Schlagwort: buchpreis 2019

  • raphaela edelbauer – das flüssige land

    raphaela edelbauer – das flüssige land

    #2 der shortlist. skeptisch misstrauisch angepisst präsentiert sich raphalea edelbauer auf dem foto im einband – ganz im gegensatz zum auftritt in klagenfurt 2018, wo sie ausschnitte des romans vorstellte. hier nun ist es nicht mehr heiter, hier geht es düster zu, scheint sie nun zu sagen. der gesamte roman will vieles und kann einiges – vor allem sprachlich ist es ein herausragender text, der allerdings viel zu lang geraten ist. es liest sich, als hätte ein lektor verlangt, ausschweifender = erklärender behutsamer andiehandnehmender zu erzählen, um den leser*innen nicht zu viel zuzumuten, denn so ein roman soll doch in erster linie gute unterhaltung sein.

    im flüssigen land gerät die wiener physikerin ruth in eine raum-zeit-parallel-unwirklichkeit: groß-einland, die (n)irgendwo in den österreichischen bergen abgelegene ortschaft, ist der geburtsort ihrer eltern und weil sie diese dort auch beerdigen möchte, begibt sie sich unfreiwillig dorthin – und landet in der pittoresk-grotesken gemeinde, die auf einem riesigen unterirdischen loch steht. klar, dass es um geheimnisse in der dorfgemeinschaft und so ziemlich alles geht, was den spezifischen österreichischen eigensinnigen anti-heimat-roman ausmacht.

    da ist die wissenschaftlerin und ihre studie bzw habilitationsschrift zu theorien der zeit, eine variation auf den bernhardschen geistesmenschen. da ist der raubbau an der geliebten heimatnatur aus gründen der eigenen bereicherung. da ist die bestens konservierte k-u-k-mentalität, denn selbst wenn der gräfinnentitel nur erlogen ist, gilt er vorbehaltlos. da ist das dorf in seiner eigenbrötlerischen weltferne, so fern, dass das dorf nirgends verzeichnet ist. da ist das spiel mit kulissen und imitationen, was ist echt, was ist theater, wem kann man trauen und wer ist wie bösartig zu wem. und da ist die alles durchziehende psychologie, das riesige düstere bedrohliche loch und das verdrängen von erinnerungen – als wäre dies nicht die offensichtlichste aller symbolbedeutungen, wird es im roman dennoch mehrfach ausgesprochen.

    Der Hohlraum unter dem Parkett, dachte ich in unaufmerksamen Momenten. Ob diese Formulierung vielleicht auf das Verdrängte in ihrem Kopf hindeutete? (Kap. 12)

    Was man ins Loch warf, waren Dinge, für die man sich schuldig fühlte. (Kap. 19)

    und konkret historisch gewendet, denn das loch ist schauplatz aller art von verbrechen, insbesondere zur ns-zeit, worauf sich auch der zentrale teil der handlung bzw ruths recherchen gründet:

    Siebenhundertfünfzig verschwundene Menschen und eine Gemeinde, die quasi über Nacht zur Monarchie zurückgekehrt war.

    dies ist der nucleus des romans, die frage nach schuld und verdrängung bis zum kitsch, und zur belebung wird er angereichert mit allerlei skurrilitäten und ruths familiengeschichte, was aber so recht nicht zünden mag, da die figur der ruth trotz aller beschreibungen nicht plastisch wird. einerseits steht sie dem dorf ausschließlich distanziert als fremde gegenüber, andererseits behauptet sie, ihre heimat gefunden und sich integriert zu haben, was aber zu keiner änderung ihrer distanziertheit führt. und schließlich berichtet sie das alles mit hoher akribik und wissenschaftlichkeit (und unnötigen theorie-einschüben zur zeit) und alles stets reflektierend, sich und alle anderen befragend, skeptisch, mürrisch, und beauftragt, ein füllmittel fürs loch zu finden. irrtümer, unwahrheiten, unzuverlässigkeiten kennzeichnen sie nicht – während die dorfbewohner von unwägbarkeiten übertrieben dargestellt sind.

    den roman wiederum kennzeichnet eine allzu detailreiche schilderung der ereignisse in einer vom endgültigen einsturz bedrohten gemeinde. doch die bedrohung von unten führt zu eigentlich nicht viel. die übermäßige wiederholung, dass es in groß-einland absonderlich und skurril zugehe, verschleppt das tempo nach starkem beginn immer weiter, selbst dann, als es auf einen showdown zusteuert, wird dieser im letzten moment aufgegeben – und ruth fährt einfach wieder nach hause. man wünscht sich, diese sprachliche begabung für sensationelle formulierungen wie bemannte kruzifixe und sätze wie Die Couch sickerte trüb in die Wohnzimmerwand und hinein in die gräuliche Wolkenstimmung des Frühnachmittags. wäre auf die struktur übertragbar, der roman auf die hälfte komprimiert worden, um die albtraumhafte unwirklichkeit keineswegs so deutlich und nachvollziehbar erklärt zu bekommen –

    doch so radikal können debüts heutzutage wohl einfach nicht sein für den deutschen buchmarkt, um in preisverdacht zu geraten. so bleibt ein roman mit hohem politischem anspruch und recht glatter widerstandsfreier viel zu breiter ausführung. bzw: Nichts, was im Unklaren verblieben wäre. schade eigentlich.

    raphaela edelbauer: das flüssige land. klett-cotta, stuttgart 2019. 350 s, 22€.

  • miku sophie kühmel – kintsugi

    miku sophie kühmel – kintsugi

    buch #2 der longlist zum deutschen buchpreis ist buch #1 der shortlist. um es vorweg zu sagen: kintsugi von miku sophie kühmel ist kein schlechtes buch. als debüt ist es von beachtlicher intensität und mit ungewöhnlichem personal bestückt für eine familiengeschichte. als möglicher „roman des jahres“ und bereits jürgen-ponto-preisträgerin 2019 erhält ein buch überproportionale aufmerksamkeit, das zwar gut, aber keineswegs herausragend ist. nur zum verständnis: dies ist keine anmerkung aus neid oder missgunst, dies ist viel mehr eine anmerkung zum literaturbegriff des deutschen literaturbetriebs. wie es beim buchpreis heißt:

    Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.

    es geht um aufmerksamkeit – also publikum – also verkaufszahlen, weshalb der preis von repräsentant*innen des betriebs vergeben wird, autor*innen, kritiker*innen, händler, möglichst breit angelegt, möglichst konsensfähig. literatur als sprachliches künstlerisches kritisches kontroverses medium – davon liest man auf der selbstbeschreibung des buchpreises nichts. die kritik ist nicht neu doch immer wieder notwendig: dem buchpreis geht es nicht um literatur sondern ausschließlich um das medium buch als träger belletristischer unterhaltung, es ist kein literaturpreis sondern ein verkäuflichkeitspreis, auch wenn er sich literarisch gebärdet.

    betrachtet man die begründung der shortlist, wird der publikumswirksame gegenwartsroman zum soziologischen projekt:

    Diese Altersstruktur rückt zwangsläufig Themen in den Vordergrund, die in der deutschen Literatur relativ neu sind: In allen nominierten Romanen gehe es „um den Ort der globalen Welt, von dem aus das eigene Dasein zu begreifen ist“, schreibt der Jury-Sprecher Jörg Magenau. Vor allem die Identität des Mannes sei problematisch geworden. Vielleicht habe der Generationswechsel damit zu tun, „dass die Jüngeren bei diesen Themen schärfer hinschauen“, so Magenau. In der Zusammensetzung der Liste wird außerdem die Ambition erkennbar, die literarische Landschaft in Deutschland in ihrer Gesamtheit abzubilden.

    es sind ausschließlich inhaltliche kriterien, identität, globale herkunft, ein querschnitt durch die land-/gesellschaft. nur in diesem kontext erhält „kintsugi“ kontur, kann „kintsugi“ von größerem interesse sein : als baustein einer nach soziologischen gesichtspunkten, rein inhaltlich ausgerichteten literaturwahrnehmung – eine extreme beschneidung der chancen und risiken und möglichkeiten von literatur.

    denn so funktionieren jurys derzeit. anstelle etwas auszusuchen, das manche lieben und andere verachten, ignorieren, nicht einverstanden sind, werden eher langweilige, konsensfähige sachen prämiert, denn damit macht man nichts falsch bzw eigentlich alles. zugespitzt: literatur (hier: metynomie für genreferne belletristische prosa in romangestalt) prämiert seine markttauglichkeit. ausnahmen wie frank witzel bestätigen wie immer etc.

    lässt man die buchpreis-begründung einmal beiseite, bleibt mit „kintsugi“ eine familien-/liebesgeschichte mit ungewöhnlichem personal (das schwule pärchen max und reik, die coming-out-liebe tonio und dessen 20jährige tochter pega), angesiedelt in der eher exklusiven akademischen welt, max architektur-professor mit tee-/japan-fimmel, reik erfolgreicher künstler, tonio freiwilliger barpianist, pega psychologie-studentin. und eigentlich geht es doch „nur“ um die liebe und beziehungen, trennungen, vertrauen, misstrauen, sex und was der gekitteten beziehungsbrüche (daher der romantitel) mehr sind. das haus am uckermärkischen see, in dem der roman ausschließlich spielt, wird nur in übermäßig ausführlichen rückblicken und zu kleinen spaziergängen verlassen – es ist ein kammerspiel im stil edward albees „wer hat angst vor virginia wolf?“, und vermutlich wäre es als theatertext auch interessanter da deutlich stringenter.

    so wird die geschichte in ihrer lückenlosen, raumgreifenden, raumverdeckenden und adjektivüberladenen sprache eher erstickt als freigesetzt: er ist schlicht ziemlich langweilig. der japanische überbau, von max in die geschichte getragen, mit titel, kapitelüberschriften, immer mal wieder zerbrechenden und geklebten teeservices ist ein überdeutliches breittreten einer vllt charmanten wenn auch auch nicht exklusiven metapher. es wäre um einiges interessanter, wenn max seinen japanfimmel nicht durch tatsächliche reisen sondern eher im stile eines karl may erfindend sich angeeignet hätte, so als wäre ihm zerbrochenes ikea-geschirr für seinen midlife-crisis-breakup nicht aussagekräftig elegant genug, als bräuchte er unbedingt exklusives original japan-prozellan zur einsicht. doch so verwegen ist „kintsugi“ nicht, die figuren meinen es leider ziemlich ernst mit sich. und weisen dabei kein bisschen über sich hinaus, es gibt keinen relevanten politischen, sozialen, gesellschaftlichen kontext im buch, es ist eine viel zu ausführliche kleine liebesgeschichte.

    das kann man lieben oder nicht – als möglicher roman des jahres ist es eine enorme überladung eines guten, doch keineswegs herausragenden romans. für die autorin ist es selbstredend fantastisch, wer wünschte seinen arbeiten nicht ebensolchen (besonders finanziellen) erfolg?

    doch sind deutlich bessere, engagiertere, literarischere, kontoversere texte auf der longlist verblieben. man sollte den preis definitiv in erster linie als prämierung einer konsensfähigkeit des lesepublikums verstehen, nicht aber als qualitätskriterium. was äußerst schade ist.

    miku sophie kühmel: kintsugi. roman. s.fischer, frankfurt a.m. 2019. 298s, 21€.

  • ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    ulrich woelk – der sommer meiner mutter

    buch #1 der long list zum deutschen buchpreis 2019 – und es ist eins das viel richtig machen möchte und dennoch bieder bleibt und damit ein äquivalent zum deutschen sonntags-tv-krimi darstellt. auch da ist schon in den ersten sekunden eine leiche und dann werden die hintergründe stück für stück enthüllt zwischen holzgeschnittenen figuren, politischen hintergrundfassaden und sehr viel allzumenschlichem und zum schluss gibts einen plottwist, der dann letztlich so überraschend schon nicht mehr ist und sowieso nur funktioniert, wenn man ihn nicht spoilert und den film nur einmal sieht bzw den roman nicht erneut liest.

    in ulrich woelks der sommer meiner mutter ist der 10jährige tobias im jahr 1969 von der bevorstehenden mondlandung fasziniert, die selbstverständlichkeiten der wirtschaftswunderspießigkeit prägen sein kölner vorortleben, das in ähnlich grauen tönen daherkommt wie das schwarzweißfernsehen und die mondoberfläche. der vater ist konservativer ingenieur, die mutter folgsame hausfrau ( sich nur dem sex verweigernd ) und der onkel war einst erfolgreicher nazikampfpilot und ist jetzt farb-tv-besitzer da zum erfolgreichen bauunternehmer aufgestiegen. tobias, dessen 50 jahre älteres ich diesen roman als bericht schreibt, steht veränderungen ängstlich entgegen und wird sich später auch mit den worten gegen seine mutter wenden, dass sie alles zerstört habe.

    in diese übersichtliche welt zieht eine kommunistische nachbarsfamilie mit weltläufigkeitsgeruch und alle drei leinhards vater mutter und tochter rosa werden in so grellen farben geschildert dass die konservativen rheinländer von den linkspolitisierten paradiesvögeln nicht mehr lassen können. was anfänglich nach clash of political cultures aussieht sich dann aber gebärdet wie eine folge frauentausch mit hang zum polittrash führt letztlich zum ersten sex von tobias und zur tragischen auflösung der familien, denn tobias mutter bringt sich um – die leiche von sekunde eins -, nachdem sie mit rosas mutter ihr coming out erlebte, tobias das unfreiwillig entdeckte und der vater seine „unnatürliche“ frau verließ – der plottwist. die höhepunkte des buches – rosa-tobias-sex, lesbischer sex, mondlandung = interstellarer tv-sex – hat woelk in eine nacht hineinkomponiert der dramatik wegen. beide schwer betrogenen männer schieben daraufhin ihre frauen ab, diese sind zu keiner solidarität in der lage, da rosas mutter kurzerhand auch wegzieht und mehr erfahren wir nicht, schließlich wendet sich ein überforderter tobias auch noch gegen seine mutter und beschuldigt sie des hochverrats an seiner familie und flieht ebenfalls vor ihr.

    es sind die männer, die wie karikaturen wirken durch das gesamte buch, der altnazi-kapitalist und der universitäts-kommunist finden bei der sportschau ihre freundschaft, die antikriegsproteste als alberne tv-kulisse, die raumfahrtbegeisterung in ermangelung einer modelleisenbahn – das könnte ein evtl interessantes porträt einer zeit werden aber alles gerät zu allgemeiner lächerlichkeit und das zentrum des romans ist es, die rakete zum mond zu bekommen bzw tobias endlich zum ersten sex. rosa selbst als 12jährige feministin Ist dir schon mal aufgefallen, dass in allen Geschichten die Helden immer Männer sind? Und was wenn Jesus eine Frau war? wirkt in diesem nach das kleine fernsehspiel anmutendem setting noch ein bisschen deplazierter als es diese ganzen summer of love requisiten jeans the doors make love not war zudem tun. komischerweise raucht keiner auch nur eine klitzkleine friedenspfeife, das ist woelk irgendwie durchgerutscht.

    es sind diese bücher alternder autoren über westdeutsche adoleszenzerfahrungen, die mir außer einer gewissen kritischen nostalgie nicht viel sagen. das buch möchte menschen in den mittelpunkt stellen und ist vorrangig technikfixiert mit (kinder-)erotischer komponente, schließlich ist woelk studierter astrophysiker und seine sprache ist entsprechend mehr berichtsprosa als sprachsuchend. der naive tobias hat zudem ständig angst, dass ihn die meilen überlegene rosa nur als kleinen nerdigen jungen anschaut, und er hat allen grund zu dieser annahme, denn tobias ist ein kleiner nerdiger junge und wird später als astrophysiker uns alles zur raumsonde rosetta erzählen was man wissen sollte oder auch nicht. die tragödie der mutter und seine eigene beschuldigung mit schlechtem gewissen hat er dabei offenbar bestens weggesteckt, wird so schlimm dann wohl nicht gewesen sein.

    es sind die themen sex / erotik / tod und technik / gesellschaft / politik und gender / feminismus / sexuelle selbstbestimmung die im sommer meiner mutter verhandelt werden auf eine sehr puppenspielhafte bis unverständliche weise, die „initiation“ des jungen tobias und wieder ein männlicher held ist dabei vollkommen unnötig :

    was eigentlich treibt autoren dazu ausführlich sexuelle handlungen zwischen kindern zu beschreiben ??

    denn es ist wesentlich bedeutsamer dass er vom coming out seiner mutter ihrer liebe zur nachbarin und dem enormen druck den sie die gesamte ehe über ausgehalten hat und dass sie schließlich unter der zurückweisung von ihrer familie als bestrafung zusammenbricht dass er von seiner mutter nicht nur so gut wie nichts wusste sondern auch seinen eigenen anteil an ihrer demütigung nicht wahrnahm – doch dieser frage stellt sich der roman nicht und es ist letztlich unklar, was diesen recht knappen mäßig unterhaltsamen bis störenden mäßig gelungenen roman auf die long list gehoben hat vielleicht hat ihn irgendeine erotisierte raumsonde günstig fallenlassen – egal, unwichtig, abspann.

    ulrich woelk: der sommer meiner mutter. roman. c h beck, münchen 2019. 189 seiten, 19,95€.