die zeit geht in enormem tempo ihrer täglich aufs neue unfassbaren ereignisse und katastrophen aus so ziemlich allen ecken dieses höchst kantigen planeten #moria #belarus #uiguren #jemen #sanfrancisco #etcetcetc die möglichkeiten zum innehalten nach dem grauenerfüllten blick auf das entsetzliche sind rar geworden scheints doch manchmal gelingts und es findet sich der weg in freie räume – so etwa in den außergewöhnlichen filmen des apichatpong weerasethakul : uncle boonmee ist ein film für den das kino einst erfunden wurde.
kino in thailand ist so ziemlich die maximal vorstellbare antithese zu den überwältigungsfilmen hollywoods. ein land mit einer hochgradig komplexen geschichte, konstitutionelle monarchie, militärregierungen und antikommunistischen massakern aus furcht vor vietnamesischen, kambodschanischen oder laotischen (kommunistischen revolutions-)verhältnissen – in apichatpong weerasethakuls arbeiten finden sich zahlreiche echos auf die verwundungen der thailändischen gesellschaft in den jahrzehnten nach dem 2. weltkrieg, sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben ist dafür der eindrücklichste, faszinierendste beleg.
uncle boonmee besitzt eine kleine farm für tamarinde und honig, auf der unter anderem geflüchtete aus den benachbarten laos arbeiten. er selbst ist schwer krank und ahnt, dass ihm nicht mehr viel zeit bleibt, also hat er sich zum sterben zurückgezogen, umgeben von seiner schwester jen und ihrem sohn tong, außerdem versorgt ihn ein weiterer illegaler flüchtling aus laos medizinisch, vor dem jen anfänglich einige ressentiments hat. beim abendessen bekommen sie besuch von boonmees vor 19 jahren verstorbener frau huay und ihrem sohn boonsong, der im dschungel verschollen war und nun in veränderter gestalt wieder auftaucht. boonmee hält seine krankheit für die strafe zur schuld, die er als mörder von kommunisten auf sich geladen hat, während jen ihn zu trösten versucht, er habe es mit den besten absichten zum schutz des volkes getan. huay jedoch muss ihn im bezug auf sein seelenheil im himmel enttäuschen, dieser existiere schlicht nicht. er zieht sich zum sterben in eine höhle zurück, nach der trauerfeier sind jen und eine freundin in einem hotel mit dem zählen von geldgeschenken beschäftigt, als tong eintritt und eine kurze pause von seinem neuen mönchsleben benötigt, an das er sich nach boonmees tod noch nicht gewöhnt hat.
uncle boonmee ist in vieler hinsicht ein herausragender film. nicht allein, dass er der erste thailändische film ist, der mit der goldenen palme in cannes 2010 ausgezeichnet wurde und darüberhinaus weitere internationale preise gewann. es ist ein film über eine ganze reihe von themen, die beinah beiläufig und im bewussten verzicht auf hochglanz und kaschierungen erzählt werden, in einem sehr ruhigen tempo, mit durchaus dokumentarischem charakter: es geht um tod und vergebung, einsamkeit und schuld sowie reinkarnation als philosophisch-religiöse themen – herausragend die als erinnerungs-/traumsequenz eingefügte szene der gealtertern lebensmüden prinzessin, die sich in einem waldsee ertränkt und das große kostümtheater ostasiens zitiert wie verfremdet. vorangestellt ist dem film, der die gleichzeitigkeit von tanszendeten und realen wesen als etwas sehr alltägliches und ohne furcht beschreibt, als thema dieses motto:
Im Angesicht des Dschungels, der Hügel und der Täler tauchen meine vergangenen Leben als Tier und als andere Wesen immer vor mir auf.
die vergangenen, gegenwärtigen leben sind dabei ebenso spirituell wie konkret zu verstehen und keineswegs als gegensatz: es geht im film und den knappen gesprächen zwischen boonmee und jen bzw huay ebenso um politisch-historische verantwortung, um die selbstverständlichkeit des verschwindens von personen oder die anwesenheit von geistwesen ebenso wie um das kino als traumort selbst. dies alles ist in einem stil erzählt, den weerasethakul mit anderen filmen und installationen als primitive project zusammengefasst hat, darunter auch den 18minütigen kurzfilm a letter to uncle boonmee. die fülle der themen und cineastischen ausdrucksformen fügt uncle boonmee gänzlich unaufdringlich und absolut gleichberechtigt nebeneinander in seine erzählung, in der das erzähltempo suggeriert, als könne die figuren nichts erschüttern, doch die erschütterungen sind äußerst fantasievoll und gleichsam tragisch als auswirkungen in die figuren eingeschrieben, gleichsam als finale wellen von vergangenen beben, die sich in den figuren brechen und keineswegs zur ruhe kommen. so ist eine traumerzählung boonmees mit einer fotoserie junger militärs kontrastiert, die eine als affen verkleidete figur sowohl abführen als auch mit ihm posieren als ein scheinbar heiteres echo auf boonmees reale militärvergangenheit, oder die permanente anwesenheit von verschwundenen personen als ein gesellschaftlicher normalzustand, so auch der verschwundene sohn boonsong der einst in den dschungel ging und verloren blieb, da er auf fotos seiner kamera affengeister entdeckte und von diesen nun besessen war, so dass er unter ihnen leben wollte. er kehrt zurück als vollständig verwandelter. auch dies eine multiperspektivische episode sowohl vom verschwinden, das von den figuren nicht kommentiert wird, als auch vom kino selbst: die kamera als medium des wirklichkeitswandels ist selten schöner und unaufdringlicher erzählt worden – und ist zugleich einer der vielen persönlichen, autobiografischen verweise apichatpongs, der von sich sagte, er sei ins kino entkommen.
obwohl uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben vor zehn jahren international sehr erfolgreich war, ist der film heute und auch sein regisseur, der zu den herausragenden filmemachern insbesondere des independentkinos und der thai new wave zählt, in deutschland so gut wie nicht bekannt. ganz anders im englischsprachigen raum, wo der film auch heute noch stark rezipiert wird und zu einem neuen kanon des kinos gezählt wird, der außergewöhnliche independent-filme zusammenfasst. hierzulande ist von apichatpong weerasethakul lediglich sein 2015 erschienener film cemetery of splendour über rapid eye movies erhältlich, wenigstens das. doch die vielgestalt und vieldimensionalität von uncle boonmee als kunstwerk sowohl des thailändischen als auch des internationalen kinos ist hierzulande deutlich zu wenig gewürdigt.
apichatpong weerasethakul: uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben. thailand u.a. 2010. 113min.
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