Kategorie: art

dies ist kunst

  • zum schluss, bevor etwas neues folgt

    a&v habe ich aus vielen gründen in den vergangenen monaten wenig gepflegt, die reihe zum koreanischen kino ist unvollendet, oft genug fehlte die zeit, die einzelnen filme zu besprechen, zumal insbesondere das koreanische kino und alles was mit koreanischer kultur in verbindung gebracht wurde und wird, in den vergangenen jahren einen enormen boom erfuhr, mit dem höhepunkt von parasite als bestem film. die innovationskraft des koreanischen kinos hat sich inzwischen allerdings offenbar erschöpft, die serie squid game war zwar extrem erfolgreich aber inhaltlich dürftig, vieles ist durchschnittlich und ohne aufwand auch hiesigen sehgewohnheiten zugänglich, filme wie park chan-wooks in cannes ausgezeichneter die frau im nebel sind ausnahmen geworden in einer überfülle an genreware.

    für alle, die das koreanische kino der vergangenen 30 jahre kennenlernen möchten, sind die folgenden filme als orientierung gedacht, eine art best-of:

    vom wahrscheinlich besten regisseur park chan-wook: zu seinen stärksten filmen gehören zweifellos OldboyLady VengeanceDie TaschendiebinJSA.

    der bekannteste regisseur ist wohl bong joon-ho, dessen eigenständiger stil seine filme unverwechselbar macht: seine drei besten filme sind MotherMemories of Murder Parasite.

    in europa weitgehend unbekannt sind die außergewöhnlichen filme von lee chang-dong, dessen ruhiges und tiefgründiges kino leider hierzulande kaum erhältlich ist: am bekanntesten ist zweifellos der faszinierende Burning, aber auch Poetry und Secret Sunshine sind absolut herausragend.

    deutlich bekannter ist das kompromisslose und radikale kino des 2020 verstorbenen kim ki-duk, vor allem in den 2000er jahren waren filme von ihm auch in europa populär und wurden häufig sehr einseitig rezipiert. nach dem radikalen moebius wurden seine letzten filme hierzulande nicht mehr veröffentlicht. unbedingt sehenswert wegen ihrer klaren und ebenso wiedersprüchlichen erzählweise sind: The Isle SamariaPieta.

    ähnlich kompromisslos und eigenständig ist das scheinbar undramatische, doch klug komponierte kino von hong sang-soo: faszinierend ist die doppelte erzählung in Right Now Wrong Then oder der unaufgeregt kluge Eine Kinogeschichte.

    liebhaber des genre-kinos kommen mit na hong-jins düsterem und wenig optimistischem The Chaser auf ihre kosten.

    beliebt, doch in meinen augen überbewertet sind die filme von kim jee-woon, der sich an verschiedenen genres ausprobiert hat und vor allem action inszeniert. sehenswert sind der mystery-film A Tale of two Sisters und der pessimistische mafia-film Bittersweet Life.

    und als abschluss zwei filme des in korea jungen zombie-genres: yeon sang-ho hat mit Train to Busan und Seoul Station von 2016 sowohl einen realfilm als auch einen sehenswerten anime zum thema beigetragen.

    auch andere kinoregionen asiens sollte man immer wieder im blick behalten. da ist natürlich der unendliche chinesische markt, dessen filmindustrie sich mit sehr wenigen ausnahmen – jia zhangke! – dem parteipolitischen diktat zu beugen hat und bevorzugt propagandistisches und überwältigendes kino hervorbringt. seine faszinierende eigenständigkeit hatte natürlich ebenso das kino aus hong kong, berühmt geworden insbesondere durch die filme von wong kar-wei. und natürlich nicht zu vergessen das traditionsreiche japanische kino, das ohne akiro kurosawa nicht vorstellbar ist, aber ebenso auch nicht ohne kenji mizoguchi und dem wichtigen, doch weniger bekannten yasujiro ozu.

    doch auch das kleine kino-land thailand hat außergewöhnliches kino anzubieten, vor allem die eigenwilligen und faszinierenden filme von apichatpong weerasethakul und die nur auf den ersten blick zugänglicheren filme von pen-ek ratanaruang sind absolut lohnenswert. kino, das unbedingt entdeckt werden will.


    und so endet an dieser stelle der cineastische blick nach asien. ich werde mich nun verstärkt auf europa konzentrieren, auf die literatur dieses kontinents, auf sein kino und seine musik. denn trotz EU und europäischer integration und unproblematischer reisemöglichkeiten ist die künstlerische wahrnehmung und begegnung jenseits von festivals sehr überschaubar. musik aus den europäischen ländern jenseits eines eurovision song contests, bei dem es vorrangig um buntlautes spektakel geht, ist kaum zugänglich, das kontinentale kino kaum bekannt, ähnlich sieht es in der literatur aus. ich werde also diese seite hier weiterentwickeln um aufmerksamkeit zu schaffen für die in europa existierende kunst, die auch journalistisch kaum bis gar nicht abgebildet wird. ob es weiter unter dem titel „art & vinegar“ laufen wird, habe ich noch nicht entschieden. doch bis dahin:

    bleibt neugierig!

  • der frieden und sein preis

    der frieden und sein preis

    nachbetrachtung zur diskussion um die vergabe des friedenspreises des deutschen buchhandels an serhij zhadan

    mitten im krieg einen friedenspreis zu vergeben, und nicht während „irgendeines“ krieges sondern eines dessen nachbeben aller russischen bomben- und granateneinschläge weltweit zu spüren sind, zeugt von einem im moment weltfremd erscheinenden doch hoffnungsvollen bis romantischem wissen, dass jeder krieg endet, dass die gegner des krieges auch und insbesondere auf seiten der kriegsparteien ( der kriegserfüllten wie der unfreiwillig gewordenen ) lauter sein müssen als die tödlichen einschläge

    zhadan ist dafür kritisiert worden, dass er in seiner jüngsten deutschen veröffentlichung der himmel über charkiw. nachrichten vom überleben im krieg von den russischen angreifern 1x als „tiere“ und gar 2x im text als „unrat“ spricht . das buch ist eine kompilation von facebook-posts zhadans während der kriegsereignisse, schnelle kurze gedanken, ein online-tagebuch, nicht unähnlich wenngleich deutlich expliziter als das buch von julia solska . die „unrat“-stellen sind dabei semantisch nicht eindeutig, ob es die soldaten meint oder nicht doch die vielen zerstörten und liegengebliebenen panzer und fahrzeuge, die eben nichts als unrat = müll abfall sind, oder letztlich alles zusammen:

    6. März 17:41 […] Man wünscht sich, [die Stadt Charkiw] so rasch wie möglich wiederaufzubauen, nachdem wir diesen Unrat, der aus dem Osten über uns hergefallen ist, zurück über die Grenze und ins Nichts geworfen haben.

    die zweite stelle ist ähnlich offen:

    16. Juni 20:41 […] Mehr als alles in der Welt wünscht man sich, dass dieser ganze nördliche Unrat über die Grenze verschwindet und alle Menschen guten Willens wieder die Möglichkeit bekommen, ihrer natürliche Beschäftigung nachzugehen.

    die „tiere“-stelle hingegen ist eindeutig – jedoch handelt es sich nicht um zhadans eigenen text, sondern um einen repost eines freundes, der den Tod eines anderen Freundes betrauert:

    Repost von Wasyl Rjabko 16. März 12:55 […] Heute hat ihn die russische Welt getötet. Die russischen Tiere, die gekommen sind, um uns zu befreien.

    mehr stellen fördert eine textsuche des ebooks von der himmel über charkiw zu den einträgen „tiere“ und „unrat“ nicht zutage – ein repost und zwei seltsam uneindeutige stellen ( aus dem osten oder aus dem norden? ) sind nicht viel für eine so lautstark vorgetragene kritik, die zhadan selbst „barbarische wortwahl“ vorwirft, die begriffe „barbaren“, „horde“, „verbrecher“ für die russländischen soldaten stünden ja auch noch im text, ja darf das denn literatur sein. und die rachefantasie „brennt in der hölle ihr schweine!“, wie sie jutta ditfurth zhadan vorwirft, wobei ditfurth auch hier den märz-repost für zhadans eigene worte hält: nein, das ist der wütende text von wasyl, der seinen besten freund verloren hat, und natürlich gehört das mit ins buch, weil der krieg nichts anderes kann und schafft als zerstörung, überall. doch für genaue lektüre ist keine zeit, man liebt hierzulande seine werteorientierte haltung, seine moralische klarheit und überlegenheit, auch im betrachten eines krieges noch den verwundeten zu sagen, sei ruhig und klage an aber sei nicht wütend und differenziere bitte. bzw in gestalt von harald welzer eine zu große empathie gegenüber zhadan, wenn der in seiner dankesrede sich kritisch über deutsche intellektuelle briefeschreiber ausließ und welzer dann nachher der applaus zu lang war, was er in der formulierung gesinnungsethische überanstrengung zusammenzufassen meinte doch eigentlich ausdrückte, dass er zhadan und sein publikum irgendwie doof fand. es ist eine hübsche empörung gewesen, die sich da durchs deutsche feuilleton getragen hat: einem autor, dessen sämtliche literarische arbeiten getragen sind von einer enormen beobachtungsgabe und größtem verständnis und humanität, der seit 2014 über den russischen angriffskrieg schreibt und weitsichtige kluge doch von all den empörten kaum rezipierte texte publiziert hat, romane, gedichte, tagebücher – warum ich nicht im netz bin, mesopotamien, internat, antenne – und noch im april 2022 in der zeitschrift theater heute sein jüngstes theaterstück lieder von vertreibung und nimmerwiederkehr abgedruckt und im mai in münchen in deutschland erstmals aufgeführt wurde, in all diesen arbeiten ist stets von den verheerungen des krieges und von den diesen krieg erfahren müssenden menschen die rede, verachtung für den krieg und seine zerstörungswut, seine entmenschlichung. aber natürlich ist es einfach, sich darüber zu empören, dass ein autor, der sich unfreiwillig im krieg befindet und tagtäglich den zerstörungen und dem sterben ausgesetzt ist, in seinen fast täglichen notizen auch hochgradig emotional werden kann und sich nicht auch um die menschen unter den uniformen besorgt zeigt, die sein land überfallen, ob die denn alle wussten was sie taten oder ob sie selbst missbraucht und geopfert werden, nur kann das den ukrainer*innen herzlichst egal sein, und sie alle wissen sehr wohl was von höchster russischer stelle aus immer und immer wieder wiederholt wurde und wird und wie lange sie insbesondere in den westen hinein gewarnt haben und der eu-nato-westen dennoch seine russlandgeschäfte betrieb und bis heute nicht zu wenige glauben, man muss nur verhandeln und putins leuten gut zureden – ach es ist ein jämmerliches herumjammern hierzulande dass der friedenspreisträger nicht stets über den frieden und wie man dahingelangen könnte redet, sondern über die menschen im krieg und wie erschöpft wütend überanstrengt hilfsbereit wach und müde er ist ohne zu wissen wann das endet und ob er dann selbst noch da sein wird – ein dokument der tapferkeit wurde das tagebuch genannt, durchhalten, hoffnung finden, trotz allem, und so kann man es auch einfach rezipieren, als dokument aus einem krieg, aus dem krieg des 21. jahrhunderts, an dessen ende eine vollständig andere welt stehen wird und dessen nachwirken sehr tiefgreifend sein wird, auch wenn die russische politische mafiaelite noch lange nicht zusammenbricht, ebensowenig wie das iraner regime, das diesen krieg mit seinen drohnen massiv befeuert und auf gleiche weise wie auch belarus involviert ist: ein krieg der sich sehr lange ziehen oder mit einem möglichen iranischen regimezusammenbruch sehr schnell vorbei sein kann – es ist immer romantisch, im krieg dem frieden einen preis zu widmen, auch und gerade dann wenn die den frieden herbeiflehenden stimmen derart gehetzt und bedroht sind, wie die von zhadan, aber auch die der träger*innen des friedensnobelpreises 2022 memorial, center for civil liberties und ales bialiatski.

  • julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska – als ich im krieg erwachte

    julia solska ist eine von vielen millionen europäerinnen in der ukraine, sie hat in deutschland studiert, in düsseldorf gearbeitet, kehrte in die ukraine nach kiew zurück – im buch wird die lange zeit im deutschen übliche schreibweise verwendet – und wurde wie das gesamte land vom angriffskrieg russlands am morgen des 24. februar 2022 überrascht. ihre erfahrungen, gedanken, gefühle in den tagen sowohl vor als vor allem auch nach der russischen invasion auf ihrer flucht aus kiew durch das land vor dem krieg, dem tod, dem horror, hat sie als tagebuch und in deutschland veröffentlichen können. es ist ein beeindruckendes zeitdokument über die ukraine und ihre mutige bevölkerung in den ersten kriegstagen, und eine wichtige mahnung an alle europäer*innen, sich nicht an diesen russländischen eroberungs- und zerstörungskrieg zu gewöhnen.

    julia solska ist in einem kleinen dorf nördlich von kiew aufgewachsen, in michajliwka-rubeschiwka, wo ihre eltern leben. das dorf ist eine nachbargemeinde der durch die massaker der russischen armee international bekannt gewordenenen orte butscha und irpin, die eltern wollen anfangs das dorf nicht verlassen, erst als russische panzer im ort stehen und die soldaten mit den plünderungen und wahllosen zerstörungen begonnen haben, entschließen sie sich zu einer lebensgefährlichen flucht. julia ist da bereits weit weg und erfährt erst im nachhinein von ihrer rettung. der kontakt mit der familie ist schwierig, da es oft keinen strom zum aufladen der handyakkus gibt, die schwester ist mit ihrer familie in die eine richtung geflohen, julia mit ihrem freund anton nach einem kurzbesuch bei den eltern in den süden von kiew, von dort über zwischenstationen gen westen nach lwiw, nach 14 tagen und einem extremen fußmarsch ist sie schließlich in polen, von wo sie per zufall ein auto nach deutschland mitnimmt. sie lässt ihren freund und viele bekannte ebenso wie ihren kater fran in der ukraine zurück, im unwissen wer die russische aggression überleben wird, doch entschlossen dass putin diesen krieg nicht gewinnen wird:

    ich habe große sorge, dass der westen „kriegsmüde“ wird. die welt hat putin diesen krieg erlaubt. nun sollte sie sich wenigstens nicht an ihn gewöhnen. ich flehe die menschheit an, mein land weiter zu unterstützen, auch mit waffen. jeder, der sagt, gebt russland die krim und was es sonst noch haben will, dann ist frieden, dann haben wir unsere ruhe und müssen uns keine fotos mehr von toten und zerbombten städten ansehen, hat noch nicht verstanden, dass putin nie aufhören wird, bis er die ukraine vollständig erobert hat. danach ist das baltikum dran.

    so schließen julias aufzeichnungen am tag 97 der invasion, 31.mai, ein nachtrag aus deutschland zu den ersten einträgen. es ist ein appell, wie er von serhij zhadan und vielen anderen in der ukraine regelmäßig gegen dürftige bis eitle und selbstgerechte deutsche offene briefe publiziert werden: der krieg hört nicht auf, wenn die ukraine sich nicht mehr verteidigt, der krieg hört erst auf, wenn putin nicht mehr schießen lässt, und das macht er nicht von sich aus, im gegenteil, er möchte die ukraine vernichten. übrigens sagt putin das genau so immer wieder selbst, man sollte ihm einfach mal zuhören statt zu glauben, man könne mit dieser russischen führung verhandeln.

    das lesen ihres tagebuchs führt mehrere dinge vor augen: als erstes und wichtigstes zeigt es die enorme solidarität der menschen untereinander, die auf den irrsinn des krieges mit größter hilfsbereitschaft reagieren, auch nur entfernte freunde oder bekannte von bekannten stellen ihren wohnraum, und sei er noch so klein, zur verfügung, man sorgt sich gegenseitig umeinander und schützt sich miteinander vor dem krieg, die selbstverständlichkeit der fürsorge um die millionen vor dem krieg fliehenden menschen ist ebenso beeindruckend wie auch die fürsorge um die überall anwesenden tiere, seien es katzen, hunde oder eichhörnchen im park. gleichzeitig ruft es die erinnerung an die ersten kriegstage wieder wach, die riesige angst was dort passiert, wohin das führt, welcher wahnsinn in der ukraine losgetreten wurde, mein telefonat am nachmittag mit meinen fassungslosen eltern, die stets geglaubt hatten dass putin nur falsch verstanden wurde, so wie sehr viele in diesem land, zum teil bis heute….. und diese tage sind keine 5 monate her, der krieg ist keine 5 monate alt, ein säugling ist er noch immer, dieses russische monstrum. mir will nicht in den kopf, dass es nicht wenige gibt, die das alles, was dort in der ukraine geschieht, was im tagebuch festgehalten ist, immer noch für lüge und westliche propaganda halten, ausgedacht von irgendwelchen ukrainischen faschisten oder sonstwelchen phantomen, dass es nicht wenige gibt, die ganz bewusst wegschauen und zynisch willfährig groteske gegenwahrheiten und alternative facts behaupten, wissend dass sie lügen und gigantischen dreck produzieren oder konsumieren, und ich begreife die motivation dahinter immer noch nicht, es lässt mich fassungslos zurück, mit großer wut, eine ehemalige kollegin von mir behauptete, dass butscha eine inszenierung sei, eine nachbarin ist weggezogen vor der westlichen propaganda – ausgerechnet ins baltikum, dort wird sie auch nicht glücklich werden….

    zweitens zeigt es sehr klar anhand eines gespräches mit einer frau, eigentlich einer freundin von julia, wie weit sich die ukraine von der russischen föderation mental entfernt hat, wie offen liebral und europäisch die ukrainische bevölkerung ist und wie unbegreiflich das in russland ist. selbst die menschen in ursprünglich russlandfreundlichen städten haben sich längst abgewandt und wollen nichts mit diesem russland zu tun haben. julia nimmt der russischen freundin ihre mutlosigkeit und unterwürfigkeit in den wenigen selbstmitleidigen sätzen übel, so dass sie die freundschaft schließlich beendet. sie leben in völlig anderen politischen realitäten, die in russland noch im sowjetischen verhaftet geblieben sind, während die ukraine sich erstmals 2004 und dann erneut 2014 deutlich davon lossagte, diese realitäten haben sich in die gedanken und handlungen der menschen als selbstverständlich eingeschrieben haben, die liberale julia steht ihrer von der vertikale der macht dominierten russischen freundin fassungslos gegenüber – und dies ist der mentale kern des krieges. die selbstverständlichkeit eines dominanten staates war und ist in russland überall absolut gegenwärtig und niemand stellte es in frage bzw diejenigen, die es taten, sind heute im exil, ermordet oder verhaftet. der russische mensch, so die unmissverständliche ansage putins an den damaligen oligarchen michail chodorkowski, darf nicht politisch sein (chodorkowski brach das gebot und landete im gefängnis und ist heute im exil), der russische mensch ist ein entpolitisiertes objekt in den händen eines nicht zu fassenden unverständlichen staates, russlands macht gegenüber seiner bevölkerung äußert sich in seiner bewussten rätselhaftigkeit, die nicht angst sondern vielmehr verachtung ist. die ukraine hat sich von dieser verachtung stück für stück emanzipiert, kunst und kultur sind im land lebendig, während in russland konservierender stillstand herrscht, eine als unveränderbare normalität begriffene unterwürfigkeit zu einem staat, der kein interesse an seiner bevölkerung hat. dieses kurze gespräch am zehnten tag der invasion verdeutlicht dies unmissverständlich, weshalb julia letztlich auch die gesamte russländische bevölkerung für diesen krieg verantwortlich macht, wenn sie sich nicht gegen den krieg im eigenen land zur wehr setzt. dass dies nicht geschehen wird, sollte nach 5 monaten krieg inzwischen verstanden worden sein. auch meine bekannten, mit denen ich in sibirien zusammenarbeitete und theater spielte, posten videos im zeichen des „z“ oder bezeichnen mich als „blind/geblendet“ von westlicher propaganda. wie sehr die russische von der ukrainischen welt entfernt ist, zeigt eindrucksvoll und bedrückend auch die dokumentation von andrej loschak.

    dieser krieg ist ein monstrum, jeder krieg. doch dieser krieg als völkerrechtswidriger angriff eines revisionistischen russlands gegen ein freies, souveränes land hinterlässt ungeheuerliche folgen, es ist ungeheuer wichtig, dass mit diesem tagebuch das fluchtdokument einer jungen, klugen, erschütterten, wütenden und liebevollen ukrainerin vorliegt und unmissverständlich zeigt, dass es nicht um unsere deutsche angst gehen kann, sondern um die europäische solidarität, dem angegriffenen land ukraine bei der verteidigung gegen einen rücksichtslosen und brutalen aggressor zu helfen, auf welchen wegen auch immer. möglichkeiten und bedarf gibt es jede menge.

    julia solska: als ich im krieg erwachte. tagebuch einer flucht aus der ukraine. edel books, 192 seiten.

  • kim ji-young, geboren 1982

    kim ji-young, geboren 1982

    2016 erschien der roman von cho nam-joo über eine typische koreanische frau der gegenwart, vielmehr über ihre selbstverständliche diskriminierung in allen lebenslagen und altersstufen. die rezeption des romans und 2019 auch des filmes führte zu heftigen diskussionen auseinandersetzungen debatten und noch wesentlich mehr anfeindungen beleidigungen attacken gegen alle frauen, die sich zum buch und zur verfilmung öffentlich in korea bekannten. es ist DAS aktuellste virulenteste drängendste soziale problem nicht nur in der koreanischen sondern weltweit allen gesellschaften, denn diese sind trotz einzelner regierungschefinnen nach wie vor in ihrem selbstverständnis misogyn.

    kim ji-young ist 33 jahre alt, lebt mit viel arbeitendem mann und einjähriger tochter in seoul und ist am ende angelangt. sie verhält sich seltsam und ungewöhnlich, ihr mann rät zu einer therapie und der therapeut, mit dessen abschlussbericht der roman endet, vermutet postnatale depression, nichts besonderes. und in der tat sind alle ereignisse, die vorher geschildert werden, die geburt für die sich die mutter dem vater gegenüber entschuldigt da es wieder nur ein mädchen ist, das werdende dritte kind gar deshalb abtreiben lässt, die verhätschelung des dann endlich gekommenen sohnes, die benachteiligung in der schule, die endlosen absagen bei der jobsuche, die schlechterstellung bei der arbeit, gender-pay-gap, jobaufgabe bei schwangerschaft – es ist alles eben nichts besonderes. und genau darin besteht das skandalon: wie selbstverständlich und normal sexismus diskriminierung gewalt in allen momenten des lebens von koreanischen frauen sind. der roman in seiner gesamten gestalt, inhaltlich und formal, erzählt von der absoluten normalität des misogynen in konservativen patriarchalen gesellschaften: die hauptfigur trägt einen allerweltsnamen, die sprache ist bewusst reduziert und als bericht geschrieben, soziologische daten zur ungleichheit von frauen gegenüber männern sind in den text eingefügt als sei kims leben eben auch nur der mittelwert soziologischer studien und erkenntnisse: individuelle eigenschaften werden ihr im roman sehr oft und von allen seiten immer wieder abgesprochen bzw vorgeworfen, sei nicht so, mach nicht dies, verhalte dich anders etc. ihre eigene persönlichkeit wird im laufe des lebens so stark defomiert und zugerichtet, dass sie am ende nur noch sätze und tonlagen derer wiedergibt, die sie gemaßregelt haben.

    die perfektion der deformierung der frau zeigt sich auch an kims schwiegermutter, die ihr gegenüber offen feindselig auftritt, kim beleidigt und zurechtweist, während ihr mann mit ihr liebevoll umgeht, sich allerdings auch nicht für seine frau einsetzt und aus gründen der normalität auf kinder drängt, wissend ihre berufliche karriere damit irreparabel zu zerstören. kim versucht dabei stets alles richtig zu machen und begehrt zu keinem zeitpunkt auf oder wehrt sich gar, da sie die systematische unterdrückung vollkommen internalisiert hat. die sexistische fragestellung an die drei bewerberinnen während des einstellungsgespräches ist nur eines von zahlreichen beispielen, wie exakt choo nam-joo die internalisierung und perfidie darzustellen versteht: auf die frage, wie die frauen auf sexuelle belästigung am arbeitsplatz reagierten, antwortet kim, sie würde versuchen solche situationen künftig zu meiden. die zweite bewerberin würde offen protestieren während die dritte sich selbst dafür verantwortlich macht – am ende stellt sich heraus, dass keine bewerberin die stelle erhalten hat, dass es also egal ist wie sie reagieren: es ist stets falsch. kim selbst empört sich innerlich, doch spricht sie nichts davon aus. die perfidie des patriarchalen liegt darin, die frauen verstummen zu lassen und sie zu vereinzeln: es ist ihr problem, sie ist krank, sie muss behandelt werden. doch der gesamte roman in genau dieser art der beschreibung zeigt: die frau hat kein individualpsychologisches, sondern ein sozialpolitisches problem.

    cho nam-joos roman über die durchschnittsfrau koreas, in dem sie auch ihre eigene lebens- und arbeitssituation mit beschrieb – sie arbeitete als drehbuchautorin im fernsehen und musste aufgrund ihrer schwangerschaft kündigen -, erschien 2016 in korea nach einem mord an einer jungen frau im exponierten seouler stadtteil gangnam, viele frauen solidarisierten sich mit der aus reinem frauenhass getöteten: You died because you are a woman. The rest of us survived only because we were lucky. noch bevor in den usa und europa #metoo die selbstverständlichkeit misogynen und sexuell übergriffigen verhaltens offenlegte, entstand nach dem erscheinen von kim ji-young, geboren 1982 eine frauenbewegung in korea, die den weit verbreiteten sexismus in kultur und gesellschaft anprangerte und deren protagonistinnen heftig angefeindet und bedroht wurden. aus der vehementen ablehnung von feminismus und gleichstellung entstand sogar eine parodie auf choo nam-joos roman, der über diskriminierung von männern faselte.

    auch die 2019 erschienene verfilmung des buches führte zu erneuten „spannungen„, so etwa einen üblen shitstorm gegen die hauptdarstellerin jeong yu-mi, einer petition an den präsidenten den film nicht zu veröffentlichen und haufenweise aufrufen im internet dem film vorab bereits miserable kritiken auszustellen. dabei stellen buch und film sehr genau dar, wie ausweglos der von allen teilen der gesellschaft mitgetragene lebensentwurf für frauen aussieht und wie vehement dieser lebensentwurf eingefordert wird: hausfrau und mutter zu sein, sei für die frau das lebensziel mit nationaler verantwortung. wo den söhnen und männern alle erdenklichen freiheiten und privilegien zugestanden und eingeräumt werden, werden die frauen als rabenmütter disqualifiziert, wenn ihnen in der öffentlichkeit ein missgeschick mit einem kaffeebecher passiert.

    die verfilmung ist der erste film der schauspielerin kim do-young und schiebt den fokus , anders als das buch, im wesentlichen auf die gesellschaftliche kernzelle familie. so bleibt die haupterzählung im film in der gegenwart der 33jährigen kim und konzentriert sich auf ihre begegnungen mit ihrer familie bzw der ihres mannes. sämtliche diskriminierenden muster und verhaltensweisen, insbesondere die internalisierung der diskriminierung als selbstverständlich, so formuliert die verfilmung, werden in der familie erlernt und tradiert, in der schwiegerfamilie bestätigt und bestärkt. das familiäre system aus respekt den älteren generationen gegenüber und der klaren rollenverteilung von männern und frauen scheint für die frauen im wesentlichen auf unterwürfigkeit zu beruhen. in kurzen rückblenden erzählt der film episoden aus kims leben, vorrangig ihrem arbeitsleben, und spart so unter anderem die schule als ort der erniedrigung von mädchen vollständig aus. leider gelingt es dem film nicht so gut, die beklemmung kims sicht- und spürbar zu machen, die musik, farbgebung und bildkompositionen sind eher an gewöhnlichen fernsehfilmen geschult, denen ästhetisch gelungene aufnahmen wichtiger sind als die filmische bildsprache, und dies wird auch nicht als bewusst gewähltes formprinzip deutlich, sondern zeichnet die figuren zu oft einfach nur in warmen weichen licht. auch die von der regisseurin vorgenommene änderung vom psychiater zu einer psychiaterin, um dem publikum eine etwas positivere perspektive zu geben als das resignierende buchende, weicht die trockene, genaue, sezierende analyse des buches auf, dämmt die wucht der feministischen aussagekraft. so wird aus der kühl aufbereiteten aber zornigen schilderung der erdrückenden gegenwart das gedämpfte portrait einer aufgrund unerfüllbarer erwartungshaltungen von familie und arbeit der despression verfallenen frau, das unbedingt ein happy end erzählen möchte.

    cho nam-joo: kim ji-young, geboren 1982. roman. kiwi 2021. 208s, 18€.

    audiobook: gelesen von nele rosetz und felix von manteuffel. argon verlag 2021. 4h45min, 19,95€/15,95€.

    kim do-young: kim ji-young, geboren 1982. südkorea 2019. 119min.

  • walter salles – jia zhangke, a guy from fenyang

    walter salles – jia zhangke, a guy from fenyang

    in diesem dokumentarfilm treffen zwei regisseure aufeinander, deren namen hierzulande wohl nur cineasten kennen, die jedoch zu den wichtigsten und einflussreichsten regisseuren im gegenwärtigen kino zählen. der brasilianer walter salles, der neben eigenen filmen wie seinem bekannten central do brasil, der jack kerouac-verfilmung on the road oder der reise des jungen che auch das drehbuch zum biopic frieda mit selma hayek schrieb oder den herausragenden film city of god über bandenkriminalität in rio produzierte, portraitiert in a guy from fenyang den chinesischen independent-regisseur jia zhangke, in dessen filmen sich die komplexe, widersprüchliche entwicklung chinas in den vergangenen 20 jahren abgebildet findet.

    salles‘ dokumentation begleitet jia zhangke bei gesprächen mit freunden, familienmitgliedern, schauspielern seiner filme in seiner heimatstadt fenyang in der nordchinesischen provinz shanxi. aus den erzählungen und berichten über die filmischen arbeiten jias, die mit vielen ausschnitten der filme begleitet werden, entsteht so ein einblick in den werdegang und die sozialkritische arbeitsweise jias. wie in einer zeitreise kontrastieren die frühen filme das gegenwärtige fenyang und bezeugen die wirtschaftlichen, architektonischen und sozialen veränderungen. so bekräftigt walter salles‘ film das anliegen jia zhangkes, den wandel und die damit einhergehenden brüche chinas in seinen filmen einzufangen im moment der transformation. zudem belegt er die komplizierte situation unabhängiger filmemacher in china, die sich immer wieder mit zensur konfrontiert sehen. der film endet mit dem aufführungsverbot von a touch of sin, einem episodenfilm mit radikaler kritik an chinas real existierendem gewalttätigen kapitalismus.

    die stärke dieses leisen, reichen filmes, der jias entwicklung von seinem ersten film pickpocket, über platform, welt park, still life bis zu a touch of sin zeigt, liegt in der großen nahbarkeit der im film portraitierten persönlichkeiten, die unverstellt offene einblicke in ihr leben und die arbeit geben. das fehlen jeglicher allüren oder dem streben nach einem bestimmten image ist auch ein kennzeichen der filme jias, die selbst immer wieder dokumentarischen charakter haben, am eindrücklichsten wohl in still life, der 2006 in venedig den goldenen löwen gewann. im gegensatz zur chinesischen realität haben jia zhangke und die von ihm regelmäßig wiederbesetzten schauspieler*innen – allen voran die großartige zhao tao – nichts zu verbergen und zu verdecken durch künstlichkeit und bedeutungsvollem reden. eben diese nahbarkeit und unverstelltheit ist das, was jias filme offenbar auch für die zensurbehörde in china verdächtig macht. doch die verbannten filme tauchen als schwarzmarkt-kopien wieder auf und verbreiten sich umso mehr – es gehört zu den eindrücklichen momenten des films, wie jia auf der zugfahrt ( im fenster ist walter salles beim zuhören gespiegelt ) erst von der enttäuschung berichtet, dass sein film nicht gezeigt werden darf, um dann auf dem schwarzmarkt zu erkennen, dass die behörde gegen die verbreitung nichts ausrichten kann. einzig die große kränkung bleibt, statt in einem würdevollen kinosaal lediglich zu aufführungen in abrissreifen cafés eingeladen werden zu können.

    die dokumentation a guy from fenyang lief 2015 lediglich auf der berlinale und blieb in europa so gut wie unbeachtet, trotz der international bekannten namen, obwohl jia zhangkes filme regelmäßig auf festivals, insbesondere in cannes, zu sehen sind. jia zhangke gilt seit anfang der 2000er jahre als eine der wichtigsten stimmen im chinesischen kino abseits aller vereinnahmungen aus hollywood, seine fähigkeit, die wenig erheiternde realität in der provinz shanxi, aus der ein drittel der chinesischen kohle stammt, in so nüchterne wie beeindruckend traumhafte bilder und erzählungen zu übersetzen, verdient hierzulande wesentlich mehr aufmerksamkeit, denn wie der new yorker 2011 befand: Jia is simply one of the best and most important directors in the world.

    walter salles: jia zhangke, a guy from fenyang. brasilien 2014, 105min.

  • apichatpong weerasethakul – uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben

    apichatpong weerasethakul – uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben

    die zeit geht in enormem tempo ihrer täglich aufs neue unfassbaren ereignisse und katastrophen aus so ziemlich allen ecken dieses höchst kantigen planeten #moria #belarus #uiguren #jemen #sanfrancisco #etcetcetc die möglichkeiten zum innehalten nach dem grauenerfüllten blick auf das entsetzliche sind rar geworden scheints doch manchmal gelingts und es findet sich der weg in freie räume – so etwa in den außergewöhnlichen filmen des apichatpong weerasethakul : uncle boonmee ist ein film für den das kino einst erfunden wurde.

    kino in thailand ist so ziemlich die maximal vorstellbare antithese zu den überwältigungsfilmen hollywoods. ein land mit einer hochgradig komplexen geschichte, konstitutionelle monarchie, militärregierungen und antikommunistischen massakern aus furcht vor vietnamesischen, kambodschanischen oder laotischen (kommunistischen revolutions-)verhältnissen – in apichatpong weerasethakuls arbeiten finden sich zahlreiche echos auf die verwundungen der thailändischen gesellschaft in den jahrzehnten nach dem 2. weltkrieg, sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben ist dafür der eindrücklichste, faszinierendste beleg.

    uncle boonmee besitzt eine kleine farm für tamarinde und honig, auf der unter anderem geflüchtete aus den benachbarten laos arbeiten. er selbst ist schwer krank und ahnt, dass ihm nicht mehr viel zeit bleibt, also hat er sich zum sterben zurückgezogen, umgeben von seiner schwester jen und ihrem sohn tong, außerdem versorgt ihn ein weiterer illegaler flüchtling aus laos medizinisch, vor dem jen anfänglich einige ressentiments hat. beim abendessen bekommen sie besuch von boonmees vor 19 jahren verstorbener frau huay und ihrem sohn boonsong, der im dschungel verschollen war und nun in veränderter gestalt wieder auftaucht. boonmee hält seine krankheit für die strafe zur schuld, die er als mörder von kommunisten auf sich geladen hat, während jen ihn zu trösten versucht, er habe es mit den besten absichten zum schutz des volkes getan. huay jedoch muss ihn im bezug auf sein seelenheil im himmel enttäuschen, dieser existiere schlicht nicht. er zieht sich zum sterben in eine höhle zurück, nach der trauerfeier sind jen und eine freundin in einem hotel mit dem zählen von geldgeschenken beschäftigt, als tong eintritt und eine kurze pause von seinem neuen mönchsleben benötigt, an das er sich nach boonmees tod noch nicht gewöhnt hat.

    uncle boonmee ist in vieler hinsicht ein herausragender film. nicht allein, dass er der erste thailändische film ist, der mit der goldenen palme in cannes 2010 ausgezeichnet wurde und darüberhinaus weitere internationale preise gewann. es ist ein film über eine ganze reihe von themen, die beinah beiläufig und im bewussten verzicht auf hochglanz und kaschierungen erzählt werden, in einem sehr ruhigen tempo, mit durchaus dokumentarischem charakter: es geht um tod und vergebung, einsamkeit und schuld sowie reinkarnation als philosophisch-religiöse themen – herausragend die als erinnerungs-/traumsequenz eingefügte szene der gealtertern lebensmüden prinzessin, die sich in einem waldsee ertränkt und das große kostümtheater ostasiens zitiert wie verfremdet. vorangestellt ist dem film, der die gleichzeitigkeit von tanszendeten und realen wesen als etwas sehr alltägliches und ohne furcht beschreibt, als thema dieses motto:

    Im Angesicht des Dschungels, der Hügel und der Täler tauchen meine vergangenen Leben als Tier und als andere Wesen immer vor mir auf.

    die vergangenen, gegenwärtigen leben sind dabei ebenso spirituell wie konkret zu verstehen und keineswegs als gegensatz: es geht im film und den knappen gesprächen zwischen boonmee und jen bzw huay ebenso um politisch-historische verantwortung, um die selbstverständlichkeit des verschwindens von personen oder die anwesenheit von geistwesen ebenso wie um das kino als traumort selbst. dies alles ist in einem stil erzählt, den weerasethakul mit anderen filmen und installationen als primitive project zusammengefasst hat, darunter auch den 18minütigen kurzfilm a letter to uncle boonmee. die fülle der themen und cineastischen ausdrucksformen fügt uncle boonmee gänzlich unaufdringlich und absolut gleichberechtigt nebeneinander in seine erzählung, in der das erzähltempo suggeriert, als könne die figuren nichts erschüttern, doch die erschütterungen sind äußerst fantasievoll und gleichsam tragisch als auswirkungen in die figuren eingeschrieben, gleichsam als finale wellen von vergangenen beben, die sich in den figuren brechen und keineswegs zur ruhe kommen. so ist eine traumerzählung boonmees mit einer fotoserie junger militärs kontrastiert, die eine als affen verkleidete figur sowohl abführen als auch mit ihm posieren als ein scheinbar heiteres echo auf boonmees reale militärvergangenheit, oder die permanente anwesenheit von verschwundenen personen als ein gesellschaftlicher normalzustand, so auch der verschwundene sohn boonsong der einst in den dschungel ging und verloren blieb, da er auf fotos seiner kamera affengeister entdeckte und von diesen nun besessen war, so dass er unter ihnen leben wollte. er kehrt zurück als vollständig verwandelter. auch dies eine multiperspektivische episode sowohl vom verschwinden, das von den figuren nicht kommentiert wird, als auch vom kino selbst: die kamera als medium des wirklichkeitswandels ist selten schöner und unaufdringlicher erzählt worden – und ist zugleich einer der vielen persönlichen, autobiografischen verweise apichatpongs, der von sich sagte, er sei ins kino entkommen.

    obwohl uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben vor zehn jahren international sehr erfolgreich war, ist der film heute und auch sein regisseur, der zu den herausragenden filmemachern insbesondere des independentkinos und der thai new wave zählt, in deutschland so gut wie nicht bekannt. ganz anders im englischsprachigen raum, wo der film auch heute noch stark rezipiert wird und zu einem neuen kanon des kinos gezählt wird, der außergewöhnliche independent-filme zusammenfasst. hierzulande ist von apichatpong weerasethakul lediglich sein 2015 erschienener film cemetery of splendour über rapid eye movies erhältlich, wenigstens das. doch die vielgestalt und vieldimensionalität von uncle boonmee als kunstwerk sowohl des thailändischen als auch des internationalen kinos ist hierzulande deutlich zu wenig gewürdigt.

    apichatpong weerasethakul: uncle boonmee erinnert sich an seine früheren leben. thailand u.a. 2010. 113min.

  • park chan-wook – lady vengeance

    park chan-wook – lady vengeance

    mit dem abschlussfilm der rache-trilogie öffnet park chan-wook das koreanische kino in die moderne und zeigt einmal mehr, wie innovativ und kunstvoll das medium film sein kann. die figur der sich blutig rächenden frau wird gebrochen durch die motive der barmherzigkeit und weitet sich zu einer feministischen fabel über die möglichkeiten eines selbstbestimmten lebens für eine frau im modernen korea/in der westlichen welt. lady vengeance (2005) ist komplex erzählt und ebenso wie seine hauptfigur wünderschön und düster – und setzt damit den ton für spätere filme.

    der femizid ist in den 2000er jahren wiederholt thema in koreas kino, sei es in memories of murder, the chaser oder frühling, sommer, herbst, winter … und frühling. dass jedoch derart elegant wie in lady vengeance gegen das patriarchat rebelliert werden würde, war selbst in zeiten von kill bill 1+2 so nicht erwartet worden. im gegensatz nämlich zu tarantinos beatrix kiddo und ihrer japanischen ahnin lady snowblood ist lee geum-ja keine übertrainierte einzelkämpferin, sondern stützt sich auf ein solidarisches netzwerk für ihren racheplan.

    in nichtchronologischer folge erzählt lady vengeance, dessen original-titel die gutherzige frau geum-ja heißt, von eben jener lee geum-ja, die mit 19 für einen mord an einem 5jährigen zu 13 jahren haft verurteilt wurde. in einem frauengefängnis erarbeitet sie sich schnell den ruf eines gutherzigen engels und schafft es, sich unter den mithäftlingen ein vertrauensvolles netzwerk aufzubauen, auf das sie nach ihrer entlassung zurückgreifen kann. sie verfolgt konsequent und in aller ruhe den plan, sich an mr. baek zu rächen. bei ihrem ehemaligen klassenlehrer hatte sie zuflucht wegen einer ungewollten schwangerschaft gefunden, mr. baek zwang sie allerdings, sein eigenes verbrechen der kindesentführung und -tötung mit lösegelderpressung auf sich zu nehmen, andernfalls würde sie ihr eigenes kind auch verlieren. nach dem ende der haftstrafe sucht sie ihre von einem australischen paar adoptierte tochter jenny, diese aber erzwingt gegen den wunsch der eltern die gemeinsame reise nach seoul. über eine ehemalige mitgefangene macht geum-ja mr. baek ausfindig, kidnapt ihn und bringt ihn in eine leerstehende schule. als geum-ja herausfindet, dass mr. baek noch weitere kinder getötet und die morde auf video aufgezeichnet hat, versammelt sie die eltern der getöteten und gibt ihnen ebenfalls die möglichkeit, sich an mr. baek zu rächen. der kommissar, der seinerzeit lee geum-ja als mörderin präsentierte, wohl wissend, dass sie es nicht war, lässt die gruppe gewähren. lee geum-ja bittet schließlich jenny um verzeihung, da sie ihr keine mutter sein konnte und sein wird, mit dieser schuld wird sie leben müssen.

    der film lebt viel weniger vom motiv der rache als der internationale verleihtitel verspricht. die ikonografie zeichnet lee geum-ja als wesentlich definiert vom widerspruch zwischen barmherzigkeit und todesengel, als dass sie wie eine zornig-kalte rächerin gezeigt würde. zwar spielt auch hier der schnee eine motivisch wichtige rolle in diesem farblich sehr genau gearbeiteten film, doch nicht als leinwand für elegante blutfontänen sondern als symbol für einen zustand der reinheit, der sich nicht wiederherstellen oder dauerhaft halten lässt. frau geum-jas plan der rache gerät durch den willen ihrer leiblichen tochter jenny sie zu begleiten durcheinander, da sie sich so der schuld stellen muss, ihr kind frühzeitig verlassen zu haben. wie grandios park diese überlagerung der themen rache und schuld in filmische bilder zu übersetzen weiß, zeigt eine szene in der verlassenen schule: geum-ja lässt mr. baek als englischlehrer ihr geständnis bzw ihre erklärung und entschuldigung an die ebenfalls im raum befindliche jenny ins englische übersetzen, da jenny kein koreanisch kann. so wird der mann, der das leben der beiden frauen vollständig erschüttert und als beziehung zerstört hat, gleichzeitig zum medium und werkzeug, das mutter-tochter-verhältnis sagbar und damit verstehbar, sogar reparierbar erscheinen zu lassen. rache, schuld, misericordia sind in dieser szene unmittelbar zusammengefügt und überlagern sich, so dass es geum-ja nachfolgend nicht schafft, mr. baek zu töten, erst durch die entdeckung der weiteren kindermorde und ihrer beweismaterialien wird der racheplan möglich – indem geum-ja die eltern der anderen kinder so stark emotionalisiert und manipuliert (eine motiv-reminiszenz an den vorgänger oldboy), dass diese mr. baek bereitwillig brutal töten, während geum-ja ihre als tötungswerkzeug konzipierte pistole erst auf den in der grube liegenden toten körper abfeuert. geum-ja hat ihre rache erfolgreich outgesourced unter mithilfe des ehemaligen polizisten, der es sich als persönliche niederlage nicht verzieh, die nachweisbar unschuldige geum-ja damals aufgrund extremer öffentlicher aufmerksamkeit als täterin präsentiert zu haben.

    einen anderen aspekt erzählt lady vengeance außerdem, und hier ist parks film gradezu visionär: er zeichnet das bild eines sich gegenseitig stützenden, schützenden netzwerks von frauen, die ihre souveränität und ihren widerstand gegen die patriarchalen strukturen auf sehr unterschiedliche weisen ausleben, ob als künstlerin, die den judith-mythos für ihre kundinnen stets neu darstellt, ob als unterwürfige hausfrau, die für den richtigen zeitpunkt zum verrat ausharrt oder als outlaw-pärchen, das sich eine nische gefunden hat – sie alle helfen geum-ja bei ihrem rache-vorhaben, so wie sie ihnen während des aufenthalts im frauengefängnis half, und sei es auch, dass sie dafür eine unsolidarische mitgefangene töten muss. der film zeigt somit die notwendigkeit für die schaffung von netzwerken abseits der patriarchalen systemmöglichkeiten, verkörpert vom aufdringlichen, stalkenden priester, dessen rolle es ist, geum-ja ihren platz zur unterordnung zu weisen oder sie, da sie sich wehrt, ans messer zu liefern und sie ermorden zu lassen – was geum-ja abzuwehren weiß. lady vengeance zeigt so eine emanzipierte frauenfigur, psychologisch glaubwürdig und tiefgehend ausgearbeitet, und ihren japanisch-amerikanischen vorläuferinnen weit voraus.

    lady vengeance ist ein vielschichtiger, komplexer, in seiner musikalität, seiner expressivität und im kontext des sowohl koreanischen als auch internationalen kinos außergewöhnlicher film, der den leidens- und befreiungsweg einer frau gegenüber einer misogynen realität nachzeichnet. eine thematik, die park in die taschendiebin aufgriff und noch einmal weiterentwickelte.

    park chan-wook: lady vengeance. südkorea 2005. 115min. fsk 16.

  • na hong-jin – the chaser

    na hong-jin – the chaser

    beschrieb memories of murder 2003 die historische signatur der südkoreanischen gesellschaft, die ihre traumata verdrängt hatte, erleben wir in the chaser fünf jahre später das auseinanderbrechen eben dieser gesellschaft. hier sind nur noch einzel- und partikularinteressen am destruktiven werk, einen überblick oder gar verständnis für ein gesamtbild entwickelt keine einzige figur, was katastrophale folgen hat. und spoileralarm: es wird im danach folgenden film noch schlimmer.

    es geht um den rücksichtslosen zuhälter joong-ho, ehemaliger polizist in seoul, der das verschwinden seiner prostituierten mit einem kunden in zusammenhang bringt. joong-ho verdächtigt den kunden, den sympathisch wirkenden yeong-min, die frauen nach china zu schleusen. tatsächlich hat yeong-min die frauen alle grausam getötet, selbst als er dies der polizei gegenüber offenbart, glauben ihm weder die polizisten noch joong-ho und vermuten einen verwirrten wichtigtuer ähnlich dem mann, der den bürgermeister bei einer veranstaltung mit kot bewarf. die von yeong-min verschleppte und schwer verletzte mi-jin, die ebenfalls für joong-ho arbeitet, schafft es, sich aus ihrer lage zu befreien, doch yeong-min trifft sie zufällig wieder und tötet sie. mi-jins tochter, die joong-ho während seiner suche nach dem schleuser begleitet, bleibt mit joong-ho zurück.

    an dieser inhaltsskizze ist erkennbar: dieser film ist auf vielen ebenen abgründig. schon die hauptfigur joong-ho bietet nur bedingt identifikationsfläche, wer vom polizisten zum zuhälter umsattelt, hat einen beachtlichen moralischen niedergang absolviert. er erniedrigt seinen mitarbeiter rund um die uhr, schickt mi-jin vom krankenbett zur arbeit und spricht mit allen personen ausnahmslos arrogant und aggressiv. die nachverfolgung von yeong-mins verschwinden ist ausschließlich von seinem drohenden ruin motiviert, selbst ihre sechsjährige tochter eun-ji behandelt er nicht besser. erst als er yeong-mins schwester aufsucht und erfährt, dass yeong-min deren sohn grausam verstümmelt hat und dafür im gefängnis war, ahnt er, dass yeong-min die wahrheit gesagt haben könnte. yeong-min wiederum ist als ein dämon gezeichnet, unauffällig, hübsch, verletzlich wirkend, dass die polizei seinen worten nur deshalb versucht, glauben zu schenken, da sie selbst unter erfolgsdruck steht und positive resultate vorweisen muss. doch yeong-min tötet sadistisch im keller eines hauses, dessen eigentlichen besitzer er ebenfalls ermordet hat, um ungestört an frauen „rache“ zu nehmen für seinen makel der impotenz. der einzige funken hoffnung in diesem durch und durch beklemmenden film ist die wandlung joong-hos zum fürsorger für die waisin eun-ji.

    dass der film den patriarchalen begriff von frauen als objekt, ware, dienstleistung, schlachtvieh, und das maskuline selbstbild von stärke, dominanz, (sexueller) gewalt und ausbeutung grundsätzlich ablehnt, ist überdeutlich.die nachforschungen joong-hos mit eun-ji als ihn nervende begleiterin führen ihn zu verschiedenen privaten zuhälterfirmen, die über die gesamte stadt verteilt sind, die frau als geschäftsgrundlage erscheint als völlig selbstverständlich so wie bäckereien nichts skandalöses haben. auffällig ist, wie orientierungs- und hilflos sämtliche figuren agieren, mit ausnahme von yeong-min, dem es völlig egal zu sein scheint, was mit ihm selbst geschieht, als wäre ihm von anfang an klar, dass sein geständnis für die überarbeiteten polizisten viel zu übertrieben klingt, um ihm glaubhaft gefährlich zu werden. beklemmend ist die gesamte stimmung des films, die räume im film sind chaotisch, eng und schlecht beleuchtet, die wohn- und büroräume sind von erschreckender armut geprägt (ausnahme ist yeong-mins besetzte villa), auch die straßen und wege eng, düster und verwinkelt, die darstellung der stadt seoul ist labyrinthisch angelegt, lediglich der eingang – ein laden an einer ecke – lässt sich identifizieren. anhand seiner orte zeichnet the chaser das bild einer gesellschaft, die offenkundig jede illusion verloren hat, in der die ordnungskräfte bemüht aber hilfslos da überlastet und kaum gewertschätzt sind – offensichtlich einer der gründe, warum joong-ho seinen dienst quittierte. selbst das brutalo- und machogehabe der (ex-)polizisten ist hauptsächlich leere pose und gewöhnlicher umgangston, als dass es irgendeinen rest tougher coolness der maskulinen selbstermächtigung amerikanischer polizeigewaltsfantasien bezeugen würde.

    the chaser wurde 2008 als debütfilm von na hong-jin der dritterfolgreichste kinofilm. der kontrast zu den beiden noch erfolgreicheren filmen (die komödie scandal makers und der effektreich-alberne western the good, the bad, the weird, zu letzterem an anderer stelle mehr) könnte größer kaum sein. dass ein derart destruktiver, zutiefst skeptischer, hochspannender und kluger film mit so überzeugender figurenzeichnung und darstellung je in deutschland produziert und dann auch noch zu den drei erflogreichsten filmen des jahres zählen könnte, lässt sich angesichts eines dominierenden schweiger-schweighöfer-kinos in diesem land nicht vorstellen.

    na hong-jin: the chaser. südkorea 2008. 123min. fsk 18.

  • park chan-wook – durst

    park chan-wook – durst

    park chan-wook erzählt komplexe dramen, die an klassische bühnenstücke erinnern, mit allerlei fallstricken und doppelten böden, und stets politisch. zentrale motive bei park sind rache, moralität und radikale befreiung des individuums, körperlich, intellektuell, sozial. sein in der westlichen kultursphäre vermutlich bekanntester film ist old boy von 2003, der auch als einer der prägenden filme des modernen südkoreanischen kinos gilt, doch zu diesem film später ausführlicher. in durst von 2009 wird auf unerwartete weise der vampirmythos aufgegriffen und grandios variiert.

    vampire sind auch in der koreanischen populärkultur vertraut. während im hollywood-kino vorrangig die blutig-mörderische seite für den mythos von den menschlichen blutsaugern interessant scheinen, stellt park chan-wook in durst das erotische, sexuelle und die körperlichkeit ins zentrum seines film – und die frage nach moral.

    der pater sang-hyeon (song kang-ho), der sich für experimente zur verfügung gestellt hat, um ein gegenmittel gegen ein tödliches virus zu finden, infiziert sich jedoch dabei mit einer art vampirvirus und ernährt sich fortan von blut. diese grundbedingung der figur wird im film immer weiter entwickelt: er handelt falsch aus ihm richtig scheinenden motiven. so glaubt er tae-joo, die frau seines jugendfreundes kang-woo, mit der er ein verhältnis beginnt, vor ihrem brutalen mann beschützen zu müssen und sie ertränken ihn gemeinsam. die mutter von kang-woo erleidet darauf einen schweren schlaganfall. die schuld belastet sang-hyeon so schwer, dass er letztlich auch tae-joo tötet, nachdem sie ihm offenbart hat, dass sie sich selbst verletzt hat und nicht kang-woo. aus erneuter schuld macht er tae-joo zum vampir. während er aber als priester sein eigenes vampir-dasein ablehnt, genießt sie es vollkommen.

    durst thematisiert in der beziehung von sang-hyeon und tae-joo neben dem widersprüchlichen verhältnis von moralischem handeln und schuld bzw entschuldung auch körper und lust. so sehr er tae-joo auch begehrt, so stößt ihn ihr blutdurst und mordlust als vampir schließlich ab. für ihn ist das vampirsein eine bürde, die sein moralisches selbstbild als christ stört. sie versteht das vampirsein als lustvolle erlösung von einer starren, engen bürgerlichkeit. der vampir ist damit eine körpermetapher für das, was im nicht-vampir-körper vorher falsch gelaufen ist und nun nicht mehr eingehegt werden kann: sang-hyeon hat als priester enthaltsam gelebt und ist als vampir gezwungen, sein begehren und das töten anzuerkennen. für tae-joo stellt es sich umgekehrt dar, sie musste vorher nüchtern und angeödet leben und kann sich nun über die stränge schlagend nach sang-hyeons ansicht frei entfalten.

    dadurch „fehlen“ dieser vampir-erzählung eine reihe typischer motive wie etwa burggruften, särge und sonstige schauer-elemente. überhaupt ist durst weitab vom horrorgenre, durch sein überschaubares personal hat der film beinah kammerspiel-charakter und konzentriert sich im wesentlichen auf amour-fou und schuldaspekte der ungleichen hauptfiguren. dies ist auch der zusammenhang zu emile zolas roman thérèse raquin, den park als bezugsquelle für durst angab: der niedergang eines paares aufgrund eines verbrechens, bei park jedoch ins koreanische normalbürgertum der gegenwart versetzt und in surrealen genremitteln überformt. daher entfallen auch sämtliche vampirjagd-themen, die in hollywood-filmen gern und bildreich auserzählt werden. im gegenteil ist parks film fast schon zärtlich und stellt sich als film selbst lustvoll aus: in seiner ästhetik, seiner farblichen gestaltung und seinen amüsierten genreüberscheitungen, in denen sich der eigentlich selbst bemitleidende priester herumtreiben muss.

    park chan-wook: durst. südkorea 2009. 133min.

  • statt deutsche prosa : korean cinema

    statt deutsche prosa : korean cinema

    seit einigen wochen denke ich darüber nach, diesen eintrag zu verfassen. in den vergangenen monaten habe ich kein buch gelesen, das mich gereizt hätte zu einer rezension. und vor den kommenden corona-prosa-werken graut mir vom ersten tagebucheintrag an. tatsächlich hatte ich auch keinen besonderen bedarf an der sich stapelnden literatur, die debatten über kulturelle soziale politische themen [den gesamten identitätenpodcast durchhören bitte] waren interessanter und anregender als die zwischen homeschooling und homeoffice doch quälend langsame langatmige ermüdende lektüre eines großteils der gegenwartsprosa. stattdessen entschied ich mich, lange ungesehene filme des asiatischen kinos abends per kleinbeamer zu schauen – und entdeckte das, was mir in den meisten literarischen texten fehlt: ein wirkliches formenbewusstsein und erzählerische kraft, ohne zu erklären, ohne zu dozieren.

    vor zwei monaten ungefähr notierte ich:

    die streaming dienste sind bestens ausgelastet und das perfekt in die katatstrophe gelaunchte disney+ portal erfreut sich sensationeller beliebtheit. wirklich, disney? ein konzern, der als image nostalgie behauptet und im hauptgeschäft eiskalt ideologische und reaktionäre filmwelten verkauft, deren antisoziales vormodernes gesellschaftsbild offenbar überall anschlussfähig scheint, es kommt eben stets unterhaltsam im märchengewand dahergetänzelt. disney ist der illusionist einer gesellschaft, die nach anschlussfähigen (kapitalistischen großbürgerlichen reaktionären) wunschwelten ausschau hält, denn kino ist immer auch eskapismus und suspendierung einer überhand nehmenden wirklichkeit.

    doch hier ist ein traumloses plädoyer für das kino als kulturform und kunst. wenn also streaming in diesem tagen, dann folgt vor einem beliebigen disneystreifen unbedingt das gegenmodell: modernes koreanisches kino. es gibt seit mindestens 17 jahren nichts aufregenderes zu sehen als filme von kim ki-duk, park chan-wook und natürlich bong joon-ho. was in der zeit nach dem 2. weltkrieg im hollywood von alfred hitchcock oder orson welles und noch viel stärker im new hollywood cinema erzählt wurde, eine gesellschaft aus subjektiver sicht mit stets gesamtheitlicher perspektive, an den brüchen zur entsubjektivierenden moderne, das wird seit einigen jahren im kroeanischen kino konsequent weiter geführt und zu neuen radikalen ausdrucksformen gebracht.

    insgesamt habe ich in den letzten wochen über 50 filme aus asien gesehen, von denen ich ab sofort in der kategorie kino die filme vorstellen möchte, mir am interessantesten erschienen. und auch eine top-ten der besten südkoreanischen filme wird es geben.

    als einstieg eignen sich folgende links für einen überblick:

    korean new wave: https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BCdkoreanischer_Film

    aus dem wunderbaren filmmagazin ray https://ray-magazin.at/koreanisches-kino-zwischen-kommerz-und-provokation/

    aus der zeitschrift epd film https://www.epd-film.de/themen/koreanisches-kino

    unbedingt sehenswert ist auch kino aus thailand: https://en.wikipedia.org/wiki/Cinema_of_Thailand

    NACHTRAG: jüngere filme aus südkorea, die in den vergangenen 5 jahren entweder direkt als hollywood-kooperationen entstanden und/oder im bereich actionfilm anzusiedeln sind, werde ich nur eingeschränkt behandeln. der grund ist ihre auf meist bekannte schauwerte reudzierte ästhetik mit geringer inhaltlicher tiefe und schablonenartiger figurenzeichnung, zudem trivialer bis propagandistischer ausrichtung. als symptomatisch mag dafür kim jee-woons the age of shadows gelten, den ich später hier besprechen werde.