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  • Benedict Wells – Fast genial

    Benedict Wells – Fast genial

    Vor Kurzem bin ich über Benedict Wells gestolpert und da ich von ihm noch nie etwas gelesen hatte – er wurde bekannt, als ich viele Jahre nicht in Deutschland lebte -, wollte ich nun einmal wissen, wie sich einer seiner hochgelobten Romane liest, ja vielleicht auch herausfinden, was diese Literatur so erfolgreich macht. Aus Kostengründen entschied ich mich für Fast genial, der auf dem Gebrauchtbüchermarkt am günstigsten zu haben war. Wells, der vor allem für sein Debüt Becks letzter Sommer und später Vom Ende der Einsamkeit ausführlich gefeiert wurde, auch sein aktueller Roman Hard Land findet meist die Gunst der Kritiker*innen. Meist, aber nicht immer. Fast genial jedoch zählt kritikerweit zu den Enttäuschungen, auf Wells‘ bisheriges Gesamtwerk bezogen aber liest er sich wie die Blaupause seiner Literatur.

    Die Story ist einfach: Francis ist ein Teenager an der amerikanischen Ostküste und lebt vaterlos mit seiner schwer depressiven Mutter am untersten Ende der amerikanischen Gesellschaft. Mit seinem Schulfreund Grover und der Krankenhausbekanntschaft Anne-May zieht er los an die Westküste, um dort seinen vorgeblich genialen Vater zu finden. Denn Francis ist das Wunschergebnis seiner Mutter, die sich für ein Experiment den Samen eines genialen Spenders einsetzen ließ in der Erwartung, das ebenso geniale Kind führt zum gesellschaftlichen Aufstieg. Stück für Stück platzen aber die Traumblasen vom besseren Leben, die alle Figuren umschweben, doch Francis versucht sich ein letztes Mal aus der Misere zu befreien – an den Roulettetischen in Las Vegas.

    Das Buch hat alles, was es braucht, um erfolgreich zu sein: es ist konventionell, nicht blöde, süffig, gefühlig, kurzweilig unterhaltend. Was nichts Schlechtes ist, gar nicht. Die Frage für mich ist: Warum interessiert es mich nicht, wieso sagt mir dieser Roman so erstaunlich wenig? Vordergründig geht es bei allen Figuren darum, ihr Dasein zu verlassen und in ein besseres Leben zu wechseln und aufzusteigen, in Francis‘ Las-Vegas-Traum ist das ganz konkret verbildlicht mit dem Wechsel aus dem normalen Saal in eine höhere Etage zu den exklusiven Tischen, an denen die Millionen verjubelt werden. Und natürlich um die Enttäuschung, dass es nur Blendung ist, Flucht vor dem Eigentlichen. Francis‘ Mutter bekommt keinen genialen Sohn, der Samenspender hat seine Biografie gefaket und ist ein kleinkrimineller Loser, die Gründer der Samenbank wollten eine genetisch höherwertige Gesellschaft begründen und erhielten mit den gezeugten Kindern mehrheitlich nur Schrott, wie es eine Figur nennt, die Beziehung der drei roadtrippenden Jugendlichen erweist sich als maximal instabil und auch seine Vaterrolle kann Francis nicht erfüllen. Im Buch wird es als das Potential benannt, das es zu entfalten gilt, und was letztlich nicht gelingt. Denn der ganze american dream vom Aufstieg beruht ja auf Blendung (die Mutter, Francis‘ zwei Lebensträume) und Fälschung (der Vater, Anne-Mays Geschichte) und Irrsinn (die Samenbank). Soweit so schlüssig. In die Banalität gleitet die Geschichte jedoch immer wieder durch die stets anwesende Hollywood-Esoterik des Erkenne dich selbst.

    Aber schon mal daran gedacht, dass du dein Potential erst entfalten kannst, wenn du weißt, wer du bist?

    Das Genre des Road-Movies bzw Romans ist der formale Beleg der Suche nach dem wahren Ich, es ist ein inzwischen ausgekautes Klischee, die Reise in die Fremde ist die Reise zu sich selbst: Wells hat kein Interesse daran, das zu ändern. Diese Selbstsuche findet sich gepaart mit der amerikanischen Leistungsethik, stets alles zu geben, denn nur dem Gewinner gebührt aller Ruhm, wie Francis‘ ehemaliger Ringer-Coach erklärt:

    Nur fast gewonnen zu haben tut am meisten weh. Dann lieber in der zweiten Runde ausscheiden. Aber so weit zu kommen, um dann kurz vor dem Ziel alles zu verlieren, ist das Schlimmste.

    Und so reist die kapitalistische Ideologie ziemlich ungebrochen mit von Küste zu Küste und findet sich immer wieder bestätigt, insbesondere in der Figur Grover, der nämlich keinen Traum verfolgt und mit seinem Dasein ziemlich zufrieden ist, also einfach stets er selbst ist, und daher gar nicht scheitern kann: weshalb er zum Internetstar wird und in Yale landet und einen riesigen Schwanz hat, der in Las Vegas die Tänzerinnen beglückt. Francis hingegen schuftet und gibt alles, um nach vielen Enttäuschungen schließlich erneut in Las Vegas zu landen, und nach allen ausgelegten Fährten und Zeichen und Hinweisen im Roman wird er seinen Traum vom Aufstieg durch Reichtum verwirklichen können – auch wenn das der Roman nicht mehr erzählt. Muss er auch nicht, nichts könnte deutlicher sein als dies: ein besseres Leben ist nur mit viel Geld möglich, Francis braucht eine Million, und sogar die Scheichs und Politiker am Roulette-Tisch sind für Francis‘ Reichtum. Schöner hat der Kapitalismus selten aus einem Roman gelacht. Nicht die Vatersuche ist das Zentrum von Fast genial, sondern die Kasinos von Las Vegas: hier wird aus Träumen Wahrheit. Beim ersten Besuch scheitert Francis noch, doch das zweite Mal ganz offenkundig nicht mehr, und natürlich muss das Wells nicht mehr erzählen, es ist ja alles gesagt: Francis hat sich als würdig erwiesen und sein volles genetisches, mentales Potential entfaltet.

    Der Text ist durchsetzt von allerlei Versatzstücken und Kulissen, die überhaupt nicht erklärt werden müssen, so ziemlich jede westeuropäisch sozialisierte Person hat die entsprechenden Bilder von Trailerparks, New York, San Francisco und all den anderen abziehbildhaften Stationen und Begegnungen im Kopf, es sind reine Filmklischees aus Hollywood, die im Roman aufgerufen und durchexerziert werden, von der eiskalten Psychiatrie-Anstalt über gescheiterte Kleinkriminellen-Existenz im mexikanischen Exil bis hin zum senilen Ex-Nazi-Eugeniker mit maximal klischeehafter Demenz. Alles Leute, denen der Roman unterstellt, an sich selbst und ihrem Selbstbetrug gescheitert zu sein.

    Und damit sind wir im Kern des Buches und in Wells‘ Literatur angekommen: die amerikanische Blaupause. Das große literarische Vorbild ist John Irving. Und von Irving übernimmt Wells all die uramerikanischen Settings und Figurenschablonen: Road-Trip-Stationen, adoleszentes Personal, Francis war Ringer, Vaterlosigkeit, die unterste Stufe der (weißen) Gesellschaft, Grover ist schüchtern, Anne-May erscheint als stark und sexuell höchst attraktiv – und nicht zuletzt die Anklänge an göttliche Eingriffe in die Handlung: In dem Moment, da Francis schon glaubt, die Suche nach seinem Vater sei zu Ende, betritt ein Arzt den Flur und Francis blendet die Sonne – und der Arzt gibt den entscheidenden Tipp. Und all dies taucht in kaum veränderter Form in so gut wie allen Romanen von Wells auf: nur zwei spielen nicht in den USA, nur einer ist strukturell kein Road-Trip, doch alle beziehen sich ohne jede Subtilität auf Irving. Was ist von derart apologetischer Literatur zu halten?

    Alles an Fast genial sieht aus wie ein Film, das Buch liest sich wie ein Roman zum Film, nur dass es den Film noch nicht gibt. Fast genial aber schreit danach, ein deutscher Kinofilm mit Christian Ulmen, Tom Schilling oder Jella Haase zu werden, und natürlich würde das ein erfolgreicher Film, so wie eben deutsches Kino erfolgreich ist. Und darin liegt auch der Erfolg von Wells‘ Literatur begründet: Es ist im Wesentlichen alles bereits bekannt, man fühlt sich von Beginn an Zuhause und mit der in den Romanen gezeichneten Welt vertraut. Der Roman verlangt den Leser*innen nichts ab, die Hauptfiguren sind alle durchwegs sympathisch mit ihren kleinen Macken, es gibt Sex, es gibt Emotionen, und es gibt eine klassische Entwicklungsgeschichte aus der sich irgendwelche Lehrsätze ableiten lassen. Das ist alles äußerst bürgerlich und behaglich, man sieht Verlierertypen jederzeit gern zu, wie sie sich mit aller Kraft aus dem Schlammloch der Armut strampeln und dafür generös Anerkennung von Milliadären erhalten. Interessanterweise gibt es im Roman eine Figur, die dem westlich bürgerlichen Lesepublikum bestens entspricht: Stiefvater Ryan. Der hält sich, wie auch Anne-Mays Eltern, bestmöglich von der Unterschichtenfamilie Francis und Mutter Katherine fern, hat in Manhatten ein Büro mit sexy Sekretärin, ist bisschen verschuldet und zu klein geraten, und gibt Francis widerwillig eine Finanzhilfe, danach will er mit ihm nichts mehr zu tun haben: Armut ist bekanntlich ansteckend. Bzw er stellt seine Armutsverachtung und Leistungsideologie abschließend zur Schau:

    Such dir einen richtigen Job. Auch deine Mutter kann sich eine Arbeit suchen. […] Ich konnte es mir nicht leisten, so faul und weinerlich zu sein wie du.

    Was das normale Bürgertum eben zu Pennern in der U-Bahn auch sagt. Du bist selbst schuld, ich hab selbst hart zu kämpfen, streng dich eben an. Es ist höchst interessant, dass Wells Ryans weißen bürgerlichen Blick auf arme Menschen in eine Erzählung vom Unfalltod des Vaters und zu frühe Übernahme der Vater-Ernährerrolle einbettet und dadurch geradezu entschuldigt. Der Verdacht nach Kritik an den Verhältnissen und ökonomischen Ideologien soll bitte nicht aufkommen, stattdessen imaginiert sich Francis gar noch ein gütiges Abschiedswort seines Stiefvaters. Denn auch das gehört zur bürgerlichen Armutserzählung, dass Armut eigentlich auch befreiend ist und dort die gutherzigen Menschen zu finden sind. Einer wie Francis, der zwar naiv ist und nur fast ganz wenig zur Gewaltphantasie neigt, aber das Herz am richtigen Fleck hat. So ein richtiger Romanheld eben, wie er in Benedict Wells‘ Literatur zu Erfolg kommt. Als Held von Romanen zu ungedrehten Verfilmungen von John-Irving-Büchern.

  • simone lappert – der sprung

    simone lappert – der sprung

    vor knapp zwei wochen wurde in basel der schweizer buchpreis vergeben, u.a. war simone lappert mit der sprung nominiert, was aus sicht der literaturkonsument-/ romanverbrauch-/ prosakäufer*innen eine gute vorauswahl ergab: der sprung ist unterhaltsam flüssig witzig zum nachdenken anregend wohlkomponiert und stellt keine störenden forderungen an die leser*innen. es ist literaturbetriebskunstprosa der mattglänzenden sorte – und die bürgerliche antithese zu bergs widerspenstig sarkastischem GRM brainfuck, der glücklicherweise prämiert wurde.

    was macht also der sprung richtig, um literarisch erfolgreich zu sein und gleichzeitig bedeutungs- weil völlig harmlos? nun, so ziemlich alles: es geht wieder einmal, wie in lapperts debüt wurfschatten, um den tod und das mädchen bzw das angedrohte sterben einer jungen frau, denn manu steht plötzlich auf dem dach eines hauses und droht sich runterzustürzen. im gegensatz zu wurfschatten stehen aber nicht die ängste und die motivation der protagonistin im zentrum, manu ist lediglich katalysator für die ängste alltagssorgen unerfüllten hoffnungen der sich als beobachter der wütend auf dem dach stehenden und stampfenden frau wiederfindenden personen: derangedrohte sprung versammelt episodisch eine willkürliche zahl weiterer figuren umeinander, die alle irgendwie verbunden sind – alles gehört zusammen und wir alle sind eine gesellschaft, scheint der roman sozialdemokratisch zu formulieren, und es ist unerheblich ob es der obdachlose henry der polizist felix die unglückliche maren die gedemütigte schülerin winnie oder der superreiche modedesigner ernesto ist – alle begegnen sich in sichtweite der unschlüssigen selbstmörderin und erfahren eine grundsätzliche entwicklung mit happy end. es ist nicht allein diese tröstung, angesichts des schlamassels einer anderen seine eigenen kleinen eingerichteten lebenslügen zu überwinden, der ganze roman schwimmt in bürgerlicher selbstvergewisserung angesichts einer tödlichen katastrophe: es ist die klassische form des bildungsromans mit auktorialer erzählweise, in der geschehen kann was will, am ende haben die figuren etwas existenzielles erfahren erlebt gelernt und man legt das buch im angenehmen gefühl beiseite, so schlimm ist es ja eigentlich alles doch nicht da draußen, man muss nur ganz fest an sich selbst glauben und seine träume nicht aufgeben etc etc – der sprung biete etwas hübscher formulierte lebensweisheiten, die sich aber auf ähnlichem niveau befinden:

    „Zu welcher Idylle hast du keinen Zugang? Und willst du das ändern?“

    der obdachlose philosoph henry – nein, das soll kein klischee sein – verkauft an die voyeuristische menge unten in der straße – auch kein klischee, gewiss nicht – existenzialistische fragen und diese ist sein opus magnum und die zusammenfassung des romans: wo und wie gehts bitte zum harmonisch verklärten kleinbürgerlichen leben? die junge manu auf dem dach lässt die tabuisierten ängste von felix – sein an asthma gestorbener kinderfreund iggy – oder der grantigen alten edna – die als lokführerin zwei selbstmorde erlebte – wiedererstehen und überwinden, winnie verbündet sich mit ihrer feindin salome zu superhelden und besiegen zusammen den oberfiesling und megaarsch timo, theres verliert zwar ihren lebenspartner und lebensmittelladen, verfügt aber in form von hunderten ü-ei-figuren – DAS symbol westdeutscher kleinbürgerlichkeit – über unerwarteten reichtum für ein neues leben etc.: am ende lauert irgendwas gutes spießiges piefiges bildungsbürgerliches idyllisches. und selbst aus manus selbstmordversuch kann simone lappert einen kalenderspruch zaubern, denn die wollte ja nicht in den tod, sondern ins leben springen. es ist dieser hang zur sinnspruchverliebten klebrigkeit, die ein weiteres mal des romans biederkeit verrät.

    und ganz nebenbei ist der sprung auch eine große bastelarbeit, denn die details – ein filzhut, zigaretten, finns fahrrad, die sache mit der balkontür etc – alles ist sorgfältig und genauestens arrangiert und über die einzelnen episoden verstreut, man kann sich das am besten als fünfteilige tv-serie vorstellen, auf zdf neo oder 3sat, in der die requisiten wichtiger als die charaktere sind, denn anhand der wiederholten und durch die episoden gereichten requisiten lässt sich dem roten faden der geschichte folgen, und pro folge wird ein tabu gebrochen bzw psychologisches geheimnis gelüftet. nichts bleibt unerklärt und unbeschriftet, keine zweifel und keine irritationen, die sprache glatt und metaphernlos, schnurrt sie widerstandfrei durch die figuren – das ist handwerklich alles ganz prima gemacht, kein fehler drin, kein anschluss verpasst, kein cliffhanger vergessen, die dramaturgie der episoden perfekt aufgebaut, der spannungsbogen trägt: all das schöne schreibhandwerk, das man heutzutage an den literaturinstituten so lernen kann, simone lappert hat ihres in biel einstudiert. doch der akademischen belletristik ist außer der handwerklichen perfektion auch in diesem fall nicht zu trauen, da es zu nichts weiter reicht als zum bürgerlichen bildungsroman, der nach lockerleichter unterhaltsamer tv-serie schreit und nebenbei alles verkitscht, was ihm vor die linse kommt: die obdachlosen und außenseiter sind die eigentlichen philosophen, ein suizidversuch ist eigentlich ein sprung ins leben zudem war sie gärtnerin, die blühende fruchtbarkeit quasi, und von irgendeiner toskana kommt gewiss der prinz bzw modezar geritten und verlangt nach deinem altbackenen filzhut, warts nur ab.

    Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? stellt henry seinem jugendlichen begleiter lukas im prolog die erste existenzfrage des buches, und angesichts dieses glatten harmlosen hochgelobten romans fällt die antwort nicht schwer.

    simone lappert: der sprung. roman. diogenes, zürich 2019. 336s, 22€.