nachbetrachtung zur diskussion um die vergabe des friedenspreises des deutschen buchhandels an serhij zhadan
mitten im krieg einen friedenspreis zu vergeben, und nicht während „irgendeines“ krieges sondern eines dessen nachbeben aller russischen bomben- und granateneinschläge weltweit zu spüren sind, zeugt von einem im moment weltfremd erscheinenden doch hoffnungsvollen bis romantischem wissen, dass jeder krieg endet, dass die gegner des krieges auch und insbesondere auf seiten der kriegsparteien ( der kriegserfüllten wie der unfreiwillig gewordenen ) lauter sein müssen als die tödlichen einschläge
zhadan ist dafür kritisiert worden, dass er in seiner jüngsten deutschen veröffentlichung der himmel über charkiw. nachrichten vom überleben im krieg von den russischen angreifern 1x als „tiere“ und gar 2x im text als „unrat“ spricht . das buch ist eine kompilation von facebook-posts zhadans während der kriegsereignisse, schnelle kurze gedanken, ein online-tagebuch, nicht unähnlich wenngleich deutlich expliziter als das buch von julia solska . die „unrat“-stellen sind dabei semantisch nicht eindeutig, ob es die soldaten meint oder nicht doch die vielen zerstörten und liegengebliebenen panzer und fahrzeuge, die eben nichts als unrat = müll abfall sind, oder letztlich alles zusammen:
6. März 17:41 […] Man wünscht sich, [die Stadt Charkiw] so rasch wie möglich wiederaufzubauen, nachdem wir diesen Unrat, der aus dem Osten über uns hergefallen ist, zurück über die Grenze und ins Nichts geworfen haben.
die zweite stelle ist ähnlich offen:
16. Juni 20:41 […] Mehr als alles in der Welt wünscht man sich, dass dieser ganze nördliche Unrat über die Grenze verschwindet und alle Menschen guten Willens wieder die Möglichkeit bekommen, ihrer natürliche Beschäftigung nachzugehen.
die „tiere“-stelle hingegen ist eindeutig – jedoch handelt es sich nicht um zhadans eigenen text, sondern um einen repost eines freundes, der den Tod eines anderen Freundes betrauert:
Repost von Wasyl Rjabko 16. März 12:55 […] Heute hat ihn die russische Welt getötet. Die russischen Tiere, die gekommen sind, um uns zu befreien.
mehr stellen fördert eine textsuche des ebooks von der himmel über charkiw zu den einträgen „tiere“ und „unrat“ nicht zutage – ein repost und zwei seltsam uneindeutige stellen ( aus dem osten oder aus dem norden? ) sind nicht viel für eine so lautstark vorgetragene kritik, die zhadan selbst „barbarische wortwahl“ vorwirft, die begriffe „barbaren“, „horde“, „verbrecher“ für die russländischen soldaten stünden ja auch noch im text, ja darf das denn literatur sein. und die rachefantasie „brennt in der hölle ihr schweine!“, wie sie jutta ditfurth zhadan vorwirft, wobei ditfurth auch hier den märz-repost für zhadans eigene worte hält: nein, das ist der wütende text von wasyl, der seinen besten freund verloren hat, und natürlich gehört das mit ins buch, weil der krieg nichts anderes kann und schafft als zerstörung, überall. doch für genaue lektüre ist keine zeit, man liebt hierzulande seine werteorientierte haltung, seine moralische klarheit und überlegenheit, auch im betrachten eines krieges noch den verwundeten zu sagen, sei ruhig und klage an aber sei nicht wütend und differenziere bitte. bzw in gestalt von harald welzer eine zu große empathie gegenüber zhadan, wenn der in seiner dankesrede sich kritisch über deutsche intellektuelle briefeschreiber ausließ und welzer dann nachher der applaus zu lang war, was er in der formulierung gesinnungsethische überanstrengung zusammenzufassen meinte doch eigentlich ausdrückte, dass er zhadan und sein publikum irgendwie doof fand. es ist eine hübsche empörung gewesen, die sich da durchs deutsche feuilleton getragen hat: einem autor, dessen sämtliche literarische arbeiten getragen sind von einer enormen beobachtungsgabe und größtem verständnis und humanität, der seit 2014 über den russischen angriffskrieg schreibt und weitsichtige kluge doch von all den empörten kaum rezipierte texte publiziert hat, romane, gedichte, tagebücher – warum ich nicht im netz bin, mesopotamien, internat, antenne – und noch im april 2022 in der zeitschrift theater heute sein jüngstes theaterstück lieder von vertreibung und nimmerwiederkehr abgedruckt und im mai in münchen in deutschland erstmals aufgeführt wurde, in all diesen arbeiten ist stets von den verheerungen des krieges und von den diesen krieg erfahren müssenden menschen die rede, verachtung für den krieg und seine zerstörungswut, seine entmenschlichung. aber natürlich ist es einfach, sich darüber zu empören, dass ein autor, der sich unfreiwillig im krieg befindet und tagtäglich den zerstörungen und dem sterben ausgesetzt ist, in seinen fast täglichen notizen auch hochgradig emotional werden kann und sich nicht auch um die menschen unter den uniformen besorgt zeigt, die sein land überfallen, ob die denn alle wussten was sie taten oder ob sie selbst missbraucht und geopfert werden, nur kann das den ukrainer*innen herzlichst egal sein, und sie alle wissen sehr wohl was von höchster russischer stelle aus immer und immer wieder wiederholt wurde und wird und wie lange sie insbesondere in den westen hinein gewarnt haben und der eu-nato-westen dennoch seine russlandgeschäfte betrieb und bis heute nicht zu wenige glauben, man muss nur verhandeln und putins leuten gut zureden – ach es ist ein jämmerliches herumjammern hierzulande dass der friedenspreisträger nicht stets über den frieden und wie man dahingelangen könnte redet, sondern über die menschen im krieg und wie erschöpft wütend überanstrengt hilfsbereit wach und müde er ist ohne zu wissen wann das endet und ob er dann selbst noch da sein wird – ein dokument der tapferkeit wurde das tagebuch genannt, durchhalten, hoffnung finden, trotz allem, und so kann man es auch einfach rezipieren, als dokument aus einem krieg, aus dem krieg des 21. jahrhunderts, an dessen ende eine vollständig andere welt stehen wird und dessen nachwirken sehr tiefgreifend sein wird, auch wenn die russische politische mafiaelite noch lange nicht zusammenbricht, ebensowenig wie das iraner regime, das diesen krieg mit seinen drohnen massiv befeuert und auf gleiche weise wie auch belarus involviert ist: ein krieg der sich sehr lange ziehen oder mit einem möglichen iranischen regimezusammenbruch sehr schnell vorbei sein kann – es ist immer romantisch, im krieg dem frieden einen preis zu widmen, auch und gerade dann wenn die den frieden herbeiflehenden stimmen derart gehetzt und bedroht sind, wie die von zhadan, aber auch die der träger*innen des friedensnobelpreises 2022 memorial, center for civil liberties und ales bialiatski.
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