wir müssen über übersetzungen reden. war das vorige buch eine herausragende arbeit der großartigen terézia mora, so ist die vorliegende übersetzung des etwas weniger bekannten henning ahrens mindestens diskutabel, stellt vor allem in sachen lektoratsarbeit für den verlag hanser kein gutes zeugnis aus. der eigentliche roman von colson whitehead verblasst dahinter weitgehend.
die geschichte des dreiteiligen romans die nickel boys ist rasch erzählt. 1) der intelligente aber naive elwood curtis lebt anfang der 1960er jahre mit seiner großmutter in einer kleinen amerikanischen südstaatengemeinde und hilft im örtlichen lebensmittelladen. als er unerwartet für ein college vorgeschlagen wird und die zusage erhält, könnte ihm eine glänzende zukunft eröffnet werden, so wie es rev. dr. king in seinen reden andeutet, doch aufgrund eines fatalen zufalls landet er 2) im nickel, einer verwahranstalt für kriminelle und sozial auffällige jugendliche. dort wird er misshandelt und gedemütigt in einem system, das vollständig jenseits aller gesellschaftlicher aufmerksamkeit steht. bei einem fluchtversuch mit seinem besten freund turner wird elwood erschossen, doch 3) turner nimmt ihn zu ehren seine identität an und lebt viele jahre später in new york ein recht solides leben. eines tages offenbart er sich seiner lebensgefährtin und nachforschungen zu den verbrechen im nickel beginnen.
der roman steht gänzlich im schatten des viel beachteten und ausgezeichneten, von nikolaus stingl übersetzten railroad underground, eine rasante fahrt durch die untiefen amerikanischer unterdrückung von black americans. die nickel boys zeichnen ein anderes bild, das wesentlich von den hoffnungen zur teilhabe an der amerikanischen gesellschaft und den brutalen enttäuschungen bestimmt wird. die geschichte von elwood beginnt damit, dass er eine schallplatte mit reden martin luther kings immer wieder hört und diese als ermutigung begreift. elwoods tod und das weitertragen seines andenkens durch turner spiegelt auf eigene weise den mord an dr. king und seiner enormen nachwirkung: turner/elwood hat 20 jahre nach der flucht in new york fuß gefasst und ein eigenes business eröffnet, das symbol schlechthin für die verwirklichung des american dream. es ist colson whitehead hoch anzurechnen, dass er diese geschichte, insbesondere auch die kapitel in der anstalt, ohne moral larmoyanz und pathos schildert, sondern sehr nah an seiner hauptfigur elwood bleibt und damit dessen erleben schildert, ohne es wertend auszustellen. es geht weniger um den aspekt der unterdrückung der schwarzen bevölkerung, sondern um den von schweren rückschlägen geprägten, schmerzvollen aber letztlich in teilen erfolgreichen weg zur selbstbestimmung in freiheit. in teilen, da new york und dessen einzigartige atmosphäre keineswegs die nach wie vor rassistisch geprägte usa repräsentiert.
was nun die übersetzung ahrens‘ problematisch macht, ist dass es ihm nicht gelingt, diesen konflikt und bezug zu rev. dr. kings reden sprachlich sichtbar zu machen, ja vielmehr verstellen falsche begriffe und fragwürdige übersetzungen den roman. die spezielle sprachlichkeit des black american english im text whiteheads schafft ahrens zu keinem zeitpunkt zu transportieren. die deutsche fassung klingt meist beamtet und in vielen formulierungen ungelenk im vergleich zum oft lakonischen original: That was Elwood – as good as anyone. spreizt sich zu Das war Elwood – genauso viel wert wie jeder andere. mag das unbedeutend erscheinen und eine für übersetzungen typische oder kaum zu vermeidende unschärfe, so wird es durchaus ärgerlich im gebrauch von begriffen, die im deutschen einen sehr konkreten kontext haben, der im roman absolut nichts zu suchen hat. so heißt es in der deutschen ausgabe auf s.78:
Er hatte in einer Kleinstadt zum Tanken gehalten. In einer Stadt der Weißen, einer Stadt der Wutbürger.
das ist offenkundiger unsinn. der wutbürger existiert als begriff erst seit ca. 2010 und hat keinerlei bezug zur passage des romans, der in den amerikanischen 1960er jahren spielt. die originalpassage hält daher auch vollkommen andere begriffe parat, die einen gänzlich anderen fokus haben:
He’d stopped for gas in one of those little towns. Cracker town, crack-your-head-town.
cracker ist insbesondere im black american english ein abwertender begriff für weiße, für selbstverständlich ihre weißen rassistischen privilegien auslebenden und verteidigenden weißen, vergleichbar mit dem heutigen von migrantischen communities geprägten, pejorativ-amüsierten almans für deutsche, die ihr eigenes verhalten normativ setzen und abweichungen davon im sinne einer „leitkultur“ lautstark disqualifizieren. auch wenn dieser kontext sich nicht ohne weiteres in einem wort überträgt, so könnte man die mit cracker town formulierte haltung zb mit wichser-stadt deutlich besser als im rein formalen stadt der weißen transportieren. und eine crack-your-head-town ist auch nicht nur eine stadt mit „wutbürgern“, was immer man sich darunter vorstellen mag, sondern gemeint ist die klare bedrohung, als schwarzer dort totgeprügelt zu werden: die übersetzung ist hier verharmlosend und verfälschend.
ähnlich schwere irrtümer im sprachgebrauch unterlaufen ahrens / hanser im bezug auf die amerikanische rassistische unterdrückung, die im roman als selbstverständliche nicht änderbare bedingung für die schwarzen beschrieben wird: wenn im original von racial matters gesprochen wird und im deutschen die rassenfrage gestellt wird, befinden wir uns klar auf dem völlig falschen gebiet der rassentheorie – allerdings ist im american english der begriff race nicht in diesem biologistisch-diskriminierenden konzept zu sehen. race ist in allererster bedeutung eine offene beschreibungskategorie für volkszählungen, vergleichbar mit ethnie oder volksgruppe, also etwas sehr unkonkretem, das der selbstbeschreibung dient und das nicht auf scheinwissenschaftlichen begründungen beruht. ein satz wie The boy was intelligent and hardworking and a credit to his race. ist also komplett unzutreffend mit Der Junge war intelligent und fleißig und eine Zierde für seine Rasse. übertragen. es ist nicht begreiflich, warum der bereits 1950 deutlich zurückgewiesene historisch veraltete rasse-begriff in ahrens‘ übertragung kommentarlos neben heutigen ausdrücken steht, was die sprachliche einordnung des textes und des erzählers – der in der rückschau die ereignisse schildert – ziemlich durcheinanderbringt.
vollends problematisch wird die übersetzung im selbstverständlichen gebrauch des n-wortes – wobei im original-text stets der begriff Negro verwendet wird: Elwood asked his grandmother when Negroes were going to start staying at the Richmond […] was bei ahrens so klingt: Elwood wollte von seiner Großmutter wissen, wann die ersten N* im Richmond wohnen würden [anm: unkenntlichmachung von a&v] wobei mit staying eher übernachten als wohnen gemeint ist und vor allem: das wort Negro muss aus figurensicht elwoods gelesen werden und bekommt im zusammenhang mit der erwähnten schallplatte von dr. king einen klaren kontext: king hat immer wieder in seinen reden den begriff Negro verwendet als selbstermächtigung und selbstvergewisserung der black americans, auch als sozialen begriff – damit ist es vom deutschen n-wort, das nie als „schwarze“ selbstbezeichnung verwendet wurde, insbesondere im kontext des romans deutlich unterschieden und es wäre dem originaltext whiteheads angemessen gewesen, den englischen begriff zu übernehmen, zumal im roman selbst längere passagen aus reden von dr. king eingefügt und gelegentlich englische formulierungen kursiv wiedergegeben sind, allerdings völlig unklar nach welchen kriterien. ahrens und hanser haben sich aus welchen gründen auch immer entschieden, dem text damit nicht nur unschärfen hinzuzufügen, etwa a brown face mit eine farbige Person etc zu übersetzen, sondern insgesamt rücksichtslos vorzugehen, verwirrend bis verfälschend in den text einzugreifen, die komplexität und bedeutung des themas rassismus nicht erfasst zu haben.
daher plädiere ich dringend dafür, den roman in neuer übersetzung zu veröffentlichen, die sich der rassistischen gewalt in der sprache ebenso bewusst ist wie der autor.
es mag zur entlastung ahrens‘ gelten, dass übersetzungen insbesondere aus dem englischen heutzutage unter großem zeitdruck entstehen müssen, das arbeitspensum sollte bei mindestens 4 seiten pro tag liegen, was für literarisch anspruchsvolle texte eine große herausforderung für übersetzer*innen bedeutet – und eine quelle für fehler. dass derart offensichtliche fehler jedoch im buch verblieben sind, deutet auf ein unzureichendes lektorat seitens des verlages hin. zudem ist die wahl ahrens‘ als übersetzer für the nickel boys nur nachzuvollziehen, wenn man den bekanntheitsgrad des übersetzers vor qualität setzt. ahrens besitzt viel expertise mit übersetzungen aus dem englischen, allerdings mehrheitlich von irischen, englischen und weißen amerikanischen autor*innen wie hugo hamilton, richard powers oder gar arthur conan doyle. von colson whitehead hatte er 2000 lediglich dessen erstling the intuitionist / die fahrstuhlinspektorin übertragen, zusätzliche erfahrungen mit schwarzen englischsprachigen autor*innen hat er hingegen nicht. insofern verwundert der wenig sensible umgang mit sprachlichen besonderheiten der nickel boys nur insofern, als dass der verlag offenbar selbst wenig sorgfalt an die durchsicht der übertragung gelegt hat, um das buch möglichst rasch auf den markt zu bringen. tatsächlich ist die deutsche ausgabe des guten, mit dem pulitzer-preis ausgezeichneten romans nach wahren motiven eine irritierende, enttäuschende leseerfahrung.
colson whitehead: die nickel boys. aus dem englischen von henning ahrens. hanser 2019. 224s, 23€.
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