 320 s. 25€.

    aktuell ist das buch in der bundeszentrale für politische bildung als band 10534 der schriftenreihe für 4,50€ erhältlich.

  • der erfolg

    der erfolg

    es lagen gerade einmal 9 tage zwischen dem auch im thüringer landtag begangenen gedenktag der opfer des nationalsozialismus und der wahl eines bis dahin bedeutungslosen fdp-karrieristen mithilfe von faschisten zum ministerpräsidenten thüringens. die reaktionen auf diesen politischen zivilisationsbruch bezeugen die fassungslosigkeit in weiten teilen der gesellschaft über diesen unverzeihlichen vorgang – und ebenso die erzreaktionäre freude dass alles besser sei als eine linke regierung. bodo ramelow brachte den zusammenhang mit einem inzwischen gelöschten tweet auf den punkt: mit zwei fotos und einem zitat adolf hitlers, dessen nsdap durch eine ganz ähnliche wahl zur entscheidenden politischen kraft aufstieg, vor 90 jahren, in thüringen. ( die erwartbare empörung über diesen hindenburg-vergleich mit kemmerich hielt sich bei einem ähnlichen tweet des europäischen liberalen guy verhofstadt, der seine abscheu der kemmerichwahl gegenüber ausdrückte, naturgemäß in grenzen. )

    der tabubruch dieser wahl – der liberal-konservative pakt mit völkisch-nationalen faschisten – ist offenkundig lange vorbereitet worden, sowohl in thüringen selbst, als auch deutlich früher. karl-eckhard hahn, u.a. leiter des wissenschaftlichen dienstes der cdu-fraktion im thüringer landtag, fantasierte im the european wenige tage vor der wahl über genau jenes szenario

    Doch was ist, wenn eine Regierung mit Stimmen von AfD-Abgeordneten ins Amt kommt? Die Frage ist durch die Ankündigung der FDP Thüringen, über einen eigenen Kandidaten für die Wahl des Thüringer Ministerpräsidenten im Thüringer Landtag nachzudenken, wieder virulent geworden. […] Ein solcher Ministerpräsident hätte keine geringere demokratische Legitimation als ein Ministerpräsident Bodo Ramelow auch.

    hahn steht weit im rechten lager der cdu, die benannte position ist konsens im rechtsnationalen verein werteunion für dessen vorstandsvorsitzenden alexander mitsch alles besser ist als ein linker ministerpräsident – also auch eine regierung, die von einem nazi gewählt wurde, wie der thüringer cdu-vorsitzende mohring noch vor der landtagswahl bernd (!) höcke betitelte. noch einmal: für teile der konservativen partei ist die strategische zusammenarbeit mit nazis besser als eine linksbürgerliche regierung : dies ist der eigentliche zivilisationsbruch – die wahl kemmerichs war kein ergebnis politischer naivität, wie es manche fdp-politiker darstellen möchten, sondern ganz offenkundig vorbereitet und bewusst durchgeführt. und nicht nur in thüringen : die gedankenspiele einer zusammenarbeit mit der afd sind im vergangenen sommer vom cdu-vorsitzenden in sachsen-anhalt ulrich thomas ganz offen geäußert worden – mit folgenden worten:

    Es muss wieder gelingen, das Nationale mit dem Sozialen zu versöhnen.

    da kann die cdu noch so oft beschlüsse fassen – das gift des erfolges ist schon längst injiziert

    erfolg : versöhnung von nationalem und sozialem, nation und bürgertum, staat und kapital. alles ist besser als linke politik. auch die vogelschiss-relativierung der deutschen verbrechen 1933-45 (gauland) und denkmal-der-schande-verunglimpfung des gedenkens an die opfer der systematischen ermordung der europäischen juden (höcke). das alles ist besser als linke bzw als links imaginierte politik. dies ist politische linie der werteunion, mag sich die cdu noch so sehr von ihr abgrenzen wollen, es ist auch politische linie darüberhinaus, hahn und thomas gehören der werteunion nicht an.

    die wahl kemmerichs zum ministerpräsident wird also nicht die letzte wahl einer regierung mit afd-beteiligung gewesen sein, sofern cdu und fdp und konservative medien ihr verhältnis zur linkspartei nicht versachlichen. was nicht geschehen wird – die angst vor dem gespenst des kommunismus ist nach wie vor derart übermächtig, dass man lieber den erfolg mit faschisten und nazis sucht als sich zu therapieren.

    wie erfolgreich eine konservativ-nationalistische symbiose gegen das gespenst des kommunismus sein kann, hat 1930 lion feuchtwanger in seinem vermutlich besten zeitgeschichtlichen roman erfolg beschrieben. dieser spielt in münchen und beschreibt in seinem sittengemälde des landes bayern u.a. den aufhaltsamen aufstieg der wahrhaft deutschen von rupert kutzner : der roman […]

    […] betont besonders, wie die breite Bevölkerung Kutzner unterstützt, wie aber auch die konservativen Kräfte in Bayern die Kutzner-Bewegung benutzen, um ihre eigenen Interessen durchzusetzen, womit sie aber erst Kutzners Aufstieg ermöglichen.

    genau dies ist die aktuelle situation in thüringen – das willfährige paktieren mit den höcke-faschisten aus egoistischem machtinteresse, woraus der aufstieg der afd zur entscheidenden politischen kraft wesentlich befördert wird, eine partei, die sich seit ihrer gründung und fortschreitenden radikalisierung nie glaubhaft von militanten nazis distanzierte, völkisches und rassistisches und antisemitisches denken förderte, ebenso aggression gegen kritiker*innen der eigenen positionen, und verachtung gegenüber der liberalen demokratie. diese förderung des aufstiegs einer rassistischen völkisch-nationalistischen antidemokratischen partei durch die kemmerich-wahl ist offenkundig noch lange in der cdu nicht verstanden worden.

    das kommunistische gespenst treibt seit seiner ersten sichtung wirtschaftsliberale und konservative politiker zu höchstleistungen auf dem antidemokratischen sektor. die wesentlichen grundzüge amerikanischer politik sind von der abwehr des kommunistischen gespenstes geprägt : die militärischen hilfen nationalistischer und faschistischer regierungen in mittel- und südamerika gegen die kommunistischen guerilleros sind dafür wohl der grausamste beleg.

    gespenster gehören zu paranormalen phänomenen und damit zu denen der einbildung und imaginierung ergo sinnestäuschung. dennoch führen imaginierungen, insbesondere solche aus angst, zu sehr realen handlungen. ein geradezu perfektes imago eines kommunistischen gespenstes hat – sehr zu vermuten wohl unfreiwillig – christopher nolan in the dark knight rises mit der figur bane erschaffen. er tritt als im tatsächlichen untergrund organisierender in der masse unsichtbarer guerilla-kämpfer maoistischer prägung in erscheinung, okkupiert mit der börse das heiligtum des kapitals, bringt mit einer atombombe ( natürlich von einem russischen wissenschaftler gebaut ! ) die gotham-welt in seine gewalt, organisiert schauprozesse stalinscher art und ist dabei selbst nur wegbereiter einer besseren zukünftigen gesellschaft. bane ist das imago einer westlichen kapitalistischen bürgergesellschaft, das fleischgewordene gespenst der kommunistischen partei, wie es seit 150 jahren durch die westlichen kapitalistischen hirne spukt und diese – angstgetrieben – zu grotesken skrupellosen antisozialen handlungen treibt.

    wie wirkmächtig irreale angstbilder sind, ist anhand der kemmerich-wahl erneut zu beobachten gewesen. armselige, dummdreiste, skrupellose politiker lassen sich lieber von rassisten menschenverächtern antidemokraten wählen als anzuerkennen, dass eine linke regierung tatsächlich überhaupt kein problem darstellt.