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  • barbenheimer

    barbenheimer

    barbenheimer bezeichnet das phänomen der zeitgleich gestarteten filme barbie von greta gerwig und oppenheimer von christopher nolan vor einem monat. um beide filme entstand gleichzeitig ein enormer hype und erfolg, der so nicht vorzusehen war. insbesondere die vollständige gegensätzlichkeit der beiden filme scheint zu einer lust am widersprüchlichen geführt zu haben, denn konträrer in thematik, gestaltung und tonart könnten zwei filme zur gleichen zeit kaum sein: hier ein überzuckert-flippiger film mit franchise-absicht über ein weltbekanntes spielzeug mit durchaus unterkomplexer feministischer botschaft, dort ein extrem verlangsamtes epos über einen widersprüchlichen wissenschaftler in verschachtelter erzählweise. mehr gegensatz ist im amerikanischen blockbuster wohl unmöglich.

    und doch sind sie eindeutig amerikanische filme über rein us-amerikanische themen. so unterschiedlich die filme sind, so sehr haben sie den gleichen kern: den mythos amerika weitererzählen, mit allen mitteln. greta gerwigs barbie versucht, die als anti-feministische ikone bekannte und verachtete spielzeugpuppe aus dem hause mattel irgendwie für eine doch sinnvolle feministische erzählung neu zu deuten, indem sie die puppe mit der realen welt des patriarchats kollidieren und von drei frauen-generationen – der alten barbie-erfinderin ruth handler, einer desillusionierten frau und mutter und ehemalige barbie-besitzerin in ihren 40ern sowie deren pubertierender tochter und barbie-hasserin – mit feministischer lehre aufladen lässt. christopher nolans in zwei zeitebenen spielender film erzählt anhand der person oppenheimers, der mit enormem aufwand die erste funktionsfähige atombombe entwickelte, die moralische unverlässlichkeit der politischen usa. denn so sehr oppenheimer auch gefördert wird mit hilfe des verteidigungsministeriums, als erste die kaum zu kontrollierende bombe zu haben, während des zweiten weltkrieges und gegen die ebenfalls an der bombe arbeitenden nazis, so sehr wird ihm nach dem krieg und den ersten beiden bombenabwürfen letztlich der prozess wegen verrats gemacht. nolan erzählt zugleich sowohl die faszination an der bombe an sich als auch die politische doppelmoral aus schmutzigen motiven – in einer auf 3 stunden gedehnten ewigkeit.

    barbie bezieht seinen unterhaltungswert aus dem bubblegum-cinema mit hohem tempo und bunten tanzeinlagen, bedient sich dabei eines holzhammer-feminismus mit vorgeführten, bodenlos dummen männergestalten und einer margot robbie als barbie, die wie keine andere schauspielerin derzeit künstliche figuren verkörpern kann – von harley quinn zu barbie ist es nicht weit -, die feministischen themen wirken aber an ihr wie eine weitere kostümierung. hinzu kommt, dass der culture clash von barbie-welt und realer welt nicht mehr offenbart, als dass auch die realen menschen bzw vor allem die männer eigentlich so hohl wie puppen sind. kein wunder, dass die patriarchale welt den heimlich bei barbie mitgereisten ken auf saudumme gedanken bringt und barbie zu tränen rührt, weil sie von der pubertierenden göre als faschistin bzeichnet wurde und an der bushaltestelle eine alte frau gesehen hat. (in beiden szenen verlässt der film ungewollt die figur der barbie und nimmt die perspektive der zuschauerinnen ein: woher weiß barbie, was eine faschistin ist, die in ihrer welt nicht existiert? warum sagt sie der alten frau, dass sie schön ist, obwohl sie falten und zellulitis fürchtet wie die pest und eine gealterte barbie ebenfalls nicht existiert? solche unreflektierten brüche in der figurenzeichnung fallen in all dem bunten treiben schon gar nicht mehr ins gewicht.) der film erzählt somit nur den kulturkampf frauen vs männer und einen feminismus von vor langer zeit, zudem auf materieller ebene: spiel mit barbie, doch spiel mit ihr richtig – aber um himmels willen nicht mit einem anderen spielzeug! das kann man lustig finden oder nervig, barbie ist im wesentlichen eine intellektuelle unterforderung: die frau-werdung von barbie initiiert sich darin, dass sie am schluss – als könnte es nichts schöneres für eine frau geben! – endlich auch zu einem gynäkologen gehen kann. uff.

    christopher nolans oppenheimer ist erwartbar komplexer und anspruchsvoller, und doch ist es wieder nur ein typischer nolan-film, der sich selbst sehr gern reden hört, perfekte bilder zelebriert – und wie in jedem guten nolan-film mit einem groß gefilmten countdown aufwartet: es macht die bombe 3 – 2 – 1 – bumm. oppenheimer geht den langen weg des überdehnten epos und zeigt geballte männlichkeit, die frauenfiguren sind randerscheinungen, es gibt nur männer in opulenten und an sich selbst berauschten bildern. die figur oppenheimer wird wie in der buchvorlage mit dem zivilisationsbringer prometheus überhöht, die grenzüberschreitung des feuerbringens ist hier mit der zerstörungskraft der atombombe parallel gesetzt. die manie nolans, einen realistischen film zu schaffen, konterkariert er immer wieder mit aussagen der figuren, die um ihre deutung der nachgeborenen wissen. „…weil es hier um das verdammt nochmal wichtigste ereignis in der weltgeschichte geht“ sagt matt demons lieutenant general leslie groves einmal und der satz wirkt komplett ahistorisch und deplatziert, wie andere ähnliche bemerkungen, die auf die interpretation der geschehnisse verweisen. selbstverständlich war den am manhattan project beteiligten klar, was sie taten, aber nicht im sinne der welthistorischen nachbedeutung, sondern in erster linie, um einer atombombe der nazis zuvor zu kommen. die deutung und bedeutung wurde auch einem oppenheimer erst nach den abwürfen über hiroshima und nagasaki klar, zuvor hatte er hingegen die befürchtung, mit der bombe augenblicklich in einer kettenreaktion die gesamte atmosphäre zu verbrennen. nolan arbeitet mit solchen ahistorischen verschiebungen seinem eigenen realismus-fetisch zuwider, bei dem alles so „echt“ und „wahr“ wie nur möglich aussehen und das fiktive zum verschwinden bringen soll. es ist ein grotesker irrtum in dieser überlangen biografie, die hauptsächlich den weg bis zum erfolgreichen bombenbau sowie den späteren verratsprozess der mccarthy-ära erzählt, den restlichen lebensweg hingegen ausblendet. nolans arbeitsweise wie filmschaffender irrtum ist der extreme hang zu einem hyperrealismus, der in oppenheimer zum spleen wird: jede kulisse ist eine exakte kopie des originals, die bombenexplosion soll echter als echt aussehen und alles soll vor allem beeindrucken – dabei war nolan schon einmal bedeutend weiter:

    was im fantastischen genre des comicfilms mit der dark knight trilogie herausragend funktionierte, eben weil es KEIN realistisches kino war, sondern die comic-fiktion mit der kino-fiktion kombinierte, wie ein realer bruce wayne / batman heute aussehen könnte: es entstand ideale cineastische illusion, weil die filme räume öffneten für das imaginäre – es ist außergewöhnliches kino. jedoch ist eine filmische biografie über eine reale persönlichkeit trotz aller realistischer engführung immer auch fiktion, eben weil es eine erzählung ist, die seine gestalterischen und wertenden elemente nie wird leugnen können, warum sollte sie auch. nolan aber versucht genau das in seinem hyperrealismus zu ignorieren, obwohl er sich auf der filmischen ebene genau dieser fiktionalisierenden mittel – farbe vs s/w – interpretierend bedient. die frage ist also: wozu dieser allzu eifrige realismus, als „echtheit“ missverstanden? nolans kino möchte das handwerkliche betonen gegenüber dem beliebig computergenerierten bild und so einen moralischen mehrwert der erzählung hinzufügen. das ist einerseits sympathisch, andererseits aber ebenso eitel, da nolans ästhetik die der perfektion ist, es soll echt, wahr und sauber sein (umso verwunderlicher die schnittfehler im finalen gespräch oppenheimer-einstein). nolan schafft dabei andächtige und perfekte Bilder, die nach fotografien von oppenheimer komponiert sind, und doch bleibt es eine absurd künstliche wirklichkeit, so wie auch die stadt los alamos in der wüste new mexicos nichts als ein künstliches gebilde war. nolan aber versucht sie fotorealistisch nachzubilden: es ist diese art der beeindruckung durch makellose oberfläche, die in den vergangenen nolan-filmen stets zu verfolgen war. das bild triumphiert über seinen inhalt.

    Barbie verfolgt den exakt gegensätzlichen Ansatz: offensive Fiktionalisierung und ausgestellte Imagination. So gelingt Greta Gerwig in der ersten halben Stunde ein tatsächlich aufregendes Kinoereignis, weil hier alles vollkommen künstlich ist, und doch sind die Puppenfiguren wie im Imaginationsraum eines spielenden Kindes lebendig und agil. Barbie duscht zB mit Duschgeräuschen aber ohne Wasser – und auch ihr Erschrecken darüber, dass eben dieses inexistente fiktive Wasser plötzlich eiskalt ist, ist absolut glaubwürdig. Nolans Oppenheimer hingegen ist gerade aufgrund des hyperrealistischen Ansatzes oft genug nicht glaubwürdig, weil immer wieder das interpretierende Medium Film das behauptete „Echte“ und „so war es wirklich“ durchstreicht. Nolans Film ist sich seiner Künstlichkeit oftmals erstaunlich wenig bewusst, etwa wenn „Wissenschaft“ gezeigt wird: Ein „echter“ Physiker wie Oppenheimer hat an einer Tafel zu stehen und in hoher Geschwindigkeit unbegeifliche Formeln an diese zu schreiben. Oder: Oppenheimer ist Wissenschaftler bis zur Nerdigkeit, also übersetzt er sogar beim Sex noch für die Geliebte Texte aus dem Sanskrit. Und ein böser Charakter wie Robert Downey Jr.s Lewis Strauss neigt von Anfang an zur Besserwisserei und ist so a priori unsympathisch, also zu keinem Zeitpunkt mögliche Identifikationsfigur. Von solcherlei stereotypen, bis zur Lächerlichkeit bekannten Bildern ist der Film voll, und natürlich ist es dem unantastbaren Wissenschaftsidol Einstein vorbehalten, das alles erklärende Schlusswort zu halten. Es sind einfache und wenig herausfordernde Bildwelten in einem Film, der sich selbst einmal mehr verliebt beim Dozieren über Wissenschaft zuhört, und das mit Realismus verwechselt.

    Barbie, interessanterweise, scheitert filmisch aber ebenso an Fiktion und Realität, denn in dem Moment, wo Barbie und Ken in der „realen Welt“ erscheinen und später „echte“ Menschen in Barbies Spielzeugwelt, in diesem Moment verliert der Film sein hyper-unrealistisches Konzept des Puppen-Spiels und kippt ins Belehrende und Beliebige und ebenso Unglaubwürdige. Er findet für die hochmoralische feministische Erzählung keine kohärente Filmsprache mehr außer einer überbetonten pädagogischen Albernheit, die so tiefschürfend ist wie ein Popsong, von denen es bezeichnenderweise gleich mehrere inklusive ihrer Music-TV-Videos in voller Länge gibt.

    Dort, wo Barbie eifrig belehrend wird, wird Oppenheimer trivial und selbstverliebt – und vor allem langweilig. Beide Filme finden keinen Rhythmus und formulieren ihre moralisierenden Aussagen – das Patriarchat ist Scheiße bzw die Atombombe war ne miese Idee – in sehr unsubtilen Bildern. Es ist dann eben doch Hollywood, das seinen Zuschauern stets alles erklärt, was auf der Leinwand zu sehen ist. Und es tut mir wirklich leid, aber mich ödet Nolans Kino inzwischen maximal an. Greta Gerwig hat wenigstens für selbstverliebte Langeweile schlicht viel zu viel Humor. Barbenheimer bleibt aber vor allem deshalb interessant, weil es ein Sommer-Ereignis war und darüberhinaus wenig bedeutsam.

    Nachtrag 26.8.23: angesichts der unglaublichen Ereignisse seit dem sexuellen Übergriff des spanischen Verbandspräsidenten Rubiales gegenüber der frisch gekürten Fußball-Weltmeisterin Jenni Hermoso – Rubiales‘ trotzige, uneinsichtige Nicht-Entschuldigung, der enormen nationalen und internationalen Solidarisierung mit Hermoso bis zum umfangreichen Boykott der Nationalmannschaft, der angekündigten unfassbaren Klage gegen Hermoso und der Suspendierung von Rubiales durch die FIFA – zeigt sich das Patriarchat keineswegs lustig oder voller geistig minderbegabter Deppen sondern maximal autoritär und aggressiv: die sich wehrende Frau soll bestraft werden, nicht der übergriffige und komplett uneinsichtige Mann. So hätte die Geschichte von Barbie und Ken auch aussehen können, vllt sogar müssen…. #feminism

  • julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska ist eine von vielen millionen europäerinnen in der ukraine, sie hat in deutschland studiert, in düsseldorf gearbeitet, kehrte in die ukraine nach kiew zurück – im buch wird die lange zeit im deutschen übliche schreibweise verwendet – und wurde wie das gesamte land vom angriffskrieg russlands am morgen des 24. februar 2022 überrascht. ihre erfahrungen, gedanken, gefühle in den tagen sowohl vor als vor allem auch nach der russischen invasion auf ihrer flucht aus kiew durch das land vor dem krieg, dem tod, dem horror, hat sie als tagebuch und in deutschland veröffentlichen können. es ist ein beeindruckendes zeitdokument über die ukraine und ihre mutige bevölkerung in den ersten kriegstagen, und eine wichtige mahnung an alle europäer*innen, sich nicht an diesen russländischen eroberungs- und zerstörungskrieg zu gewöhnen.

    julia solska ist in einem kleinen dorf nördlich von kiew aufgewachsen, in michajliwka-rubeschiwka, wo ihre eltern leben. das dorf ist eine nachbargemeinde der durch die massaker der russischen armee international bekannt gewordenenen orte butscha und irpin, die eltern wollen anfangs das dorf nicht verlassen, erst als russische panzer im ort stehen und die soldaten mit den plünderungen und wahllosen zerstörungen begonnen haben, entschließen sie sich zu einer lebensgefährlichen flucht. julia ist da bereits weit weg und erfährt erst im nachhinein von ihrer rettung. der kontakt mit der familie ist schwierig, da es oft keinen strom zum aufladen der handyakkus gibt, die schwester ist mit ihrer familie in die eine richtung geflohen, julia mit ihrem freund anton nach einem kurzbesuch bei den eltern in den süden von kiew, von dort über zwischenstationen gen westen nach lwiw, nach 14 tagen und einem extremen fußmarsch ist sie schließlich in polen, von wo sie per zufall ein auto nach deutschland mitnimmt. sie lässt ihren freund und viele bekannte ebenso wie ihren kater fran in der ukraine zurück, im unwissen wer die russische aggression überleben wird, doch entschlossen dass putin diesen krieg nicht gewinnen wird:

    ich habe große sorge, dass der westen „kriegsmüde“ wird. die welt hat putin diesen krieg erlaubt. nun sollte sie sich wenigstens nicht an ihn gewöhnen. ich flehe die menschheit an, mein land weiter zu unterstützen, auch mit waffen. jeder, der sagt, gebt russland die krim und was es sonst noch haben will, dann ist frieden, dann haben wir unsere ruhe und müssen uns keine fotos mehr von toten und zerbombten städten ansehen, hat noch nicht verstanden, dass putin nie aufhören wird, bis er die ukraine vollständig erobert hat. danach ist das baltikum dran.

    so schließen julias aufzeichnungen am tag 97 der invasion, 31.mai, ein nachtrag aus deutschland zu den ersten einträgen. es ist ein appell, wie er von serhij zhadan und vielen anderen in der ukraine regelmäßig gegen dürftige bis eitle und selbstgerechte deutsche offene briefe publiziert werden: der krieg hört nicht auf, wenn die ukraine sich nicht mehr verteidigt, der krieg hört erst auf, wenn putin nicht mehr schießen lässt, und das macht er nicht von sich aus, im gegenteil, er möchte die ukraine vernichten. übrigens sagt putin das genau so immer wieder selbst, man sollte ihm einfach mal zuhören statt zu glauben, man könne mit dieser russischen führung verhandeln.

    das lesen ihres tagebuchs führt mehrere dinge vor augen: als erstes und wichtigstes zeigt es die enorme solidarität der menschen untereinander, die auf den irrsinn des krieges mit größter hilfsbereitschaft reagieren, auch nur entfernte freunde oder bekannte von bekannten stellen ihren wohnraum, und sei er noch so klein, zur verfügung, man sorgt sich gegenseitig umeinander und schützt sich miteinander vor dem krieg, die selbstverständlichkeit der fürsorge um die millionen vor dem krieg fliehenden menschen ist ebenso beeindruckend wie auch die fürsorge um die überall anwesenden tiere, seien es katzen, hunde oder eichhörnchen im park. gleichzeitig ruft es die erinnerung an die ersten kriegstage wieder wach, die riesige angst was dort passiert, wohin das führt, welcher wahnsinn in der ukraine losgetreten wurde, mein telefonat am nachmittag mit meinen fassungslosen eltern, die stets geglaubt hatten dass putin nur falsch verstanden wurde, so wie sehr viele in diesem land, zum teil bis heute….. und diese tage sind keine 5 monate her, der krieg ist keine 5 monate alt, ein säugling ist er noch immer, dieses russische monstrum. mir will nicht in den kopf, dass es nicht wenige gibt, die das alles, was dort in der ukraine geschieht, was im tagebuch festgehalten ist, immer noch für lüge und westliche propaganda halten, ausgedacht von irgendwelchen ukrainischen faschisten oder sonstwelchen phantomen, dass es nicht wenige gibt, die ganz bewusst wegschauen und zynisch willfährig groteske gegenwahrheiten und alternative facts behaupten, wissend dass sie lügen und gigantischen dreck produzieren oder konsumieren, und ich begreife die motivation dahinter immer noch nicht, es lässt mich fassungslos zurück, mit großer wut, eine ehemalige kollegin von mir behauptete, dass butscha eine inszenierung sei, eine nachbarin ist weggezogen vor der westlichen propaganda – ausgerechnet ins baltikum, dort wird sie auch nicht glücklich werden….

    zweitens zeigt es sehr klar anhand eines gespräches mit einer frau, eigentlich einer freundin von julia, wie weit sich die ukraine von der russischen föderation mental entfernt hat, wie offen liebral und europäisch die ukrainische bevölkerung ist und wie unbegreiflich das in russland ist. selbst die menschen in ursprünglich russlandfreundlichen städten haben sich längst abgewandt und wollen nichts mit diesem russland zu tun haben. julia nimmt der russischen freundin ihre mutlosigkeit und unterwürfigkeit in den wenigen selbstmitleidigen sätzen übel, so dass sie die freundschaft schließlich beendet. sie leben in völlig anderen politischen realitäten, die in russland noch im sowjetischen verhaftet geblieben sind, während die ukraine sich erstmals 2004 und dann erneut 2014 deutlich davon lossagte, diese realitäten haben sich in die gedanken und handlungen der menschen als selbstverständlich eingeschrieben haben, die liberale julia steht ihrer von der vertikale der macht dominierten russischen freundin fassungslos gegenüber – und dies ist der mentale kern des krieges. die selbstverständlichkeit eines dominanten staates war und ist in russland überall absolut gegenwärtig und niemand stellte es in frage bzw diejenigen, die es taten, sind heute im exil, ermordet oder verhaftet. der russische mensch, so die unmissverständliche ansage putins an den damaligen oligarchen michail chodorkowski, darf nicht politisch sein (chodorkowski brach das gebot und landete im gefängnis und ist heute im exil), der russische mensch ist ein entpolitisiertes objekt in den händen eines nicht zu fassenden unverständlichen staates, russlands macht gegenüber seiner bevölkerung äußert sich in seiner bewussten rätselhaftigkeit, die nicht angst sondern vielmehr verachtung ist. die ukraine hat sich von dieser verachtung stück für stück emanzipiert, kunst und kultur sind im land lebendig, während in russland konservierender stillstand herrscht, eine als unveränderbare normalität begriffene unterwürfigkeit zu einem staat, der kein interesse an seiner bevölkerung hat. dieses kurze gespräch am zehnten tag der invasion verdeutlicht dies unmissverständlich, weshalb julia letztlich auch die gesamte russländische bevölkerung für diesen krieg verantwortlich macht, wenn sie sich nicht gegen den krieg im eigenen land zur wehr setzt. dass dies nicht geschehen wird, sollte nach 5 monaten krieg inzwischen verstanden worden sein. auch meine bekannten, mit denen ich in sibirien zusammenarbeitete und theater spielte, posten videos im zeichen des „z“ oder bezeichnen mich als „blind/geblendet“ von westlicher propaganda. wie sehr die russische von der ukrainischen welt entfernt ist, zeigt eindrucksvoll und bedrückend auch die dokumentation von andrej loschak.

    dieser krieg ist ein monstrum, jeder krieg. doch dieser krieg als völkerrechtswidriger angriff eines revisionistischen russlands gegen ein freies, souveränes land hinterlässt ungeheuerliche folgen, es ist ungeheuer wichtig, dass mit diesem tagebuch das fluchtdokument einer jungen, klugen, erschütterten, wütenden und liebevollen ukrainerin vorliegt und unmissverständlich zeigt, dass es nicht um unsere deutsche angst gehen kann, sondern um die europäische solidarität, dem angegriffenen land ukraine bei der verteidigung gegen einen rücksichtslosen und brutalen aggressor zu helfen, auf welchen wegen auch immer. möglichkeiten und bedarf gibt es jede menge.

    julia solska: als ich im krieg erwachte. tagebuch einer flucht aus der ukraine. edel books, 192 seiten.

  • apichatpong weerasethakul – uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben

    apichatpong weerasethakul – uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben

    die zeit geht in enormem tempo ihrer täglich aufs neue unfassbaren ereignisse und katastrophen aus so ziemlich allen ecken dieses höchst kantigen planeten #moria #belarus #uiguren #jemen #sanfrancisco #etcetcetc die möglichkeiten zum innehalten nach dem grauenerfüllten blick auf das entsetzliche sind rar geworden scheints doch manchmal gelingts und es findet sich der weg in freie räume – so etwa in den außergewöhnlichen filmen des apichatpong weerasethakul : uncle boonmee ist ein film für den das kino einst erfunden wurde.

    kino in thailand ist so ziemlich die maximal vorstellbare antithese zu den überwältigungsfilmen hollywoods. ein land mit einer hochgradig komplexen geschichte, konstitutionelle monarchie, militärregierungen und antikommunistischen massakern aus furcht vor vietnamesischen, kambodschanischen oder laotischen (kommunistischen revolutions-)verhältnissen – in apichatpong weerasethakuls arbeiten finden sich zahlreiche echos auf die verwundungen der thailändischen gesellschaft in den jahrzehnten nach dem 2. weltkrieg, sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben ist dafür der eindrücklichste, faszinierendste beleg.

    uncle boonmee besitzt eine kleine farm für tamarinde und honig, auf der unter anderem geflüchtete aus den benachbarten laos arbeiten. er selbst ist schwer krank und ahnt, dass ihm nicht mehr viel zeit bleibt, also hat er sich zum sterben zurückgezogen, umgeben von seiner schwester jen und ihrem sohn tong, außerdem versorgt ihn ein weiterer illegaler flüchtling aus laos medizinisch, vor dem jen anfänglich einige ressentiments hat. beim abendessen bekommen sie besuch von boonmees vor 19 jahren verstorbener frau huay und ihrem sohn boonsong, der im dschungel verschollen war und nun in veränderter gestalt wieder auftaucht. boonmee hält seine krankheit für die strafe zur schuld, die er als mörder von kommunisten auf sich geladen hat, während jen ihn zu trösten versucht, er habe es mit den besten absichten zum schutz des volkes getan. huay jedoch muss ihn im bezug auf sein seelenheil im himmel enttäuschen, dieser existiere schlicht nicht. er zieht sich zum sterben in eine höhle zurück, nach der trauerfeier sind jen und eine freundin in einem hotel mit dem zählen von geldgeschenken beschäftigt, als tong eintritt und eine kurze pause von seinem neuen mönchsleben benötigt, an das er sich nach boonmees tod noch nicht gewöhnt hat.

    uncle boonmee ist in vieler hinsicht ein herausragender film. nicht allein, dass er der erste thailändische film ist, der mit der goldenen palme in cannes 2010 ausgezeichnet wurde und darüberhinaus weitere internationale preise gewann. es ist ein film über eine ganze reihe von themen, die beinah beiläufig und im bewussten verzicht auf hochglanz und kaschierungen erzählt werden, in einem sehr ruhigen tempo, mit durchaus dokumentarischem charakter: es geht um tod und vergebung, einsamkeit und schuld sowie reinkarnation als philosophisch-religiöse themen – herausragend die als erinnerungs-/traumsequenz eingefügte szene der gealtertern lebensmüden prinzessin, die sich in einem waldsee ertränkt und das große kostümtheater ostasiens zitiert wie verfremdet. vorangestellt ist dem film, der die gleichzeitigkeit von tanszendeten und realen wesen als etwas sehr alltägliches und ohne furcht beschreibt, als thema dieses motto:

    Im Angesicht des Dschungels, der Hügel und der Täler tauchen meine vergangenen Leben als Tier und als andere Wesen immer vor mir auf.

    die vergangenen, gegenwärtigen leben sind dabei ebenso spirituell wie konkret zu verstehen und keineswegs als gegensatz: es geht im film und den knappen gesprächen zwischen boonmee und jen bzw huay ebenso um politisch-historische verantwortung, um die selbstverständlichkeit des verschwindens von personen oder die anwesenheit von geistwesen ebenso wie um das kino als traumort selbst. dies alles ist in einem stil erzählt, den weerasethakul mit anderen filmen und installationen als primitive project zusammengefasst hat, darunter auch den 18minütigen kurzfilm a letter to uncle boonmee. die fülle der themen und cineastischen ausdrucksformen fügt uncle boonmee gänzlich unaufdringlich und absolut gleichberechtigt nebeneinander in seine erzählung, in der das erzähltempo suggeriert, als könne die figuren nichts erschüttern, doch die erschütterungen sind äußerst fantasievoll und gleichsam tragisch als auswirkungen in die figuren eingeschrieben, gleichsam als finale wellen von vergangenen beben, die sich in den figuren brechen und keineswegs zur ruhe kommen. so ist eine traumerzählung boonmees mit einer fotoserie junger militärs kontrastiert, die eine als affen verkleidete figur sowohl abführen als auch mit ihm posieren als ein scheinbar heiteres echo auf boonmees reale militärvergangenheit, oder die permanente anwesenheit von verschwundenen personen als ein gesellschaftlicher normalzustand, so auch der verschwundene sohn boonsong der einst in den dschungel ging und verloren blieb, da er auf fotos seiner kamera affengeister entdeckte und von diesen nun besessen war, so dass er unter ihnen leben wollte. er kehrt zurück als vollständig verwandelter. auch dies eine multiperspektivische episode sowohl vom verschwinden, das von den figuren nicht kommentiert wird, als auch vom kino selbst: die kamera als medium des wirklichkeitswandels ist selten schöner und unaufdringlicher erzählt worden – und ist zugleich einer der vielen persönlichen, autobiografischen verweise apichatpongs, der von sich sagte, er sei ins kino entkommen.

    obwohl uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben vor zehn jahren international sehr erfolgreich war, ist der film heute und auch sein regisseur, der zu den herausragenden filmemachern insbesondere des independentkinos und der thai new wave zählt, in deutschland so gut wie nicht bekannt. ganz anders im englischsprachigen raum, wo der film auch heute noch stark rezipiert wird und zu einem neuen kanon des kinos gezählt wird, der außergewöhnliche independent-filme zusammenfasst. hierzulande ist von apichatpong weerasethakul lediglich sein 2015 erschienener film cemetery of splendour über rapid eye movies erhältlich, wenigstens das. doch die vielgestalt und vieldimensionalität von uncle boonmee als kunstwerk sowohl des thailändischen als auch des internationalen kinos ist hierzulande deutlich zu wenig gewürdigt.

    apichatpong weerasethakul: uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben. thailand u.a. 2010. 113min.