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  • senthuran varatharajah – vor der zunahme der zeichen

    senthuran varatharajah – vor der zunahme der zeichen

    wie komplex und tiefgründig und zutiefst berührend und mit eindrücklich radikaler sprache und konsequent die deutsche gegenwartsliteratur sein kann, hat 2016 senthuran varatharajah mit seinem debüt vor der zunahme der zeichen gezeigt. ein buch als facebook-chat, ein briefroman also zwischen zwei personen – ein großartiger roman über fluchterfahrung identitäten sprache biografien deutschland und seine gegenwart.

    der roman ist auf engstem raum gefügt: zufällig via facebook-algorithmus wird senthil vasuthevan, dem in berlin lebenden doktorand der philosophie, zur freundschaft valmira surroi vorgeschlagen, die in marburg kunstgeschichte studiert. die beiden kennen sich über einen bekannten, sind sich aber nie begegnet und werden es auch in den wenigen tagen und nächten des intensiven chats nicht, denn valmira wird über den sommer nach prishtina zu ihrer familie fahren. ob sich senthil und valmira einst treffen werden oder weiter im kontakt bleiben – der roman bricht unvermittelt ab und lässt alles weitere offen. in diesen sechs tagen von samstag 3:24uhr bis freitag früh 7:16uhr werden sich die beiden ihre lebensgeschichten in so vielen details und farbgebungen wie kaum für möglich gehalten – valmira sagt des öfteren, sie weiß nicht, warum sie ihm das alles erzählt – geschildert haben.

    es ist ein intensives eindrückliches faszinierendes beschämendes lebendiges gespräch über die eigenen flucht- und vertreibungserfahrungen, denn senthil ist tamile aus jaffna in sri lanka und seine familie ist im bürgerkrieg 1983-2009 vertrieben und über den globus verstreut worden. valmira wiederum ist kosovo-albanerin und ihre familie floh ebenfalls vor den zerstörungen des krieges. nicht allein die fluchterfahrungen, auch die meist demütigenden erlebnisse als kinder im asyllandheim die immer wieder als normalität ausgrenzung und abwertung erfahren, gegen die sich beide dennoch behaupten können, verbindet sie – nicht allein also die detailreich geschilderten migrationserfahrungen werden plastisch und nachvollziehbar und konsequent offengelegt und fügt dem gespräch auch die leser*innen hinzu.

    es ist zudem die motivdichte und die verbindungen und verwebungen der motive in das gespräch der beiden, die den roman auszeichnen. es geht um schatten und licht/sonne ( schatten über die man springen kann, schatten des krieges, schatten die nicht hinter einem liegen – die sonne als stern, als licht der fotografie, als konsumgut sie haben uns mit papierkugeln und leeren capri-sonnen beworfen ) um schweigen und sprechen ( können ) um sichtbarkeit und verstecken/enttarnen ( sie sehen sich nur via fotos ihrer facebook-seiten, Sie zeigten mit ihren Fingern auf mich. Sie haben mich erkannt. ) um identitäten herkunft hautfarbe und immer wieder um sprache und varianz, auch formal. während valmira die deutsche großschreibung sowie ziffern verwendet, schreibt senthil konsequent klein und alle zahlen als wort, ausdruck ihrer zugewandtheit und überschreitung, zudem ist beider verhältnis zu ihren muttersprachen divers und in dieser diversitären brechung teil ihrer persönlichkeiten.

    und vor allem geht es natürlich um anerkennung, die lebensgeschichten erzählen zu können ohne rechtfertigung, dafür mit belebender resonanz, sieh ich verstehe dich, ich kann zu dir sprechen ohne scham und ohne begründung. beide haben sie wichtige freunde verloren ( cahil ist verstorben, kübra wurde abgeschoben ) und in ihrem chat als intimer raum entfaltet sich eine beeindruckende sprachlichkeit:

    Jeder Buchstabe hat seinen Preis. […] Wir müssen uns zwischen den Zeilen und Zeichen erraten.

    meine schrift verrutschte. meine sprache verrutschte. und in die zeichen und zeilen ging kein geräusch.

    Gestern fand ich das Deutschheft, in dem das erste Diktat steht, das ich ohne Rechtschreibfehler geschrieben habe.

    sein vater war gerber […] es wurde von ihm nur in anlauten gesprochen. er kam nicht zur sprache. […] er war nicht der rede wert.

    Wenn meine Mutter im Supermarkt Verkäufern eine Frage stellt, wird sie von ihnen geduzt.

    das, was wir, das, was ich […] sage, ist leer und nur ein zeichen einer vernichtung, der wir entkommen sind, so, wie auch wir, unser körper, unsere sprach- und schriftkörper, immer ein zeichen der vernichtung gewesen sein werden.

    es sind diese verbindungen der figuren dieses romans, die in ihrer sprachlichkeit und konsequenz beeindrucken, ihre bildhaftigkeit und ausdrucksstärke, die die beiden figuren zueinander sprechen lassen, dass sie selbst nicht zur sprache bringen können oder wollen, warum sie sich so sehr einander öffnen. auch wenn senthil zugibt, in seiner funktion als prediger durchaus zu wissen, wie man auf menschen zugeht. dennoch ist dieses gespräch auch lesbar wie ein von beiden geführtes gebet – mit jemandem der sowohl anwesend als auch physisch abwesend ist: Ich wollte [Sara] von Dir erzählen, aber ich habe es nicht. das gespräch bleibt geschützt und intim –

    senthuran varatharajah, der für diesen roman mehrfach ausgezeichnet und zurecht vielfach sehr gelobt wurde, hat mit vor der zunahme der zeichen einen eindrücklichen und beeindruckenden roman geschrieben, der eine ganz eigene sehr poetische sehr konkrete stimme und sprache entwickelt und in der unmittelbarkeit des gesprächs, dem man als leser*in folgt, eine ideale form gefunden hat, migrationserfahrungen und lebensleistungen derer die an den rändern leben zur sprache zu bringen, auch wenn insbesondere senthil wenig optimistisch auf seine gegenwart blickt und die flüchtigkeit auch des sprechens betont :

    niemand wird wissen, von welchen rändern wir aus sprechen, und dass wir darüber sprechen können, ändert nichts daran.

    insbesondere der an roland barthes semiologie anknüpfende romantitel wird an der einzigen stelle des chats ausgesprochen, an der senthil über die geschichte der flucht seiner familie berichtet ( die zunahme der zeichen als stärker werdendes anzeichen der drohenden vernichtung durch die armee ) und dieser absatz mittwoch nacht ist der einzige, bei dem die verbindung abstürzt und den valmira nicht lesen wird. so schreibt varathurajah die semiologie als skeptiker fort : ohne übertragung der zeichen ist erkenntnis nicht möglich. oder: wer sich nicht zuhören kann, wird nichts erfahren. auch: ein buch allein ändert nichts –

    doch ohne diesen roman wäre es noch aussichtsloser.

    senthuran varatharajah: vor der zunahme der zeichen. roman. s fischer, frankfurt a m 2016. 256 s, 19,99€ (tb: fischer, f.a.m. 2018, 250s, 12€)

  • miku sophie kühmel – kintsugi

    miku sophie kühmel – kintsugi

    buch #2 der longlist zum deutschen buchpreis ist buch #1 der shortlist. um es vorweg zu sagen: kintsugi von miku sophie kühmel ist kein schlechtes buch. als debüt ist es von beachtlicher intensität und mit ungewöhnlichem personal bestückt für eine familiengeschichte. als möglicher „roman des jahres“ und bereits jürgen-ponto-preisträgerin 2019 erhält ein buch überproportionale aufmerksamkeit, das zwar gut, aber keineswegs herausragend ist. nur zum verständnis: dies ist keine anmerkung aus neid oder missgunst, dies ist viel mehr eine anmerkung zum literaturbegriff des deutschen literaturbetriebs. wie es beim buchpreis heißt:

    Ziel des Preises ist es, über Ländergrenzen hinaus Aufmerksamkeit zu schaffen für deutschsprachige Autoren, das Lesen und das Leitmedium Buch.

    es geht um aufmerksamkeit – also publikum – also verkaufszahlen, weshalb der preis von repräsentant*innen des betriebs vergeben wird, autor*innen, kritiker*innen, händler, möglichst breit angelegt, möglichst konsensfähig. literatur als sprachliches künstlerisches kritisches kontroverses medium – davon liest man auf der selbstbeschreibung des buchpreises nichts. die kritik ist nicht neu doch immer wieder notwendig: dem buchpreis geht es nicht um literatur sondern ausschließlich um das medium buch als träger belletristischer unterhaltung, es ist kein literaturpreis sondern ein verkäuflichkeitspreis, auch wenn er sich literarisch gebärdet.

    betrachtet man die begründung der shortlist, wird der publikumswirksame gegenwartsroman zum soziologischen projekt:

    Diese Altersstruktur rückt zwangsläufig Themen in den Vordergrund, die in der deutschen Literatur relativ neu sind: In allen nominierten Romanen gehe es „um den Ort der globalen Welt, von dem aus das eigene Dasein zu begreifen ist“, schreibt der Jury-Sprecher Jörg Magenau. Vor allem die Identität des Mannes sei problematisch geworden. Vielleicht habe der Generationswechsel damit zu tun, „dass die Jüngeren bei diesen Themen schärfer hinschauen“, so Magenau. In der Zusammensetzung der Liste wird außerdem die Ambition erkennbar, die literarische Landschaft in Deutschland in ihrer Gesamtheit abzubilden.

    es sind ausschließlich inhaltliche kriterien, identität, globale herkunft, ein querschnitt durch die land-/gesellschaft. nur in diesem kontext erhält „kintsugi“ kontur, kann „kintsugi“ von größerem interesse sein : als baustein einer nach soziologischen gesichtspunkten, rein inhaltlich ausgerichteten literaturwahrnehmung – eine extreme beschneidung der chancen und risiken und möglichkeiten von literatur.

    denn so funktionieren jurys derzeit. anstelle etwas auszusuchen, das manche lieben und andere verachten, ignorieren, nicht einverstanden sind, werden eher langweilige, konsensfähige sachen prämiert, denn damit macht man nichts falsch bzw eigentlich alles. zugespitzt: literatur (hier: metynomie für genreferne belletristische prosa in romangestalt) prämiert seine markttauglichkeit. ausnahmen wie frank witzel bestätigen wie immer etc.

    lässt man die buchpreis-begründung einmal beiseite, bleibt mit „kintsugi“ eine familien-/liebesgeschichte mit ungewöhnlichem personal (das schwule pärchen max und reik, die coming-out-liebe tonio und dessen 20jährige tochter pega), angesiedelt in der eher exklusiven akademischen welt, max architektur-professor mit tee-/japan-fimmel, reik erfolgreicher künstler, tonio freiwilliger barpianist, pega psychologie-studentin. und eigentlich geht es doch „nur“ um die liebe und beziehungen, trennungen, vertrauen, misstrauen, sex und was der gekitteten beziehungsbrüche (daher der romantitel) mehr sind. das haus am uckermärkischen see, in dem der roman ausschließlich spielt, wird nur in übermäßig ausführlichen rückblicken und zu kleinen spaziergängen verlassen – es ist ein kammerspiel im stil edward albees „wer hat angst vor virginia wolf?“, und vermutlich wäre es als theatertext auch interessanter da deutlich stringenter.

    so wird die geschichte in ihrer lückenlosen, raumgreifenden, raumverdeckenden und adjektivüberladenen sprache eher erstickt als freigesetzt: er ist schlicht ziemlich langweilig. der japanische überbau, von max in die geschichte getragen, mit titel, kapitelüberschriften, immer mal wieder zerbrechenden und geklebten teeservices ist ein überdeutliches breittreten einer vllt charmanten wenn auch auch nicht exklusiven metapher. es wäre um einiges interessanter, wenn max seinen japanfimmel nicht durch tatsächliche reisen sondern eher im stile eines karl may erfindend sich angeeignet hätte, so als wäre ihm zerbrochenes ikea-geschirr für seinen midlife-crisis-breakup nicht aussagekräftig elegant genug, als bräuchte er unbedingt exklusives original japan-prozellan zur einsicht. doch so verwegen ist „kintsugi“ nicht, die figuren meinen es leider ziemlich ernst mit sich. und weisen dabei kein bisschen über sich hinaus, es gibt keinen relevanten politischen, sozialen, gesellschaftlichen kontext im buch, es ist eine viel zu ausführliche kleine liebesgeschichte.

    das kann man lieben oder nicht – als möglicher roman des jahres ist es eine enorme überladung eines guten, doch keineswegs herausragenden romans. für die autorin ist es selbstredend fantastisch, wer wünschte seinen arbeiten nicht ebensolchen (besonders finanziellen) erfolg?

    doch sind deutlich bessere, engagiertere, literarischere, kontoversere texte auf der longlist verblieben. man sollte den preis definitiv in erster linie als prämierung einer konsensfähigkeit des lesepublikums verstehen, nicht aber als qualitätskriterium. was äußerst schade ist.

    miku sophie kühmel: kintsugi. roman. s.fischer, frankfurt a.m. 2019. 298s, 21€.